Zwei


Der Wächter war stolz auf seinen Beruf.


»Schiphol ist der einzige Flughafen Europas, der ein eigenes Leichenschauhaus besitzt«, sagte er gut gelaunt.


»Jährlich reisen hier fast 50 Millionen Menschen durch.


Die meisten kommen glücklicherweise lebendig an, aber manche geraten doch für kürzere oder längere Zeit in unsere Verwahrung. Slobodan Milosevic ist zweifellos unsere berühmteste Leiche. Er besuchte uns kurz nach seinem Tod und blieb über Nacht. Wir kamen auch in die Nachrichten, als in einem Mülleimer des Duty-freeShops eine mumifizierte Babyleiche mitsamt sieben Schädeln gefunden wurde. Ihr Besitzer hat sich nie gemeldet. Wir vermuten, dass es Souvenirs aus Peru waren, mit denen sich der Reisende nicht durch den Zoll traute.


Ich kann Ihnen die Mumie des Kindes zeigen, wenn Sie Interesse haben, aber die Schädel werden beim NFI in Den Haag aufbewahrt. Es sei denn, die haben sie schon verschlampt.«


Der Wärter verstummte, als Hoofdinspecteur Derk van Turenhout ihm seine Pranke auf die Schulter legte und auf Holländisch etwas zuflüsterte.


»Entschuldigen Sie«, sagte der Wärter und sah Þórhildur an. »Ich wusste nicht, dass die Dame ihren Sohn sucht. Die Idioten vom DIP haben nichts davon gesagt, dass es sich um etwas anderes als einen normalen Polizeibesuch handelt.«


»Das war ich, der angerufen hat«, bemerkte van Turenhout.


»Darf ich Sie bitten, hier zu warten?«, fragte der Wärter, der plötzlich das Interesse an einer weiteren Unterhaltung verloren hatte. »Bitte nehmen Sie Platz.« Dann eilte er hinaus und ließ die Tür offen.


»
Klootzak«, murmelte van Turenhout, »Scheißkerl.«


So standen sie zu dritt in dem fensterlosen Raum: van Turenhout, Hoofdinspecteur vom DIP, einer Abteilung für internationale Zusammenarbeit der holländischen Staatspolizei, und die isländischen Gäste, die Eheleute Þórhildur Magnúsdóttir, Gerichtsmedizinerin, und Víkingur Gunnarsson, Polizeidirektor im Großraum Reykjavík.


Neonlicht an der Decke. Anstaltsgrüne Wände. Van Turenhout wies Þórhildur auf vier weiße Plastikstühle mit metallenen Beinen hin, die an der Wand gegenüber der Tür standen. Sie schüttelte den Kopf.


Aus dem Gang hörte man fröhliches Pfeifen, Türenknallen und Schritte.


Víkingur betrachtete Þórhildur. Sie starrte auf die Tür und schien gedanklich woanders zu sein. Plötzlich blickte sie auf und sah den besorgten Ausdruck im Gesicht ihres Ehemannes. Er machte sich Sorgen um sie. Eine winzige Kopfbewegung reichte, um Víkingur zu verstehen zu geben, dass seine Fürsorge nervte, sogar demütigend sei. Er versuchte, ihr mit den Augen zuzulächeln, sie wie ein Kind zu ermutigen. Sie antwortete, indem sie durch ihn hindurchblickte.


Nichts von dieser subtilen Kommunikation entging van Turenhout, auch wenn der riesenhafte dunkelhäutige Polizist aussah, als wäre er so feinfühlig wie ein Nashorn.


Er schloss die Augen und dachte an seine Maaike. Um ihr einen Gefallen zu tun, hatte er mit den Mordermittlungen aufgehört und sich einen Bürojob in der internationalen Abteilung besorgt. Und kaum erschien er abends regelmäßig zum Essen, entwickelte sie die Marotte, dass er dringend eine Diät benötige.


Van Turenhout dachte manchmal an das, was Wiet van Broeckhoven einmal im Spaß gesagt hatte: »Meine Frau führt ein Doppelleben: ihr eigenes und meins.«


In jedem Scherz steckt eine Spur Wahrheit.


*****


Van Turenhout spürte die angespannte Atmosphäre zwischen seinen isländischen Gästen. Unangenehme Schwingungen, wie man sie eigentlich nur zwischen Eheleuten findet. Mijnheer Polizeidirektor Gunnarsson und Mevrouw Gerichtsmedizinerin Magnúsdóttir. Ein Ehepaar ohne einen gemeinsamen Namen.


Er hatte sie morgens am Bahnhof in Den Haag empfangen und zum dortigen Leichenschauhaus begleitet, um ihnen den Toten zu zeigen, der am 31. Mai im Rotterdamer Hafen gefunden worden war; ein männlicher Leichnam, der Kopf, Hände und Füße verloren hatte, verpackt in einer Reisetasche.   

 


Van Turenhout hatte die isländische Polizei auf diesen Leichenfund aufmerksam gemacht, weil sich in der Tasche ein Papierbrei befunden hatte, von dem die Spezialisten des NFI sagten, dass es sich um Zeitungsreste handele. Denkbar, dass die Zeitung zum Abtupfen verwendet worden war, als die Leiche zerteilt wurde. Es stellte sich heraus, dass es isländische Zeitungen waren, und zwar drei oder vier Ausgaben des >Fréttablaðið< vom vergangenen März.


Diese Zeitungsreste waren der einzige Hinweis, den die holländische Polizei auf die Herkunft des Mannes hatte. Die Tasche der Marke Samsonite aus dunkelgrauem Kunststoff stammte aus der Produktion von 1996, die in Geschäften rund um den Globus verkauft wurde.


Man würde ihre Herkunft kaum zurückverfolgen können. Der Torso war der eines Mannes von 30 bis 35 Jahren, plus/minus etwa drei Jahre. Übliche Methoden der Identifizierung ausgeschlossen. Einen Toten ohne Kopf kann man nicht am Gesicht oder an den Zähnen erkennen. Von einem Leichnam ohne Hände kann man keine Fingerabdrücke nehmen und eine Leiche ohne Füße gibt keine Informationen über Körper- oder Schuhgröße preis.


Der Tote hatte bereits eine Weile im Leichenschauhaus in Den Haag gelegen, als van Turenhout Víkingur und die isländische Polizei benachrichtigte.


Als Þórhildur erfuhr, dass möglicherweise eine Verbindung zu einer weiteren Leiche bestünde, die auf dem Flughafen Schiphol aufbewahrt wurde, beschloss sie, nach Holland zu reisen. Und zwar weil sie seit Wochen kein Lebenszeichen von ihrem Sohn Magnús erhalten hatte. Zuletzt hatte er angerufen und erzählt, er sei in Holland und würde sich in Kürze wieder melden. Víkingur bestand darauf, sie zu begleiten.


»Der 30­35 Jahre alte Mann, der tot im Hafen von Rotterdam gefunden wurde, kann unmöglich Magnús sein«, sagte Víkingur zu seiner Frau. »Außerdem sieht man auf den Fotos dieses Toten seine Speckröllchen, Magnús aber ist gertenschlank.«


»Das ist kein Körperfett, sondern
Adipocire«, sagte Þórhildur, »auch Leichenlipid oder Leichenwachs genannt. Es entsteht in sehr feuchter oder nasser Umgebung, wenn sich das Körperfett in Fettsäuren verwandelt.


Ich schätze es ähnlich wie du ein. Der Tote ähnelt Magnús nicht, aber die Fotos allein reichen mir nicht. Ich muss ihn sehen, um endgültig sicher zu sein. Das musst du verstehen.«


Ja, Víkingur verstand es.


Tatsächlich brauchte Þórhildur nur einen Augenblick, um ihre Einschätzung zu verkünden, kaum war das grüne Tuch von dem stinkenden Stück Fleisch gehoben worden, das einst Teil eines lebendigen Menschen gewesen war: »Das ist er nicht.«


»Möchten Sie nicht auch die Haut betrachten?«, fragte der Leichenschauhauswärter. »Man sieht die Einschnitte so schlecht. Die Haut ist so lose wie ein Pullover.«              


Löchriger Pullover wäre eine bessere Beschreibung gewesen, denn die Haut war schon großflächig verrottet.


Aber man sah dennoch deutlich, wo das Mal oberhalb der rechten Brust eingeritzt worden war. 

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»Seitdem dieser Bezug zu Island auftauchte, hat man das am ehesten mit Runenschrift in Verbindung gebracht«, sagte van Turenhout, der bemerkt hatte, wie erleichtert die Frau war.


Er war auch froh darüber, dass sie nicht näher nach der Todesursache fragte und ihn nicht bat, das Bruchstück des Billardstocks sehen zu dürfen. Er wollte nicht mit einer Frau darüber fachsimpeln müssen, was geschieht, wenn ein Billardstock mit solcher Kraft in den Enddarm eines lebenden Mannes gestoßen wird, dass er zur Speiseröhre wieder herauskommt.


Obgleich es diese Frau offensichtlich nicht sonderlich mitnahm, menschliche Überreste in einem Zustand zu sehen, wie er nicht einmal in den schlimmsten Albträumen normaler Menschen vorkommt. Sogar Inspecteur Joost Langendyk, der sich als eine Art Antwort Hollands auf Bruce Willis empfand, war sein Mittagessen auf der Mole in Rotterdam losgeworden, Sekunden nachdem er angeordnet hatte, die Tasche an Ort und Stelle zu öffnen.


*****


Van Turenhout schreckte im Leichenschauhaus des Flughafens Schiphol aus seinem angenehmen Sinnieren über Langendyks Schwäche auf, als der redselige Wärter wieder erschien, mit einer Bahre vor sich, die er kraftvoll gegen die Flügeltür des Wartezimmers rollte.


»Verzeihen Sie die Verzögerung«, sagte er, »aber es ist nun mal so, dass die Leiche sich nach der Obduktion nicht im besten Zustand befindet, sodass nicht sicher ist, ob die Dame ...«


»Ich bin Gerichtsmedizinerin«, sagte Þórhildur, ging zu der Bahre und hob das Laken von Gesicht und Oberkörper des Toten. Sie sah, dass der Leichnam nach der Obduktion nicht wieder hergerichtet worden war.


Brustkorb und Bauchhöhle hatte man auf die übliche Weise mit einem Thoracoabdominalschnitt geöffnet, dem Ypsilonschnitt, einem bogenförmigen Schnitt von der Schulter hinunter bis zum Rippenbogen und wieder hoch zur anderen Schulter, und dann führte ein Schnitt als gerade Linie vom Rippenbogen herunter bis zum Schambein. Die Organe waren entfernt, der Schnitt aber nicht wieder vernäht worden. Auch der Kopf des Toten war nicht wieder hergerichtet. Der Gerichtsmediziner hatte einen Coronalmastoidschnitt knapp hinter den Ohren quer durchs Haar gemacht, von Ohr zu Ohr, und dann die Kopfhaut abgezogen, den Schädel aufgesägt und seinen hinteren Teil, das Calvarium, entfernt, um das Gehirn entnehmen zu können.


Víkingur betrachtete das Gesicht und ließ sich dabei von der Nachlässigkeit des obduzierenden Arztes oder des Leichenschauhauswärters nicht beeindrucken, der dem Toten nicht direkt im Anschluss an die Autopsie die übliche Versorgung gegönnt hatte.


Auf den ersten Blick schien es das Gesicht eines alten Mannes zu sein, faltig und aufgedunsen. Bei näherer Betrachtung stellte sich aber heraus, dass es sich um einen jungen Mann handelte, wahrscheinlich unter dreißig, schlank und knochig mit auffallend dichtem, gelocktem Haar, das kohlrabenschwarz gefärbt war. Der Haaransatz und der spärliche Bart ließen auf ein helles Rot als ursprüngliche Haarfarbe schließen. Das Antlitz kam Víkingur bekannt vor, aber er konnte es gedanklich nicht einordnen.


»Könnten Sie mir Handschuhe geben?«, bat Þórhildur den Wärter, der van Turenhout fragend ansah und dann durch die Flügeltür eilte, um nach kurzer Zeit mit einem grünen Umhang und Gummihandschuhen zurückzukehren.


Þórhildur lehnte den Umhang ab, zog sich aber die Handschuhe an und postierte sich am Kopfende des Rollwagens. Sie umfasste den Haarschopf, der die Stirn bedeckte, mit beiden Händen, drückte die Finger ins Haar und zog vorsichtig daran. Die Falten verschwanden, und als sich die Gesichtszüge des Toten, die wie eingefroren wirkten, glätteten, erschien nach und nach ein bekanntes Gesicht.


»Das ist dieser Kerl aus dem Vogar-Viertel. Ási ...


Áskell, oder wie der heißt, der da jahrelang bei den Motorradfreaks herumgehangen hat«, sagte Víkingur. »Mir kam es so vor, als würde ich den auf dem Foto kennen.


Nein, er heißt Ársæll Jódísarson und wird wegen Brandstiftung mit Todesfolge gesucht. Nun ist er also aufgetaucht. Aber ist es nicht seltsam, dass ein Mann, der versucht, sein Aussehen zu verändern, indem er seine Haare färbt, dann doch wieder auffallen will und sich eine Tätowierung auf die Stirn machen lässt?«


»Das ist keine Tätowierung«, sagte van Turenhout, »sondern irgendeine Tinte. Das ist mit einem Filzstift gekritzelt und scheint dasselbe Zeichen zu sein wie auf dem Torso in Den Haag. Seltsamer Zufall. Deswegen wollte ich, dass ihr euch den Jungen mal anseht.«


Víkingur nahm einen Zettel mit einem Bild des Zeichens, das sie morgens in Den Haag gesehen hatten, aus seiner Tasche. Er reichte van Turenhout das Papier und bat ihn, es neben den Kopf der Leiche zu halten. Dann machte er ein paar Fotos mit seiner Handykamera.  

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»Das ist dasselbe Zeichen«, sagte van Turenhout. »Aber was zum Henker bedeutet es? Ist das etwas Isländisches?«


*****


Die durchschnittliche Lebenserwartung isländischer Männer ist weltweit die höchste, nämlich 79,4 Jahre.


Ársæll Jódísarson aus Keflavík, der sein Leben auf einer öffentlichen Toilette des Amsterdamer-Flughafens beendete, wurde 27 Jahre alt. Die Todesursache war eine tödliche Dosis Amphetamin, das intravenös gespritzt worden war. Die Obduktion ergab eine Konzentration von 0,9 Milligramm pro 100 ml Blut.


Eine Putzkraft des Flughafens hatte den Toten in einer verschlossenen Toilettenkabine gefunden.


Im Protokoll der Polizei wurde erwähnt, dass weder Ausweispapiere noch Geld bei der Leiche vorhanden waren. Aber weil es sich offenkundig um einen Drogensüchtigen handelte, schien Raub eher unwahrscheinlich. Rätselhafter war es, dass keine Spritze, weder in der Kabine noch in der Toilette, gefunden wurde. Das konnte allerdings verschiedene Gründe haben. Vielleicht hatte man auch nur nicht gründlich genug danach gesucht, schließlich gibt es, wenn ein Junkie stirbt, selten Anlass zu der Vermutung, dass sein Tod durch einen Zweiten verursacht worden sein könnte.


Da keine Spuren am Leichnam auf Tätlichkeiten hinwiesen, wurde als Todesursache ein fatales Versehen beim Drogenkonsum festgestellt. Es wurde keine polizeiliche Untersuchung angeordnet, schließlich gibt es nicht genug Personal, um den vorzeitigen Tod eines jeden Drogensüchtigen zu untersuchen, selbst wenn er irgendeine Kritzelei auf der Stirn hat.