Dagný Axelsdóttir und Terje Joensen waren Arbeitskollegen. Ihre
Zusammenarbeit verlief reibungslos, aber beide wollten die
Zusammenarbeit so gering wie möglich halten.
Dagný war der Auffassung, dass Terje die notwendige Ernsthaftigkeit
fehlte, um seinen Beruf einwandfrei zu erledigen.
Terje war der Meinung, dass Dagný der Humor fehlte und damit eine
notwendige Fähigkeit, um die Realität im richtigen Licht zu
sehen.
Bei der Besprechung, die Randver geleitet hatte, war ihnen die
Aufgabe zugewiesen geworden, die nächsten Angehörigen der Männer im
Sommerhaus ausfindig zu machen, sie über die Todesfälle zu
unterrichten und sie dazu zu bekommen, die Leichen zu
identifizieren.
Sie saßen im Auto und schauten auf den Platz Austurvöllur. Mitten
auf der Grasfläche befand sich eine korpulente Person, die eine Art
elektrischen Staubsauger vor sich herschob und außerdem einen
Greifstock in der Hand hielt, um damit Papiermüll aufzusammeln und
in ein Fach am Staubsauger zu stecken. Die Arbeit ging im
Schneckentempo voran. Es wäre einfacher gewesen, sich
herunterzubeugen, um den Müll aufzuklauben. Aber sicherlich
schwerer. Mehr Arbeit.
»Das ist die Schwester«, sagte Dagný. »Das muss sie sein.« »Sieht
aus wie ein Kerl«, sagte Terje. »Mann, was für ein
Fleischberg.«
Sie stiegen aus dem Auto aus und gingen in Richtung der Frau mit
dem Staubsauger und dem Greifer.
»Guten Tag«, sagte Terje. »Bist du Norma Baker?«
Die Angesprochene nahm ihre Ohrenschützer ab und schaltete ihre
Maschine in den Leerlauf.
»Was will denn die Polizei von mir?«, fragte Norma, nachdem sie
ihre Ausweise betrachtet hatte. Sie schaute sich betreten um, wie
jemand, der sich schämt, in solch zweifelhafter Gesellschaft
gesehen zu werden.
»Du hast einen Bruder, der Jóhann Breki Baker heißt«, sagte Dagný.
»Manchmal >der Bäcker< genannt.«
»Ja, das ist richtig«, sagte Norma. »Aber er hat sein ganzes Leben
lang nichts anderes gebacken bekommen als
Unannehmlichkeiten.«
»Jetzt bäckt er jedenfalls nichts mehr«, sagte Dagný.
»Wir sind gekommen, um dir mitzuteilen, dass dein Bruder Jóhann
Breki verstorben ist.«
Die erste Reaktion der Frau ließ nicht darauf schließen, dass sie
der Verlust des Bruders schwer traf. Sie schaute abwechselnd Dagný
und Terje an und kniff die Augen zusammen, als erwartete sie, dass
sie die Masken abnähmen und ihr sagten, dass es sich um einen
verspäteten Aprilscherz handele.
»Warum teilt mir das die Polizei mit?«, fragte Norma.
»Wenn er verstorben ist, dann ist das seine Privatangelegenheit.
Ich habe jedenfalls nicht vor, seine Beerdigung zu bezahlen, und
auch nicht die Schulden.«
»Wir müssen dich bitten, mitzukommen und die Leiche zu
identifizieren«, erklärte Dagný.
»Leiche identifizieren? Hast du mir nicht gerade gesagt, Jói ist
tot?« »Doch.«
»Und dann bittest du mich, das, was du sagst, zu
bestätigen?«
»Ja.«
»Was sind das denn für Arbeitsmethoden, hier in der Stadt mit
solchen Mitteilungen herumzulaufen und dann zu verlangen, dass die
Leute bestätigen, dass es stimmt?«
Norma blickte sie aus heimtückischen Schweinsäuglein an und machte
einen Versuch, sich mit dem Werkzeug, mit dem sie das Papier
aufsammelte, den Rücken zu kratzen. Ohne Erfolg. Das Gerät schien
auch dafür nicht geeignet.
»Niemand bittet dich darum, zu bestätigen, dass wir die Wahrheit
sagen«, sagte Dagný.
»Ach so? Dann muss ich also nicht mit euch mitkommen?«
»Doch, du musst bestätigen, dass es sich um den Leichnam deines
Bruders handelt«, erwiderte Dagný.
»Was passiert, wenn ich mich weigere?«, fragte Norma.
Dagný schaute ihren Kollegen an und sah, dass Terje nicht vorhatte,
sich in das Gespräch einzumischen.
»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, weiß ich nicht, was dann
passiert. Ich habe noch nie erlebt oder auch nur davon gehört, dass
sich jemand weigert, die Leiche eines nahen Angehörigen zu
identifizieren. Wenn du dich weigerst, gehe ich davon aus, dass wir
wieder zur Polizeiwache fahren und eine Vorladung oder einen
richterlichen Beschluss bekommen, der besagt, dass du es tun musst.
Auf jeden Fall bin ich mir sicher, dass es Ärger geben
wird.«
»Kann der nicht sprechen, dieser Kerl da, den du mitgebracht
hast?«, fragte Norma und zeigte auf Terje. »Doch, ich habe nur
keine Lust, mich mit Leuten zu streiten«, entgegnete Terje. »Kommst
du jetzt mit oder nicht?«
»Mitkommen?«, fragte Norma. »Jetzt gleich? Ich bin bei der Arbeit,
wie ihr seht.«
»Jetzt sofort. Wir fahren dich auch wieder zurück.«
»Ist das absolut sicher?«
»Ja. Selbstverständlich.«
Norma schaltete den Motor aus und fragte mit trotziger Stimme:
»Wollen wir dann nicht mal los?«
Auf dem Weg zum Auto fragte Dagný: »Gibt es noch weitere
Familienangehörige, denen wir diesen Todesfall mitteilen
müssen?«
»Jói und ich sind Zwillinge, glücklicherweise keine eineiigen. Und
dann haben wir eine Schwester gehabt, die starb, als sie noch klein
war«, sagte Norma und setzte sich ins Auto. »Mama hat Alzheimer und
einen Herzfehler. Papa hat zuletzt, als wir etwas von ihm hörten,
in Neu-Mexiko gewohnt.«
»Neu-Mexiko in den USA?«, fragte Terje.
»Nein, im Breiðholt-Viertel«, sagte Norma. »Kennst du viele Orte,
die Neu-Mexiko heißen?«
»Habt ihr denn Kontakt zu euren Eltern?«, fragte Dagný.
»Ich bin von zu Hause weg, als ich dreizehn war«, sagte Norma.
»Mein Bruder wohnte weiterhin bei unserer Mutter und hat sie für
sich arbeiten lassen. Er ist erst ausgezogen, als die Bank der
alten Frau die Wohnung weggenommen hat, wegen einem Kredit, den er
ihr untergejubelt hat. Dann brauchte er sie nicht mehr.
Trotzdem war er ihr Sonnenschein. Mir konnte sie nicht verzeihen,
dass ich weggelaufen war, und nachdem ich bei der Stadtreinigung
angefangen hatte, gab sie mir Bescheid, dass sie nichts mehr von
mir wissen wolle.
Kriminelle sind offenbar feine Leute. Besser als wir vom
Müll.«
*****
Norma verzog keine Miene, als sie ihren Bruder auf der Leichenbahre
liegen sah. Sie schaute sich sein Gesicht an, schien aber vor allem
an der Umgebung interessiert zu sein und äugte herum.
»Ja, das ist mein Bruder«, sagte sie. »Jóhann Breki Baker. Soll ich
irgendetwas unterschreiben?«
»Ja, nachher«, sagte Dagný.
Ganz offensichtlich hatte Norma einiges an ihrem Bruder auszusetzen
gehabt, sodass es die Polizisten überraschte, als sie fragte: »Darf
ich ihn auf die Stirn küssen?«
»Ja, natürlich.«
»Ich sehe ihn wohl nicht wieder«, sagte sie und berührte die Stirn
ihres Bruders mit den Lippen. »Verdammter Idiot, dass du so mit dir
umgehen lässt.«
*****
Ævar Gísli Guðbergsson, genannt Goldköpfchen, war in einem
Wohnblock im Sóltún gemeldet. An der Türklingel stand Brynja
Gísladóttir.
»Wohnt dieses ganze Pack bei seinen Müttern?«, raunte Terje, als er
klingelte.
Eine kleine dunkelhaarige Frau öffnete die Tür. Dagný wünschte ihr
einen Guten Tag und nannte Ævar Gíslis Namen. »Der wohnt hier
nicht«, sagte die Frau schnell. »Ich habe keine Ahnung, wo er
gelandet ist, wenn er denn überhaupt noch im Land ist.«
»Diese Adresse ist als sein Wohnsitz eingetragen«, sagte
Dagný.
»Ja«, sagte die Frau und bückte sich nach einem dicken Stapel von
Briefen, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden. »Das ist
eine Monatsration Mahnungen. Er kommt ein paarmal im Jahr und
bringt sie raus in die Mülltonne.«
»Bist du Brynja, die Mutter von Ævar Gísli?«, fragte Dagný. »Wir
sind von der Polizei, das ist Terje Joensen und ich heiße Dagný
Axelsdóttir. Leider müssen wir dir mitteilen, dass Ævar Gísli
verstorben ist.«
Die dunkelhaarige Frau zeigte keine Reaktion. Sie legte den
Briefstapel wieder auf seinen Platz. Dann schaute sie die beiden,
die in der Tür standen, an und fragte: »Wann ist er
gestorben?«
»Das können wir beim jetzigen Stand der Dinge nicht beantworten«,
sagte Terje. »Der Fall wird noch untersucht und wir sind nicht nur
hier, um dir das mitzuteilen, sondern auch, um dich zu bitten, mit
uns zu kommen, um die Leiche zu identifizieren.«
*****
Unterwegs im Auto unterbrach Brynja das Schweigen: »Ihr müsst etwas
erzählen. Was ist dem Jungen eigentlich zugestoßen?«
»Drei Männer wurden tot in einem Sommerhaus am Þingvallavatn
gefunden«, sagte Terje. »Wir untersuchen diesen
Mordfall.«
»Ich habe diesen Polizeibesuch seit mehr als zehn Jahren jede Nacht
erwartet«, sagte Brynja. »Auch tagsüber, aber vor allem nachts.
Besonders spätnachts. Kurz vor dem Morgen. Ich schrecke auf, wenn
ich höre, wie ein Auto frühmorgens vor dem Wohnblock anhält. Es ist
eine gewisse Erleichterung, das nicht mehr erwarten zu müssen. Dass
es vorbei ist. Auch wenn es seltsam klingt, bin ich dankbar dafür,
dass es so gekommen ist. Ich hatte Angst, dass es andersherum
laufen würde.«
»Wie denn?«, fragte Dagný.
»Nun ja, auf eine gewisse Weise bin ich froh, dass sein Leben
beendet ist. Am meisten habe ich gefürchtet, dass er jemand anderem
das Leben nehmen könnte.«
*****
Brynja bestätigte, dass der Leichnam der ihres Sohnes Ævar Gísli
Guðbergsson war.
Sie berührte die Leiche nicht, aber betrachtete das Gesicht ihres
Sohnes. Terje sah, wie sie von unterdrücktem Schluchzen geschüttelt
wurde, ging zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern. Sie lehnte
sich an ihn und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Die Tränen
begannen zu fließen und sie schniefte.
Nach einer kurzen Zeit öffnete sie ihre Handtasche, nahm ein
Taschentuch heraus und betupfte sich die Augen.
»Ich danke dir«, sagte sie zu Terje. »Es war gut, weinen zu können.
Damit habe ich nicht gerechnet. Ich dachte, mein Ævar hätte meine
letzten Tränen schon vor Langem ausgetrocknet.«
*****
Als Terje das Auto in Gang setzte und sich bereitmachte, vom
Parkplatz des Leichenschauhauses zu fahren, erschien ein seltsames
Fahrzeug, das sehr schnell fuhr und dann abrupt unmittelbar hinter
dem Polizeiauto bremste.
Terje stieg aus dem Polizeiwagen aus, um der Sache
nachzugehen.
Das Fahrzeug war ein rosa lackierter Hummer-Geländewagen, der
verlängert worden war, sodass er die Länge von einem Omnibus
bekommen hatte. Auf die Seiten des Autos waren Konturen nackter
Frauen gemalt und vorn und hinten prangte ein riesengroßes Logo:
»Octopussy Night Club for Executives«.
Die Fahrertür wurde geöffnet und heraus stieg ein kleinwüchsiger,
dicker junger Mann.
»Guten Tag«, sagte Terje und ging auf den jungen Mann zu, der nicht
antwortete. »Kann ich etwas für dich tun?«
»Ist das nicht das Leichenschauhaus?«, fragte der junge
Mann.
»Doch.«
»Wir wollen meinen Vater sehen.«
»Und dein Name ist ...?«
»Ich heiße Elías Elíasson. Manchmal genannt Junior.«
»Ich heiße Terje Joensen«, sagte Terje und streckte die Hand aus.
Der junge Mann ignorierte sie.
»Wen hast du mitgebracht?«, fragte Terje.
»Meine Mutter ist im Auto und ihre Rechtsanwältin.«
»Fabelhaft«, sagte Terje. »Darf ich dich dann bitten, dieses
Fahrzeug auf legale Weise hier auf dem Parkplatz vor dem Haus zu
parken und eine Viertelstunde zu warten, bis Wachtmeisterin Dagný
Axelsdóttir und ich wiederkommen. Dann könnt ihr den Verstorbenen
sehen.« »Warum nicht sofort?«, fragte der junge Mann.
»Weil ich in einer Viertelstunde wiederkomme und dann werdet ihr
gerne empfangen. Wenn der Termin ungünstig ist, könnt ihr auch
morgen um 16:30 Uhr kommen. Du entscheidest.«
»Viertelstunde?«, sagte der junge Mann. »Okay,
abgemacht.«
»Würdest du dieses Baguette dann bitte wegfahren, damit ich
durchkomme. Ich bin ein wenig in Eile.«
»Okay«, sagte der junge Mann, setzte sich in sein Monstrum und ließ
den Motor an.
Terje fuhr mit Brynja, die das Octopussy-Fahrzeug anstarrte,
Richtung Sóltún los.
»Gehörte Ævar Gísli zu dieser Octopussy-Gang?«, fragte
sie.
»Es sieht so aus.«
»Drogenhandel und Zuhälterei?«
»Das erzählt man sich. Uns fehlen aber sowohl Zeugen als auch
Beweise.«
»Obwohl es jeder weiß.«
»Ja.«
»Es ist, als könnten manche Leute von niemandem außer dem Tod
gestoppt werden.«
*****
Als Dagný und Terje wieder auf den Parkplatz vor dem
Leichenschauhaus fuhren, hatte Elías der Jüngere ein Poliertuch in
der Hand und wischte damit über den Hummer. Er schaute zu ihnen
herüber, steckte das Tuch in die Hosentasche und öffnete die
hintere Tür. Zwei Frauen erschienen und kamen Dagný und Terje
entgegen. »Ich bitte euch, die Verspätung zu verzeihen«, sagte
Dagný. »Ich heiße Dagný und das ist Terje.«
Die größere der beiden Frauen, die beleibt war, schaute sie wütend
an und machte keine Anstalten, sie mit einem Handschlag zu
begrüßen.
»Ich heiße Bjarnveig und bin die Lebensgefährtin von Elías, und das
ist unsere Rechtsanwältin ...«
Alkoholgeruch ging von der Lebensgefährtin aus.
»Auður Sörensen, Anwältin am Obersten Gericht«, sagte die andere
Frau, die ebenfalls wohlgenährt war, neben Bjarnveig aber schlanker
erschien. Sie richtete das Wort an Terje.
»Die erste Frage ist ja wohl, warum Bjarnveig nicht sofort gestern,
als die Leiche gefunden wurde, über den Tod von Elías informiert
wurde?«
Dagný hatte schnell eine Antwort parat.
»Gestern wurden drei Leichen in einem Sommerhaus außerhalb von
Reykjavík gefunden. Die Untersuchung des Tatorts ging bis in die
Nacht hinein und wird immer noch weitergeführt. Jetzt ist es an der
Zeit, die Leichen zu identifizieren. Wir vermuten, dass einer der
Toten Elías Elíasson, der Inhaber vom Octopussy, sein könnte, und
wollen daher seine Lebensgefährtin und seinen Sohn bitten, das zu
bestätigen.«
»Nun gut«, sagte Auður. »Es ist wahrlich an der Zeit.«
Während sie im Leichenschauraum warteten, sagte niemand ein Wort,
bis Bjarnveig fragte: »Ist Rauchen hier drin verboten?«
»Leider ja«, sagte Dagný. »Und ich muss euch warnen, bevor ihr den
Leichnam seht. Sein Gesicht ist schwer verletzt.«
Als das weiße Tuch von Elías' Gesicht gehoben wurde, schnappte sein
Sohn nach Luft, sagte aber nichts. Bjarnveig gab ein entsetztes
Stöhnen von sich und eilte hinaus, das Gesicht zu einer Grimasse
des Ekels verzerrt. Auður folgte ihr.
»Wer hat das gemacht?«, fragte Elías junior und starrte voller
Entsetzen auf das Gesicht seines Vaters, dem man die Augen
ausgestochen hatte.
»Identifizierst du die Leiche?«, fragte Dagný.
»Was glaubst du?«, sagte Elías.
»Mit Namen«, sagte Dagný.
»Das ist mein Vater, Elías Elíasson der Ältere«, sagte der Junge.
»Jetzt will ich wissen, was passiert ist.«
»Wir gehen raus und sprechen mit den Frauen«, sagte
Terje.
Bjarnveig stand draußen auf dem Bürgersteig und rauchte.
»Das ist unverantwortlich«, sagte sie. »Das ist unverantwortlich,
jemandem einen Toten in so einem Zustand zu zeigen. In so einer
Situation muss man doch Anspruch auf Unterstützung
haben.«
»Selbstverständlich«, sagte Dagný. »Mein Kollege, Terje Joensen,
hat sogar eine Anerkennung dritten Grades vom FBI in
Krisenintervention, was ihr selbstverständlich in Anspruch nehmen
könnt.«
»Und dann darf man da drin nicht einmal rauchen«, sagte
Bjarnveig.
»Ich begrüße es, dass meiner Klientin Hilfe zur Bewältigung ihrer
traumatischen Belastung angeboten wurde«, sagte Auður. »Aber ich
denke, ihre Interessen sind besser gewahrt, wenn sich ein richtiger
Spezialist, ein Psychiater, um sie kümmert, oder sie sich selbst
einen Psychologen sucht.«
»Was ist mit dem Junior?«, fragte Terje. »Wollen wir uns nicht alle
mal zu einem guten Gespräch zusammensetzen?«
»Auweia«, sagte Elías.
»Eine Frage«, sagte Dagný. »Wann hat Elías sein Zuhause
verlassen?«
»Letzte Woche«, antwortete Bjarnveig. »Er wollte ins Ausland. Ich
dachte, er wäre auf Reisen.«
»Wohin wollte er?«
»Das weiß ich nicht, erst nach Kopenhagen, dann nach Holland und
Estland und vielleicht noch weiter.«
Elías junior stieß die Anwältin an, als Zeichen dafür, dass er es
für an der Zeit hielt, das Gespräch zu beenden.
»Keine weiteren Fragen jetzt«, sagte Auður. »Menschen zu verhören,
die wegen des Verlustes eines geliebten Angehörigen unter Schock
stehen, ist intolerables Auftreten der Polizei.«
»Werte Anwältin«, sagte Dagný. »Wir haben in keiner Weise
vorgehabt, deine Klienten zu verhören. Noch nicht.«
*****
Als es schon fast zwei Uhr war, schlug Dagný vor, dass sie irgendwo
einen Happen essen sollten. Terje war ebenfalls schon fast
verhungert. Um Dagný zu ärgern, schlug er vor, zu McDonald's zu
fahren.
»Ich hasse Hamburger«, sagte Dagný, genau wie er es geahnt
hatte.
»Okay, dann gehen wir eben zum KFC«, sagte Terje.
»Was ist das?«
»Du musst doch schon von Kentucky Fried Chicken gehört haben.« »Ich
habe doch gesagt, ich habe keine Lust auf Hamburger.«
»Hähnchen und Hamburger sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. So
wie Stier und Henne.«
»Ich esse vernünftige Sachen und keinen Müll«, sagte Dagný. »Wenn
du glaubst, dass Donuts zu unserem Beruf gehören, schaust du zu
viel Mist im Fernsehen.«
»Wohin willst du denn?«, fragte Terje. »Sollten wir mit der Einkehr
im Hotel Saga nicht warten, bis ich Polizeidirektor
bin?«
»Warst du schon einmal bei Grüne Kost?«
»Nein«, sagte Terje. »Irgendwie klingt der Name für mich nicht
attraktiv, obwohl ich nicht bezweifle, dass vielen das Wasser im
Munde zusammenläuft, wenn sie ihn hören. Vor allem
Vierbeinern.«
»Prima. Dann gehen wir da hin, weil du noch nie da warst«, sagte
Dagný. »Es ist sowohl preiswert als auch schnell.«
»Ich war eigentlich mehr so auf der Fastfood-Schiene«, sagte
Terje.
»Gemüse kann auch schnell gehen«, sagte Dagný.
»Wenn es für dich eine Bedingung ist, etwas Ungesundes zu essen,
dann wird dir sicher gestattet sein, in den Mülleimern hinter dem
Laden zu wühlen, während ich speise.«
Sie war also doch nicht völlig humorlos. Terje versuchte sich seine
Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Ungesund ist keine Bedingung«, sagte Terje. »Aber ungesundes Essen
schmeckt trotzdem besser als gesundes. Was hältst du davon, wenn
wir zum Grill am Busbahnhof gehen?«
*****
Das Essen war fantastisch. Ein indischer Gemüseeintopf mit
Naturreis.
Terje bat darum, keinen Rohkostsalat auf seinen Teller zu
bekommen.
»Ich esse nie etwas, das noch lebt«, sagte er und fügte hinzu: »Und
zu trinken hätte ich dann gern eine Cola.«
Die Serviererin hielt beim Auftischen kurz inne, als sie diese
ungewöhnliche Bestellung hörte.
»Cola?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Terje. »Also es ist ja nicht so, als hätte ich beim
Abendmahl einen doppelten Brennivín verlangt. Es ist bloß ein
Softdrink. Sehr beliebt.«
»Wir haben keine Cola hier, nur Wasser und dann diese Getränke, die
du hier gekühlt siehst.«
»Weißt du«, sagte Dagný. »Ich habe einen Jungen, der fünf Jahre alt
ist. Der hat genauso einen Geschmack wie du.«
»Vielversprechendes Kerlchen«, sagte Terje.
»Ich hatte gehofft, dass sein Geschmack so ist, weil er erst fünf
ist, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, dass sich das
rauswächst.«
»Was meinst du damit?«, fragte Terje. »Ich kann doch kaum der Vater
dieses Jungen sein, auch wenn er vielversprechend ist. Wir haben
nie ... Oder haben wir ...?«
Dagný musste lachen. Endlich.
»Nein«, sagte sie. »Wir haben nie ... und wir werden nie ... Arbeit
ist das eine. Privatleben ist das andere.«
»Bis jetzt ist wenig Platz für Privatleben in diesem Beruf
gewesen«, sagte Terje. »Und wenn Mörder nicht mehr damit zufrieden
sind, weniger als drei auf einmal umzubringen, sieht es nicht so
aus, als würde das Privatleben in der nächsten Zeit aufblühen. Das
war das Widerwärtigste, was ich je gesehen habe. Würde mich nicht
wundern, wenn sich herausstellt, dass da eine ausländische
Verbrecherbande am Werk gewesen ist.«
»Wieso?«
»Weil es, soweit ich weiß, in der isländischen Kriminalgeschichte
keinen Präzedenzfall für so einen Massenmord oder eine
Massenhinrichtung gegeben hat. Und schau dir die Grausamkeit an,
den Sadismus. Lebende Menschen an Wand und Boden zu nageln.
Isländer machen so etwas nicht.«
»Aber Ausländer könnten es getan haben?«
»Ja, irgendwelche Leute haben es offenbar getan und ich tue mich
schwer damit, zu glauben, dass es Isländer waren.«
»Glaubst du, Isländer sind besser als andere Menschen?«
»Ja, wusstest du das nicht?«
»Nein, das muss mir dann wohl entgangen sein.«
Terje sah auf und schaute sie an. Sie hatte einen so ernsten
Ausdruck im Gesicht, dass er sich nicht verkneifen konnte, sie zu
provozieren.
»Ich weiß auch nicht, wie ich so etwas Dummes sagen konnte. Ich
nehme es zurück«, sagte er. »Es ist nicht politisch korrekt.
Wahrscheinlich habe ich in der letzten Zeit nicht genug Gemüse
gegessen.«
Sobald er >politisch korrekt< ausgesprochen hatte, sah er,
dass er sie beleidigt hatte. Ihr Geduldsfaden war anscheinend
kurz.
»Hast du schon einmal was von den isländischen Sagas gehört?«,
fragte Dagný und musterte ihn kühl.
»Isländische Sagas? Den Namen kenne ich irgendwoher.«
»Sie sind randvoll mit Mord und Totschlag, von den ersten Jahren
der Besiedlung bis ins dreizehnte Jahrhundert, und das weist
unleugbar darauf hin, dass Isländer genauso in der Lage sind wie
andere Völker, grenzenlose Gewalt einzusetzen.«
»Wir haben Fortschritte gemacht seit dem dreizehnten
Jahrhundert.«
»Was ist mit Axlar-Björn?«
»War das nicht der, der die Ferien auf dem Bauernhof
erfand?«
»Das kann man vielleicht so sagen. Jedenfalls ermordete er mehr als
zwanzig ahnungslose Gäste, die bei ihm Unterkunft
suchten.«
»War vielleicht schüchtern, der arme Kerl, und hat sich nicht
getraut, fünfundzwanzigtausend Mäuse für die Nacht zu kassieren,
wie Hotelbesitzer es heutzutage ohne mit der Wimper zu zucken tun«,
erwiderte Terje.
»Trotzdem wäre ich vorsichtig mit der Annahme, dass die
Þingvellir-Morde unter dem Einfluss von AxlarBjörn begangen
wurden.«
»Wie kommst du darauf, dass ich das behaupten würde?«, fragte
Dagný. »Nicht genug damit, dass du den Geschmack eines Kindes hast,
du verdrehst einem auch die Worte im Mund wie ein ungezogenes Kind,
wenn man versucht, mit dir zu reden.«
»Also«, sagte Terje und beschloss einen Besänftigungsversuch.
»Alles, was im Ausland geschieht, passiert auch in Island. Nur
später. Der Vorfall in Þingvellir war so grauenhaft, dass niemand
von unserer Polizei jemals etwas Vergleichbares gesehen hat, wie du
weißt. Das heißt, entweder handelt es sich um eine ausländische
Operation oder eben irgendeinen weitsichtigen isländischen
Trendsetter. Verstehst du mich?«
»Das ist ja nicht so schwer«, sagte Dagný. »Diese Vermutung, die du
so brillant findest, baut einfach auf der weithin bekannten
Denkweise auf, die manchmal Männerlogik genannt wird.«
»Wie das?«
»Also, schau mal. Was du sagst, ist, dass die Þingvellir-Morde so
blutrünstig waren, dass sie entweder von ausländischen Tätern
begangen worden sein müssen oder Isländern. Die Argumentation ist
tadellos, aber nicht besonders hilfreich, weil das Ergebnis ist,
dass alle Erdenbewohner infrage kommen und von denen gab es heute
Morgen sechs Milliarden und sechshundertundsieben Millionen
sechshundertzweiundneunzigtausendvierhundertvierunddreißig. Also,
wollen wir langsam aufbrechen?«
»Ja«, sagte Terje. Männerlogik war für ihn ein neues Wort. Dagný
hatte offenbar verborgene Qualitäten.
Als sie im Auto saßen, sagte sie: »Da war noch etwas, was ich dir
sagen wollte.«
»Was denn jetzt?«, sagte Terje und stöhnte. »Noch mehr
Männerlogik?«
»Das weiß ich gar nicht«, sagte Dagný. »Ich will nur, dass dir eins
absolut klar ist.«
»Und was ist das?«
»Das ist, wenn wir jemals gehabt hätten ... was wir nicht haben und
nicht haben werden ... dann kann ich dir versprechen, dass du dich
daran erinnern würdest.«
»Gute Polizisten stellen keine Behauptungen auf, außer sie sind
auch bereit, zu beweisen, dass sie recht haben«, sagte Terje und
fuhr los.