Der Wächter war stolz auf seinen Beruf.
»Schiphol ist der einzige Flughafen Europas, der ein eigenes
Leichenschauhaus besitzt«, sagte er gut gelaunt.
»Jährlich reisen hier fast 50 Millionen Menschen durch.
Die meisten kommen glücklicherweise lebendig an, aber manche
geraten doch für kürzere oder längere Zeit in unsere Verwahrung.
Slobodan Milosevic ist zweifellos unsere berühmteste Leiche. Er
besuchte uns kurz nach seinem Tod und blieb über Nacht. Wir kamen
auch in die Nachrichten, als in einem Mülleimer des Duty-freeShops
eine mumifizierte Babyleiche mitsamt sieben Schädeln gefunden
wurde. Ihr Besitzer hat sich nie gemeldet. Wir vermuten, dass es
Souvenirs aus Peru waren, mit denen sich der Reisende nicht durch
den Zoll traute.
Ich kann Ihnen die Mumie des Kindes zeigen, wenn Sie Interesse
haben, aber die Schädel werden beim NFI in Den Haag aufbewahrt. Es
sei denn, die haben sie schon verschlampt.«
Der Wärter verstummte, als Hoofdinspecteur Derk van Turenhout ihm
seine Pranke auf die Schulter legte und auf Holländisch etwas
zuflüsterte.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Wärter und sah Þórhildur an. »Ich
wusste nicht, dass die Dame ihren Sohn sucht. Die Idioten vom DIP
haben nichts davon gesagt, dass es sich um etwas anderes als einen
normalen Polizeibesuch handelt.«
»Das war ich, der angerufen hat«, bemerkte van
Turenhout.
»Darf ich Sie bitten, hier zu warten?«, fragte der Wärter, der
plötzlich das Interesse an einer weiteren Unterhaltung verloren
hatte. »Bitte nehmen Sie Platz.« Dann eilte er hinaus und ließ die
Tür offen.
»Klootzak«, murmelte van Turenhout,
»Scheißkerl.«
So standen sie zu dritt in dem fensterlosen Raum: van Turenhout,
Hoofdinspecteur vom DIP, einer Abteilung für internationale
Zusammenarbeit der holländischen Staatspolizei, und die
isländischen Gäste, die Eheleute Þórhildur Magnúsdóttir,
Gerichtsmedizinerin, und Víkingur Gunnarsson, Polizeidirektor im
Großraum Reykjavík.
Neonlicht an der Decke. Anstaltsgrüne Wände. Van Turenhout wies
Þórhildur auf vier weiße Plastikstühle mit metallenen Beinen hin,
die an der Wand gegenüber der Tür standen. Sie schüttelte den
Kopf.
Aus dem Gang hörte man fröhliches Pfeifen, Türenknallen und
Schritte.
Víkingur betrachtete Þórhildur. Sie starrte auf die Tür und schien
gedanklich woanders zu sein. Plötzlich blickte sie auf und sah den
besorgten Ausdruck im Gesicht ihres Ehemannes. Er machte sich
Sorgen um sie. Eine winzige Kopfbewegung reichte, um Víkingur zu
verstehen zu geben, dass seine Fürsorge nervte, sogar demütigend
sei. Er versuchte, ihr mit den Augen zuzulächeln, sie wie ein Kind
zu ermutigen. Sie antwortete, indem sie durch ihn
hindurchblickte.
Nichts von dieser subtilen Kommunikation entging van Turenhout,
auch wenn der riesenhafte dunkelhäutige Polizist aussah, als wäre
er so feinfühlig wie ein Nashorn.
Er schloss die Augen und dachte an seine Maaike. Um ihr einen
Gefallen zu tun, hatte er mit den Mordermittlungen aufgehört und
sich einen Bürojob in der internationalen Abteilung besorgt. Und
kaum erschien er abends regelmäßig zum Essen, entwickelte sie die
Marotte, dass er dringend eine Diät benötige.
Van Turenhout dachte manchmal an das, was Wiet van Broeckhoven
einmal im Spaß gesagt hatte: »Meine Frau führt ein Doppelleben: ihr
eigenes und meins.«
In jedem Scherz steckt eine Spur Wahrheit.
*****
Van Turenhout spürte die angespannte Atmosphäre zwischen seinen
isländischen Gästen. Unangenehme Schwingungen, wie man sie
eigentlich nur zwischen Eheleuten findet. Mijnheer Polizeidirektor
Gunnarsson und Mevrouw Gerichtsmedizinerin Magnúsdóttir. Ein
Ehepaar ohne einen gemeinsamen Namen.
Er hatte sie morgens am Bahnhof in Den Haag empfangen und zum
dortigen Leichenschauhaus begleitet, um ihnen den Toten zu zeigen,
der am 31. Mai im Rotterdamer Hafen gefunden worden war; ein
männlicher Leichnam, der Kopf, Hände und Füße verloren hatte,
verpackt in einer Reisetasche.
Van Turenhout hatte die isländische Polizei auf diesen Leichenfund
aufmerksam gemacht, weil sich in der Tasche ein Papierbrei befunden
hatte, von dem die Spezialisten des NFI sagten, dass es sich um
Zeitungsreste handele. Denkbar, dass die Zeitung zum Abtupfen
verwendet worden war, als die Leiche zerteilt wurde. Es stellte
sich heraus, dass es isländische Zeitungen waren, und zwar drei
oder vier Ausgaben des >Fréttablaðið< vom vergangenen
März.
Diese Zeitungsreste waren der einzige Hinweis, den die holländische
Polizei auf die Herkunft des Mannes hatte. Die Tasche der Marke
Samsonite aus dunkelgrauem Kunststoff stammte aus der Produktion
von 1996, die in Geschäften rund um den Globus verkauft
wurde.
Man würde ihre Herkunft kaum zurückverfolgen können. Der Torso war
der eines Mannes von 30 bis 35 Jahren, plus/minus etwa drei Jahre.
Übliche Methoden der Identifizierung ausgeschlossen. Einen Toten
ohne Kopf kann man nicht am Gesicht oder an den Zähnen erkennen.
Von einem Leichnam ohne Hände kann man keine Fingerabdrücke nehmen
und eine Leiche ohne Füße gibt keine Informationen über Körper-
oder Schuhgröße preis.
Der Tote hatte bereits eine Weile im Leichenschauhaus in Den Haag
gelegen, als van Turenhout Víkingur und die isländische Polizei
benachrichtigte.
Als Þórhildur erfuhr, dass möglicherweise eine Verbindung zu einer
weiteren Leiche bestünde, die auf dem Flughafen Schiphol aufbewahrt
wurde, beschloss sie, nach Holland zu reisen. Und zwar weil sie
seit Wochen kein Lebenszeichen von ihrem Sohn Magnús erhalten
hatte. Zuletzt hatte er angerufen und erzählt, er sei in Holland
und würde sich in Kürze wieder melden. Víkingur bestand darauf, sie
zu begleiten.
»Der 3035 Jahre alte Mann, der tot im Hafen von Rotterdam gefunden
wurde, kann unmöglich Magnús sein«, sagte Víkingur zu seiner Frau.
»Außerdem sieht man auf den Fotos dieses Toten seine Speckröllchen,
Magnús aber ist gertenschlank.«
»Das ist kein Körperfett, sondern Adipocire«,
sagte Þórhildur, »auch Leichenlipid oder Leichenwachs genannt. Es
entsteht in sehr feuchter oder nasser Umgebung, wenn sich das
Körperfett in Fettsäuren verwandelt.
Ich schätze es ähnlich wie du ein. Der Tote ähnelt Magnús nicht,
aber die Fotos allein reichen mir nicht. Ich muss ihn sehen, um
endgültig sicher zu sein. Das musst du verstehen.«
Ja, Víkingur verstand es.
Tatsächlich brauchte Þórhildur nur einen Augenblick, um ihre
Einschätzung zu verkünden, kaum war das grüne Tuch von dem
stinkenden Stück Fleisch gehoben worden, das einst Teil eines
lebendigen Menschen gewesen war: »Das ist er nicht.«
»Möchten Sie nicht auch die Haut betrachten?«, fragte der
Leichenschauhauswärter. »Man sieht die Einschnitte so schlecht. Die
Haut ist so lose wie ein Pullover.«
Löchriger Pullover wäre eine bessere Beschreibung gewesen, denn die
Haut war schon großflächig verrottet.
Aber man sah dennoch deutlich, wo das Mal oberhalb der rechten
Brust eingeritzt worden war.
»Seitdem dieser Bezug zu Island auftauchte, hat man das am ehesten
mit Runenschrift in Verbindung gebracht«, sagte van Turenhout, der
bemerkt hatte, wie erleichtert die Frau war.
Er war auch froh darüber, dass sie nicht näher nach der
Todesursache fragte und ihn nicht bat, das Bruchstück des
Billardstocks sehen zu dürfen. Er wollte nicht mit einer Frau
darüber fachsimpeln müssen, was geschieht, wenn ein Billardstock
mit solcher Kraft in den Enddarm eines lebenden Mannes gestoßen
wird, dass er zur Speiseröhre wieder herauskommt.
Obgleich es diese Frau offensichtlich nicht sonderlich mitnahm,
menschliche Überreste in einem Zustand zu sehen, wie er nicht
einmal in den schlimmsten Albträumen normaler Menschen vorkommt.
Sogar Inspecteur Joost Langendyk, der sich als eine Art Antwort
Hollands auf Bruce Willis empfand, war sein Mittagessen auf der
Mole in Rotterdam losgeworden, Sekunden nachdem er angeordnet
hatte, die Tasche an Ort und Stelle zu öffnen.
*****
Van Turenhout schreckte im Leichenschauhaus des Flughafens Schiphol
aus seinem angenehmen Sinnieren über Langendyks Schwäche auf, als
der redselige Wärter wieder erschien, mit einer Bahre vor sich, die
er kraftvoll gegen die Flügeltür des Wartezimmers
rollte.
»Verzeihen Sie die Verzögerung«, sagte er, »aber es ist nun mal so,
dass die Leiche sich nach der Obduktion nicht im besten Zustand
befindet, sodass nicht sicher ist, ob die Dame ...«
»Ich bin Gerichtsmedizinerin«, sagte Þórhildur, ging zu der Bahre
und hob das Laken von Gesicht und Oberkörper des Toten. Sie sah,
dass der Leichnam nach der Obduktion nicht wieder hergerichtet
worden war.
Brustkorb und Bauchhöhle hatte man auf die übliche Weise mit einem
Thoracoabdominalschnitt geöffnet, dem Ypsilonschnitt, einem
bogenförmigen Schnitt von der Schulter hinunter bis zum Rippenbogen
und wieder hoch zur anderen Schulter, und dann führte ein Schnitt
als gerade Linie vom Rippenbogen herunter bis zum Schambein. Die
Organe waren entfernt, der Schnitt aber nicht wieder vernäht
worden. Auch der Kopf des Toten war nicht wieder hergerichtet. Der
Gerichtsmediziner hatte einen Coronalmastoidschnitt knapp hinter
den Ohren quer durchs Haar gemacht, von Ohr zu Ohr, und dann die
Kopfhaut abgezogen, den Schädel aufgesägt und seinen hinteren Teil,
das Calvarium, entfernt, um das Gehirn entnehmen zu
können.
Víkingur betrachtete das Gesicht und ließ sich dabei von der
Nachlässigkeit des obduzierenden Arztes oder des
Leichenschauhauswärters nicht beeindrucken, der dem Toten nicht
direkt im Anschluss an die Autopsie die übliche Versorgung gegönnt
hatte.
Auf den ersten Blick schien es das Gesicht eines alten Mannes zu
sein, faltig und aufgedunsen. Bei näherer Betrachtung stellte sich
aber heraus, dass es sich um einen jungen Mann handelte,
wahrscheinlich unter dreißig, schlank und knochig mit auffallend
dichtem, gelocktem Haar, das kohlrabenschwarz gefärbt war. Der
Haaransatz und der spärliche Bart ließen auf ein helles Rot als
ursprüngliche Haarfarbe schließen. Das Antlitz kam Víkingur bekannt
vor, aber er konnte es gedanklich nicht einordnen.
»Könnten Sie mir Handschuhe geben?«, bat Þórhildur den Wärter, der
van Turenhout fragend ansah und dann durch die Flügeltür eilte, um
nach kurzer Zeit mit einem grünen Umhang und Gummihandschuhen
zurückzukehren.
Þórhildur lehnte den Umhang ab, zog sich aber die Handschuhe an und
postierte sich am Kopfende des Rollwagens. Sie umfasste den
Haarschopf, der die Stirn bedeckte, mit beiden Händen, drückte die
Finger ins Haar und zog vorsichtig daran. Die Falten verschwanden,
und als sich die Gesichtszüge des Toten, die wie eingefroren
wirkten, glätteten, erschien nach und nach ein bekanntes
Gesicht.
»Das ist dieser Kerl aus dem Vogar-Viertel. Ási ...
Áskell, oder wie der heißt, der da jahrelang bei den Motorradfreaks
herumgehangen hat«, sagte Víkingur. »Mir kam es so vor, als würde
ich den auf dem Foto kennen.
Nein, er heißt Ársæll Jódísarson und wird wegen Brandstiftung mit
Todesfolge gesucht. Nun ist er also aufgetaucht. Aber ist es nicht
seltsam, dass ein Mann, der versucht, sein Aussehen zu verändern,
indem er seine Haare färbt, dann doch wieder auffallen will und
sich eine Tätowierung auf die Stirn machen lässt?«
»Das ist keine Tätowierung«, sagte van Turenhout, »sondern
irgendeine Tinte. Das ist mit einem Filzstift gekritzelt und
scheint dasselbe Zeichen zu sein wie auf dem Torso in Den Haag.
Seltsamer Zufall. Deswegen wollte ich, dass ihr euch den Jungen mal
anseht.«
Víkingur nahm einen Zettel mit einem Bild des Zeichens, das sie
morgens in Den Haag gesehen hatten, aus seiner Tasche. Er reichte
van Turenhout das Papier und bat ihn, es neben den Kopf der Leiche
zu halten. Dann machte er ein paar Fotos mit seiner Handykamera.
»Das ist dasselbe Zeichen«, sagte van Turenhout. »Aber was zum Henker bedeutet es? Ist das etwas Isländisches?«
*****
Die durchschnittliche Lebenserwartung isländischer Männer ist
weltweit die höchste, nämlich 79,4 Jahre.
Ársæll Jódísarson aus Keflavík, der sein Leben auf einer
öffentlichen Toilette des Amsterdamer-Flughafens beendete, wurde 27
Jahre alt. Die Todesursache war eine tödliche Dosis Amphetamin, das
intravenös gespritzt worden war. Die Obduktion ergab eine
Konzentration von 0,9 Milligramm pro 100 ml Blut.
Eine Putzkraft des Flughafens hatte den Toten in einer
verschlossenen Toilettenkabine gefunden.
Im Protokoll der Polizei wurde erwähnt, dass weder Ausweispapiere
noch Geld bei der Leiche vorhanden waren. Aber weil es sich
offenkundig um einen Drogensüchtigen handelte, schien Raub eher
unwahrscheinlich. Rätselhafter war es, dass keine Spritze, weder in
der Kabine noch in der Toilette, gefunden wurde. Das konnte
allerdings verschiedene Gründe haben. Vielleicht hatte man auch nur
nicht gründlich genug danach gesucht, schließlich gibt es, wenn ein
Junkie stirbt, selten Anlass zu der Vermutung, dass sein Tod durch
einen Zweiten verursacht worden sein könnte.
Da keine Spuren am Leichnam auf Tätlichkeiten hinwiesen, wurde als
Todesursache ein fatales Versehen beim Drogenkonsum festgestellt.
Es wurde keine polizeiliche Untersuchung angeordnet, schließlich
gibt es nicht genug Personal, um den vorzeitigen Tod eines jeden
Drogensüchtigen zu untersuchen, selbst wenn er irgendeine Kritzelei
auf der Stirn hat.