Fünfzehn


Dagný Axelsdóttir und Terje Joensen waren Arbeitskollegen. Ihre Zusammenarbeit verlief reibungslos, aber beide wollten die Zusammenarbeit so gering wie möglich halten.


Dagný war der Auffassung, dass Terje die notwendige Ernsthaftigkeit fehlte, um seinen Beruf einwandfrei zu erledigen.


Terje war der Meinung, dass Dagný der Humor fehlte und damit eine notwendige Fähigkeit, um die Realität im richtigen Licht zu sehen.


Bei der Besprechung, die Randver geleitet hatte, war ihnen die Aufgabe zugewiesen geworden, die nächsten Angehörigen der Männer im Sommerhaus ausfindig zu machen, sie über die Todesfälle zu unterrichten und sie dazu zu bekommen, die Leichen zu identifizieren.


Sie saßen im Auto und schauten auf den Platz Austurvöllur. Mitten auf der Grasfläche befand sich eine korpulente Person, die eine Art elektrischen Staubsauger vor sich herschob und außerdem einen Greifstock in der Hand hielt, um damit Papiermüll aufzusammeln und in ein Fach am Staubsauger zu stecken. Die Arbeit ging im Schneckentempo voran. Es wäre einfacher gewesen, sich herunterzubeugen, um den Müll aufzuklauben. Aber sicherlich schwerer. Mehr Arbeit.


»Das ist die Schwester«, sagte Dagný. »Das muss sie sein.« »Sieht aus wie ein Kerl«, sagte Terje. »Mann, was für ein Fleischberg.«


Sie stiegen aus dem Auto aus und gingen in Richtung der Frau mit dem Staubsauger und dem Greifer.


»Guten Tag«, sagte Terje. »Bist du Norma Baker?«


Die Angesprochene nahm ihre Ohrenschützer ab und schaltete ihre Maschine in den Leerlauf.


»Was will denn die Polizei von mir?«, fragte Norma, nachdem sie ihre Ausweise betrachtet hatte. Sie schaute sich betreten um, wie jemand, der sich schämt, in solch zweifelhafter Gesellschaft gesehen zu werden.


»Du hast einen Bruder, der Jóhann Breki Baker heißt«, sagte Dagný. »Manchmal >der Bäcker< genannt.«


»Ja, das ist richtig«, sagte Norma. »Aber er hat sein ganzes Leben lang nichts anderes gebacken bekommen als Unannehmlichkeiten.«


»Jetzt bäckt er jedenfalls nichts mehr«, sagte Dagný.


»Wir sind gekommen, um dir mitzuteilen, dass dein Bruder Jóhann Breki verstorben ist.«


Die erste Reaktion der Frau ließ nicht darauf schließen, dass sie der Verlust des Bruders schwer traf. Sie schaute abwechselnd Dagný und Terje an und kniff die Augen zusammen, als erwartete sie, dass sie die Masken abnähmen und ihr sagten, dass es sich um einen verspäteten Aprilscherz handele.


»Warum teilt mir das die Polizei mit?«, fragte Norma.


»Wenn er verstorben ist, dann ist das seine Privatangelegenheit. Ich habe jedenfalls nicht vor, seine Beerdigung zu bezahlen, und auch nicht die Schulden.«


»Wir müssen dich bitten, mitzukommen und die Leiche zu identifizieren«, erklärte Dagný.


»Leiche identifizieren? Hast du mir nicht gerade gesagt, Jói ist tot?« »Doch.«


»Und dann bittest du mich, das, was du sagst, zu bestätigen?«


»Ja.«


»Was sind das denn für Arbeitsmethoden, hier in der Stadt mit solchen Mitteilungen herumzulaufen und dann zu verlangen, dass die Leute bestätigen, dass es stimmt?«


Norma blickte sie aus heimtückischen Schweinsäuglein an und machte einen Versuch, sich mit dem Werkzeug, mit dem sie das Papier aufsammelte, den Rücken zu kratzen. Ohne Erfolg. Das Gerät schien auch dafür nicht geeignet.


»Niemand bittet dich darum, zu bestätigen, dass wir die Wahrheit sagen«, sagte Dagný.


»Ach so? Dann muss ich also nicht mit euch mitkommen?«


»Doch, du musst bestätigen, dass es sich um den Leichnam deines Bruders handelt«, erwiderte Dagný.


»Was passiert, wenn ich mich weigere?«, fragte Norma.


Dagný schaute ihren Kollegen an und sah, dass Terje nicht vorhatte, sich in das Gespräch einzumischen.


»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, weiß ich nicht, was dann passiert. Ich habe noch nie erlebt oder auch nur davon gehört, dass sich jemand weigert, die Leiche eines nahen Angehörigen zu identifizieren. Wenn du dich weigerst, gehe ich davon aus, dass wir wieder zur Polizeiwache fahren und eine Vorladung oder einen richterlichen Beschluss bekommen, der besagt, dass du es tun musst. Auf jeden Fall bin ich mir sicher, dass es Ärger geben wird.«


»Kann der nicht sprechen, dieser Kerl da, den du mitgebracht hast?«, fragte Norma und zeigte auf Terje. »Doch, ich habe nur keine Lust, mich mit Leuten zu streiten«, entgegnete Terje. »Kommst du jetzt mit oder nicht?«


»Mitkommen?«, fragte Norma. »Jetzt gleich? Ich bin bei der Arbeit, wie ihr seht.«


»Jetzt sofort. Wir fahren dich auch wieder zurück.«


»Ist das absolut sicher?«


»Ja. Selbstverständlich.«


Norma schaltete den Motor aus und fragte mit trotziger Stimme: »Wollen wir dann nicht mal los?«


Auf dem Weg zum Auto fragte Dagný: »Gibt es noch weitere Familienangehörige, denen wir diesen Todesfall mitteilen müssen?«


»Jói und ich sind Zwillinge, glücklicherweise keine eineiigen. Und dann haben wir eine Schwester gehabt, die starb, als sie noch klein war«, sagte Norma und setzte sich ins Auto. »Mama hat Alzheimer und einen Herzfehler. Papa hat zuletzt, als wir etwas von ihm hörten, in Neu-Mexiko gewohnt.«


»Neu-Mexiko in den USA?«, fragte Terje.


»Nein, im Breiðholt-Viertel«, sagte Norma. »Kennst du viele Orte, die Neu-Mexiko heißen?«


»Habt ihr denn Kontakt zu euren Eltern?«, fragte Dagný.


»Ich bin von zu Hause weg, als ich dreizehn war«, sagte Norma. »Mein Bruder wohnte weiterhin bei unserer Mutter und hat sie für sich arbeiten lassen. Er ist erst ausgezogen, als die Bank der alten Frau die Wohnung weggenommen hat, wegen einem Kredit, den er ihr untergejubelt hat. Dann brauchte er sie nicht mehr.


Trotzdem war er ihr Sonnenschein. Mir konnte sie nicht verzeihen, dass ich weggelaufen war, und nachdem ich bei der Stadtreinigung angefangen hatte, gab sie mir Bescheid, dass sie nichts mehr von mir wissen wolle.


Kriminelle sind offenbar feine Leute. Besser als wir vom Müll.«


*****


Norma verzog keine Miene, als sie ihren Bruder auf der Leichenbahre liegen sah. Sie schaute sich sein Gesicht an, schien aber vor allem an der Umgebung interessiert zu sein und äugte herum.   

 


»Ja, das ist mein Bruder«, sagte sie. »Jóhann Breki Baker. Soll ich irgendetwas unterschreiben?«


»Ja, nachher«, sagte Dagný.


Ganz offensichtlich hatte Norma einiges an ihrem Bruder auszusetzen gehabt, sodass es die Polizisten überraschte, als sie fragte: »Darf ich ihn auf die Stirn küssen?«


»Ja, natürlich.«


»Ich sehe ihn wohl nicht wieder«, sagte sie und berührte die Stirn ihres Bruders mit den Lippen. »Verdammter Idiot, dass du so mit dir umgehen lässt.«


*****


Ævar Gísli Guðbergsson, genannt Goldköpfchen, war in einem Wohnblock im Sóltún gemeldet. An der Türklingel stand Brynja Gísladóttir.


»Wohnt dieses ganze Pack bei seinen Müttern?«, raunte Terje, als er klingelte.


Eine kleine dunkelhaarige Frau öffnete die Tür. Dagný wünschte ihr einen Guten Tag und nannte Ævar Gíslis Namen. »Der wohnt hier nicht«, sagte die Frau schnell. »Ich habe keine Ahnung, wo er gelandet ist, wenn er denn überhaupt noch im Land ist.«


»Diese Adresse ist als sein Wohnsitz eingetragen«, sagte Dagný.


»Ja«, sagte die Frau und bückte sich nach einem dicken Stapel von Briefen, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden. »Das ist eine Monatsration Mahnungen. Er kommt ein paarmal im Jahr und bringt sie raus in die Mülltonne.«


»Bist du Brynja, die Mutter von Ævar Gísli?«, fragte Dagný. »Wir sind von der Polizei, das ist Terje Joensen und ich heiße Dagný Axelsdóttir. Leider müssen wir dir mitteilen, dass Ævar Gísli verstorben ist.«


Die dunkelhaarige Frau zeigte keine Reaktion. Sie legte den Briefstapel wieder auf seinen Platz. Dann schaute sie die beiden, die in der Tür standen, an und fragte: »Wann ist er gestorben?«


»Das können wir beim jetzigen Stand der Dinge nicht beantworten«, sagte Terje. »Der Fall wird noch untersucht und wir sind nicht nur hier, um dir das mitzuteilen, sondern auch, um dich zu bitten, mit uns zu kommen, um die Leiche zu identifizieren.«


*****


Unterwegs im Auto unterbrach Brynja das Schweigen: »Ihr müsst etwas erzählen. Was ist dem Jungen eigentlich zugestoßen?«


»Drei Männer wurden tot in einem Sommerhaus am Þingvallavatn gefunden«, sagte Terje. »Wir untersuchen diesen Mordfall.«


»Ich habe diesen Polizeibesuch seit mehr als zehn Jahren jede Nacht erwartet«, sagte Brynja. »Auch tagsüber, aber vor allem nachts. Besonders spätnachts. Kurz vor dem Morgen. Ich schrecke auf, wenn ich höre, wie ein Auto frühmorgens vor dem Wohnblock anhält. Es ist eine gewisse Erleichterung, das nicht mehr erwarten zu müssen. Dass es vorbei ist. Auch wenn es seltsam klingt, bin ich dankbar dafür, dass es so gekommen ist. Ich hatte Angst, dass es andersherum laufen würde.«


»Wie denn?«, fragte Dagný.


»Nun ja, auf eine gewisse Weise bin ich froh, dass sein Leben beendet ist. Am meisten habe ich gefürchtet, dass er jemand anderem das Leben nehmen könnte.«


*****


Brynja bestätigte, dass der Leichnam der ihres Sohnes Ævar Gísli Guðbergsson war.


Sie berührte die Leiche nicht, aber betrachtete das Gesicht ihres Sohnes. Terje sah, wie sie von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt wurde, ging zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte sich an ihn und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Die Tränen begannen zu fließen und sie schniefte.              


Nach einer kurzen Zeit öffnete sie ihre Handtasche, nahm ein Taschentuch heraus und betupfte sich die Augen.


»Ich danke dir«, sagte sie zu Terje. »Es war gut, weinen zu können. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich dachte, mein Ævar hätte meine letzten Tränen schon vor Langem ausgetrocknet.«


*****


Als Terje das Auto in Gang setzte und sich bereitmachte, vom Parkplatz des Leichenschauhauses zu fahren, erschien ein seltsames Fahrzeug, das sehr schnell fuhr und dann abrupt unmittelbar hinter dem Polizeiauto bremste.


Terje stieg aus dem Polizeiwagen aus, um der Sache nachzugehen.


Das Fahrzeug war ein rosa lackierter Hummer-Geländewagen, der verlängert worden war, sodass er die Länge von einem Omnibus bekommen hatte. Auf die Seiten des Autos waren Konturen nackter Frauen gemalt und vorn und hinten prangte ein riesengroßes Logo: »Octopussy Night Club for Executives«.


Die Fahrertür wurde geöffnet und heraus stieg ein kleinwüchsiger, dicker junger Mann.


»Guten Tag«, sagte Terje und ging auf den jungen Mann zu, der nicht antwortete. »Kann ich etwas für dich tun?«


»Ist das nicht das Leichenschauhaus?«, fragte der junge Mann.


»Doch.«


»Wir wollen meinen Vater sehen.«


»Und dein Name ist ...?«


»Ich heiße Elías Elíasson. Manchmal genannt Junior.«


»Ich heiße Terje Joensen«, sagte Terje und streckte die Hand aus. Der junge Mann ignorierte sie.


»Wen hast du mitgebracht?«, fragte Terje.


»Meine Mutter ist im Auto ­ und ihre Rechtsanwältin.«


»Fabelhaft«, sagte Terje. »Darf ich dich dann bitten, dieses Fahrzeug auf legale Weise hier auf dem Parkplatz vor dem Haus zu parken und eine Viertelstunde zu warten, bis Wachtmeisterin Dagný Axelsdóttir und ich wiederkommen. Dann könnt ihr den Verstorbenen sehen.« »Warum nicht sofort?«, fragte der junge Mann.


»Weil ich in einer Viertelstunde wiederkomme und dann werdet ihr gerne empfangen. Wenn der Termin ungünstig ist, könnt ihr auch morgen um 16:30 Uhr kommen. Du entscheidest.«


»Viertelstunde?«, sagte der junge Mann. »Okay, abgemacht.«


»Würdest du dieses Baguette dann bitte wegfahren, damit ich durchkomme. Ich bin ein wenig in Eile.«


»Okay«, sagte der junge Mann, setzte sich in sein Monstrum und ließ den Motor an.


Terje fuhr mit Brynja, die das Octopussy-Fahrzeug anstarrte, Richtung Sóltún los.


»Gehörte Ævar Gísli zu dieser Octopussy-Gang?«, fragte sie.


»Es sieht so aus.«


»Drogenhandel und Zuhälterei?«


»Das erzählt man sich. Uns fehlen aber sowohl Zeugen als auch Beweise.«


»Obwohl es jeder weiß.«


»Ja.«


»Es ist, als könnten manche Leute von niemandem außer dem Tod gestoppt werden.«


*****


Als Dagný und Terje wieder auf den Parkplatz vor dem Leichenschauhaus fuhren, hatte Elías der Jüngere ein Poliertuch in der Hand und wischte damit über den Hummer. Er schaute zu ihnen herüber, steckte das Tuch in die Hosentasche und öffnete die hintere Tür. Zwei Frauen erschienen und kamen Dagný und Terje entgegen. »Ich bitte euch, die Verspätung zu verzeihen«, sagte Dagný. »Ich heiße Dagný und das ist Terje.«


Die größere der beiden Frauen, die beleibt war, schaute sie wütend an und machte keine Anstalten, sie mit einem Handschlag zu begrüßen.


»Ich heiße Bjarnveig und bin die Lebensgefährtin von Elías, und das ist unsere Rechtsanwältin ...«


Alkoholgeruch ging von der Lebensgefährtin aus.


»Auður Sörensen, Anwältin am Obersten Gericht«, sagte die andere Frau, die ebenfalls wohlgenährt war, neben Bjarnveig aber schlanker erschien. Sie richtete das Wort an Terje.


»Die erste Frage ist ja wohl, warum Bjarnveig nicht sofort gestern, als die Leiche gefunden wurde, über den Tod von Elías informiert wurde?«


Dagný hatte schnell eine Antwort parat.


»Gestern wurden drei Leichen in einem Sommerhaus außerhalb von Reykjavík gefunden. Die Untersuchung des Tatorts ging bis in die Nacht hinein und wird immer noch weitergeführt. Jetzt ist es an der Zeit, die Leichen zu identifizieren. Wir vermuten, dass einer der Toten Elías Elíasson, der Inhaber vom Octopussy, sein könnte, und wollen daher seine Lebensgefährtin und seinen Sohn bitten, das zu bestätigen.«


»Nun gut«, sagte Auður. »Es ist wahrlich an der Zeit.«


Während sie im Leichenschauraum warteten, sagte niemand ein Wort, bis Bjarnveig fragte: »Ist Rauchen hier drin verboten?«


»Leider ja«, sagte Dagný. »Und ich muss euch warnen, bevor ihr den Leichnam seht. Sein Gesicht ist schwer verletzt.«


Als das weiße Tuch von Elías' Gesicht gehoben wurde, schnappte sein Sohn nach Luft, sagte aber nichts. Bjarnveig gab ein entsetztes Stöhnen von sich und eilte hinaus, das Gesicht zu einer Grimasse des Ekels verzerrt. Auður folgte ihr.


»Wer hat das gemacht?«, fragte Elías junior und starrte voller Entsetzen auf das Gesicht seines Vaters, dem man die Augen ausgestochen hatte.


»Identifizierst du die Leiche?«, fragte Dagný.


»Was glaubst du?«, sagte Elías.


»Mit Namen«, sagte Dagný.


»Das ist mein Vater, Elías Elíasson der Ältere«, sagte der Junge. »Jetzt will ich wissen, was passiert ist.«


»Wir gehen raus und sprechen mit den Frauen«, sagte Terje.


Bjarnveig stand draußen auf dem Bürgersteig und rauchte.


»Das ist unverantwortlich«, sagte sie. »Das ist unverantwortlich, jemandem einen Toten in so einem Zustand zu zeigen. In so einer Situation muss man doch Anspruch auf Unterstützung haben.«


»Selbstverständlich«, sagte Dagný. »Mein Kollege, Terje Joensen, hat sogar eine Anerkennung dritten Grades vom FBI in Krisenintervention, was ihr selbstverständlich in Anspruch nehmen könnt.«


»Und dann darf man da drin nicht einmal rauchen«, sagte Bjarnveig.


»Ich begrüße es, dass meiner Klientin Hilfe zur Bewältigung ihrer traumatischen Belastung angeboten wurde«, sagte Auður. »Aber ich denke, ihre Interessen sind besser gewahrt, wenn sich ein richtiger Spezialist, ein Psychiater, um sie kümmert, oder sie sich selbst einen Psychologen sucht.«


»Was ist mit dem Junior?«, fragte Terje. »Wollen wir uns nicht alle mal zu einem guten Gespräch zusammensetzen?«


»Auweia«, sagte Elías.


»Eine Frage«, sagte Dagný. »Wann hat Elías sein Zuhause verlassen?«


»Letzte Woche«, antwortete Bjarnveig. »Er wollte ins Ausland. Ich dachte, er wäre auf Reisen.«


»Wohin wollte er?«


»Das weiß ich nicht, erst nach Kopenhagen, dann nach Holland und Estland und vielleicht noch weiter.«


Elías junior stieß die Anwältin an, als Zeichen dafür, dass er es für an der Zeit hielt, das Gespräch zu beenden.


»Keine weiteren Fragen jetzt«, sagte Auður. »Menschen zu verhören, die wegen des Verlustes eines geliebten Angehörigen unter Schock stehen, ist intolerables Auftreten der Polizei.«


»Werte Anwältin«, sagte Dagný. »Wir haben in keiner Weise vorgehabt, deine Klienten zu verhören. Noch nicht.«


*****


Als es schon fast zwei Uhr war, schlug Dagný vor, dass sie irgendwo einen Happen essen sollten. Terje war ebenfalls schon fast verhungert. Um Dagný zu ärgern, schlug er vor, zu McDonald's zu fahren.   

 


»Ich hasse Hamburger«, sagte Dagný, genau wie er es geahnt hatte.


»Okay, dann gehen wir eben zum KFC«, sagte Terje.


»Was ist das?«


»Du musst doch schon von Kentucky Fried Chicken gehört haben.« »Ich habe doch gesagt, ich habe keine Lust auf Hamburger.«


»Hähnchen und Hamburger sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. So wie Stier und Henne.«


»Ich esse vernünftige Sachen und keinen Müll«, sagte Dagný. »Wenn du glaubst, dass Donuts zu unserem Beruf gehören, schaust du zu viel Mist im Fernsehen.«


»Wohin willst du denn?«, fragte Terje. »Sollten wir mit der Einkehr im Hotel Saga nicht warten, bis ich Polizeidirektor bin?«


»Warst du schon einmal bei Grüne Kost?«


»Nein«, sagte Terje. »Irgendwie klingt der Name für mich nicht attraktiv, obwohl ich nicht bezweifle, dass vielen das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn sie ihn hören. Vor allem Vierbeinern.«


»Prima. Dann gehen wir da hin, weil du noch nie da warst«, sagte Dagný. »Es ist sowohl preiswert als auch schnell.«


»Ich war eigentlich mehr so auf der Fastfood-Schiene«, sagte Terje.


»Gemüse kann auch schnell gehen«, sagte Dagný.


»Wenn es für dich eine Bedingung ist, etwas Ungesundes zu essen, dann wird dir sicher gestattet sein, in den Mülleimern hinter dem Laden zu wühlen, während ich speise.«


Sie war also doch nicht völlig humorlos. Terje versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen.


»Ungesund ist keine Bedingung«, sagte Terje. »Aber ungesundes Essen schmeckt trotzdem besser als gesundes. Was hältst du davon, wenn wir zum Grill am Busbahnhof gehen?«


*****


Das Essen war fantastisch. Ein indischer Gemüseeintopf mit Naturreis.


Terje bat darum, keinen Rohkostsalat auf seinen Teller zu bekommen.


»Ich esse nie etwas, das noch lebt«, sagte er und fügte hinzu: »Und zu trinken hätte ich dann gern eine Cola.«


Die Serviererin hielt beim Auftischen kurz inne, als sie diese ungewöhnliche Bestellung hörte.


»Cola?«, fragte sie.


»Ja«, sagte Terje. »Also es ist ja nicht so, als hätte ich beim Abendmahl einen doppelten Brennivín verlangt. Es ist bloß ein Softdrink. Sehr beliebt.«


»Wir haben keine Cola hier, nur Wasser und dann diese Getränke, die du hier gekühlt siehst.«


»Weißt du«, sagte Dagný. »Ich habe einen Jungen, der fünf Jahre alt ist. Der hat genauso einen Geschmack wie du.«


»Vielversprechendes Kerlchen«, sagte Terje.


»Ich hatte gehofft, dass sein Geschmack so ist, weil er erst fünf ist, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, dass sich das rauswächst.«


»Was meinst du damit?«, fragte Terje. »Ich kann doch kaum der Vater dieses Jungen sein, auch wenn er vielversprechend ist. Wir haben nie ... Oder haben wir ...?«


Dagný musste lachen. Endlich.


»Nein«, sagte sie. »Wir haben nie ... und wir werden nie ... Arbeit ist das eine. Privatleben ist das andere.«


»Bis jetzt ist wenig Platz für Privatleben in diesem Beruf gewesen«, sagte Terje. »Und wenn Mörder nicht mehr damit zufrieden sind, weniger als drei auf einmal umzubringen, sieht es nicht so aus, als würde das Privatleben in der nächsten Zeit aufblühen. Das war das Widerwärtigste, was ich je gesehen habe. Würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass da eine ausländische Verbrecherbande am Werk gewesen ist.«              


»Wieso?«


»Weil es, soweit ich weiß, in der isländischen Kriminalgeschichte keinen Präzedenzfall für so einen Massenmord oder eine Massenhinrichtung gegeben hat. Und schau dir die Grausamkeit an, den Sadismus. Lebende Menschen an Wand und Boden zu nageln. Isländer machen so etwas nicht.«


»Aber Ausländer könnten es getan haben?«


»Ja, irgendwelche Leute haben es offenbar getan und ich tue mich schwer damit, zu glauben, dass es Isländer waren.«


»Glaubst du, Isländer sind besser als andere Menschen?«


»Ja, wusstest du das nicht?«


»Nein, das muss mir dann wohl entgangen sein.«


Terje sah auf und schaute sie an. Sie hatte einen so ernsten Ausdruck im Gesicht, dass er sich nicht verkneifen konnte, sie zu provozieren.


»Ich weiß auch nicht, wie ich so etwas Dummes sagen konnte. Ich nehme es zurück«, sagte er. »Es ist nicht politisch korrekt. Wahrscheinlich habe ich in der letzten Zeit nicht genug Gemüse gegessen.«


Sobald er >politisch korrekt< ausgesprochen hatte, sah er, dass er sie beleidigt hatte. Ihr Geduldsfaden war anscheinend kurz.


»Hast du schon einmal was von den isländischen Sagas gehört?«, fragte Dagný und musterte ihn kühl.


»Isländische Sagas? Den Namen kenne ich irgendwoher.«


»Sie sind randvoll mit Mord und Totschlag, von den ersten Jahren der Besiedlung bis ins dreizehnte Jahrhundert, und das weist unleugbar darauf hin, dass Isländer genauso in der Lage sind wie andere Völker, grenzenlose Gewalt einzusetzen.«


»Wir haben Fortschritte gemacht seit dem dreizehnten Jahrhundert.«


»Was ist mit Axlar-Björn?«


»War das nicht der, der die Ferien auf dem Bauernhof erfand?«


»Das kann man vielleicht so sagen. Jedenfalls ermordete er mehr als zwanzig ahnungslose Gäste, die bei ihm Unterkunft suchten.«


»War vielleicht schüchtern, der arme Kerl, und hat sich nicht getraut, fünfundzwanzigtausend Mäuse für die Nacht zu kassieren, wie Hotelbesitzer es heutzutage ohne mit der Wimper zu zucken tun«, erwiderte Terje.


»Trotzdem wäre ich vorsichtig mit der Annahme, dass die Þingvellir-Morde unter dem Einfluss von AxlarBjörn begangen wurden.«


»Wie kommst du darauf, dass ich das behaupten würde?«, fragte Dagný. »Nicht genug damit, dass du den Geschmack eines Kindes hast, du verdrehst einem auch die Worte im Mund wie ein ungezogenes Kind, wenn man versucht, mit dir zu reden.«


»Also«, sagte Terje und beschloss einen Besänftigungsversuch. »Alles, was im Ausland geschieht, passiert auch in Island. Nur später. Der Vorfall in Þingvellir war so grauenhaft, dass niemand von unserer Polizei jemals etwas Vergleichbares gesehen hat, wie du weißt. Das heißt, entweder handelt es sich um eine ausländische Operation oder eben irgendeinen weitsichtigen isländischen Trendsetter. Verstehst du mich?«


»Das ist ja nicht so schwer«, sagte Dagný. »Diese Vermutung, die du so brillant findest, baut einfach auf der weithin bekannten Denkweise auf, die manchmal Männerlogik genannt wird.«


»Wie das?«


»Also, schau mal. Was du sagst, ist, dass die Þingvellir-Morde so blutrünstig waren, dass sie entweder von ausländischen Tätern begangen worden sein müssen ­ oder Isländern. Die Argumentation ist tadellos, aber nicht besonders hilfreich, weil das Ergebnis ist, dass alle Erdenbewohner infrage kommen ­ und von denen gab es heute Morgen sechs Milliarden und sechshundertundsieben Millionen sechshundertzweiundneunzigtausendvierhundertvierunddreißig. Also, wollen wir langsam aufbrechen?«


»Ja«, sagte Terje. Männerlogik war für ihn ein neues Wort. Dagný hatte offenbar verborgene Qualitäten.


Als sie im Auto saßen, sagte sie: »Da war noch etwas, was ich dir sagen wollte.«


»Was denn jetzt?«, sagte Terje und stöhnte. »Noch mehr Männerlogik?«


»Das weiß ich gar nicht«, sagte Dagný. »Ich will nur, dass dir eins absolut klar ist.«


»Und was ist das?«


»Das ist, wenn wir jemals gehabt hätten ... was wir nicht haben und nicht haben werden ... dann kann ich dir versprechen, dass du dich daran erinnern würdest.«


»Gute Polizisten stellen keine Behauptungen auf, außer sie sind auch bereit, zu beweisen, dass sie recht haben«, sagte Terje und fuhr los.