Der Grabstein aus grauem, trutzigem Granit wirkte, als habe die
Seele des Professors sich geweigert, ihm in die Erde zu folgen, und
oben auf dem Grab Platz genommen, entschlossen, den
desinteressierten Lebenden, deren Weg durch den Hiiu-Rahu-Friedhof
in Tallinn führte, seinen Namen aufzudrängen.
KUKK Nigul
19172006
Womit aber nicht behauptet werden soll, dass morgens um sechs viele
Menschen unterwegs wären.
Reelika Nuul, die der selige Professor immer »Null Relik« oder
»Rest: null« genannt hatte, stand am Grab, verteilte weiße Körner
aus einem Papiertütchen auf das Gras und hielt sich ihr Kopftuch
vors Gesicht.
In einiger Entfernung standen der Chauffeur Andrus Jarvilaturi, der
Leibwächter und Kollege von Frau Nuul, und Vello Viljan, der Sohn
seiner Schwester, der glaubte, dass Andrus nicht bemerkte, wie
verkatert er an diesem Tag, seinem ersten Arbeitstag,
war.
»Warum verteilt sie Dünger auf dem Gras?«, fragte Vello und zündete
sich eine Zigarette an. »Ich hätte gedacht, dass die Pflanzen auf
einem Friedhof genug Nahrung von unten bekommen.« »Sehe ich wie ein
Volltrottel aus?«, fragte Andrus und betrachtete seinen jungen
Neffen näher.
»Nein, wieso glaubst du das?«
»Weil ich dich deiner Mutter zuliebe probeweise eingestellt
habe.«
»Du wirst es nicht bereuen«, sagte Vello. »Männer wie mich findet
man nicht an jeder Eck...«
Die Ohrfeige kam so unerwartet und war so präzise ausgeführt, dass
der junge Mann mitten im Wort verstummte, und das Nächste, was er
von sich wusste, war, dass er auf dem Rücken lag, mit Blick auf
einen Grabstein. Die Sonne schien ihm direkt in die Augen und
blendete ihn, bis der glattrasierte Schädel seines Onkels Andrus
über ihm erschien und ihm Schatten spendete.
Andrus streckte die Hand aus und half dem jungen Mann auf die
Beine.
Vello schüttelte benommen den Kopf. Er wusste, dass Onkel Andrus
bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau zur sowjetischen
Mannschaft der Gewichtheber gehört hatte und bestimmt Gold gewonnen
hätte, wenn die neiderfüllten Russen ihn nicht unzutreffenderweise
des Dopings beschuldigt und ein lebenslanges Wettkampfverbot gegen
ihn ausgesprochen hätten.
»Wenn ich genötigt werde, deine Wange zu streicheln, kann dir keine
menschliche Macht wieder auf die Beine helfen«, sagte Andrus
freundlich. »Verstehst du das?«
»Ja«, sagte Vello und verstand kein Wort.
»Verstehst du dann auch, dass, wenn man dir sagt, du sollst um halb
sechs antreten, du pünktlich da sein sollst?
Du darfst eine Minute zu früh kommen, aber keine Minute zu spät.
Und dabei ist es auch gleichgültig, ob Weihnachten ist oder
Jaanipäev.
Verstehst du das?«
»Yes«, sagte Vello und nickte. »Gut«,
sagte Andrus. »Und noch etwas: Heute belasse ich es bei einer
Warnung, aber wenn ich jemals Grund zur Annahme habe, dass du vom
Wodka verkatert oder zugedröhnt mit Dope zur Arbeit erscheinst,
dann reiße ich dir den Kopf ab. Verstehst du das?«
»Ja«, sagte Vello.
»Also, mein Freund«, sagte Andrus. »Reich mir die Hand.«
»Okay«, sagte Vello und streckte seine schweißige Hand vor, obwohl
er nicht ganz verstand, welche Art Pakt sein Onkel mit Handschlag
besiegeln wollte.
Andrus' Pranken umschlossen die schmale Hand des jungen Mannes wie
ein Schraubstock. Vello bemühte sich, den Druck wie ein ganzer Mann
zu erwidern, damit sein Onkel spürte, dass er den Worten Taten
folgen lassen wollte, und war überrascht, als Andrus seine Hand zum
Mund führte. Wollte der Idiot ihm die Hand küssen?
Was für ein Unfug war das?
Er bekam keinen Kuss. Stattdessen spürte Vello die warme Zunge
seines Onkels an seinem kleinen Finger.
Dann kam ein stechender Schmerz, als sich die Pranken einen
Augenblick lang fester um seine Hand schlossen, und der Schmerz
dauerte an, obwohl Andrus die Hand losließ. Der dämliche
Muskelprotz musste jeden einzelnen Knochen in seiner Hand gebrochen
haben. Vello jaulte gequält auf, griff mit der linken Hand nach der
rechten und sah plötzlich, dass Blut aus der Hand quoll oder besser
gesagt aus dem kleinen Finger, nein, aus einer Wunde, wo der kleine
Finger gewesen war.
Vello wurde schwindelig und er fiel vor seinem Onkel auf die Knie.
Die Welt rotierte um einen blutigen Fingerstumpf anstelle eines
kleinen Fingers, und in der blutigen Wunde leuchtete ein weißer
Knochen. »Verstehst du jetzt?«, fragte sein Onkel. »Alles, was du
bis jetzt gemacht hast, waren Dummejungenstreiche. Die Zeit der
Spielchen ist vorbei. Heute beginnt der Ernst des Lebens. Verstehst
du?«
»Ja.«
»Gut, mein Freund«, sagte Andrus. »Jetzt kannst du dir aussuchen,
ob du das hier als Souvenir behalten willst oder ob du die
Gelegenheit nutzt, um wenigstens einen kleinen Teil von dir in
geweihter Erde zur letzten Ruhe zu betten.«
Er streckte die Hand vor. Auf der Handfläche lagen die zwei
vorderen Glieder des kleinen Fingers, leblos.
Andrus lächelte und steckte den abgebissenen Finger in die
Brusttasche der Jacke seines Neffen. Wenn seine Schneidezähne nicht
blutverschmiert gewesen wären, hätte man das Lächeln freundlich
nennen können.
*****
Reelika Nuul bekam langsam den Verdacht, das Gras auf dem Grab sei
nicht auszurotten. Was wiederum darauf schließen ließ, dass
Umweltverschmutzung doch nicht so gefährlich für die Flora war, wie
behauptet wurde. Seit dem Begräbnis ihres alten Professors hatte
sie jede Woche verschiedene Giftstoffe auf dem Grab verteilt, ohne
dass man einen Erfolg sehen konnte; das Gras gedieh
weiter.
Allerdings war Professor Nigul Kukk früher gestorben, als sie
vorgesehen hatte.
Reelika Nuul war Chemikerin. Als Naturwissenschaftlerin hatte sie
ihre Zweifel daran, dass schlechte Menschen nach dem Tod in die
Hölle kommen. Um sicherzugehen, hatte sie sich vorgenommen, den
Professor die Qualen des Hades bereits diesseits des Grabes
kennenlernen zu lassen; dieselben Qualen, denen er sie ausgesetzt
hatte, als sie das Pech hatte, an der Universität in Tallinn seine
Studentin zu sein. Und zwar mit Zins und Zinseszins.
Für geradezu lächerliche Bezahlung bekam Andrus verschiedene Gangs
aus dem Unterwelt-Milieu dazu, in regelmäßigem Abstand in die
Wohnung von Professor Kukk an der Hiiju-Suurtüki-Straße
einzubrechen und fleißig bei ihm aufzuräumen.
Die Polizei hörte bald auf, sich um die Anzeigen des Professors,
der ständig Einbrüche und Verwüstungen meldete, zu kümmern, und
riet ihm, die Wohnung zu verkaufen und an einen Ort zu ziehen, wo
niemand etwas gegen ihn habe. Aber alle Immobilienmakler, die
anfangs so optimistisch waren, sagten ihm dann, dass eine Wohnung
mit einem so schlechten Ruf unverkäuflich und damit wertlos
sei.
Reelika Nuul achtete gut darauf, dass der Professor bei diesen
Aktionen nicht zu sehr zu Schaden kam.
»Ich will nicht, dass er mir entkommt, indem er Selbstmord begeht,
bevor ich ihm zurückgezahlt habe, was ich ihm schulde«, sagte
Reelika.
Den Postboten und die beiden Frauen, die morgens >Eesti
Päevaleht< austrugen, davon zu überzeugen, dass Professor Kukk
sich in einer mentalen Quarantäne befand, die nicht von Briefen
oder Zeitungen gestört werden durfte, war einfach.
Das Kabel der Fernsehantenne wurde genauso oft wie das des Telefons
gekappt, was an sich keinen Unterschied machte, denn der Professor
besaß ein altes Transistorgerät und konnte sich auf dem Laufenden
halten, indem er Radio hörte. Er nahm so gut wie täglich zwischen
zwei und vier Uhr am Nachmittagsprogramm von Eesti Raa
dio 2
aktiv teil, trotz der
horrenden Mobilfunkkosten, bis die Redakteure sich darauf
verständigten, ihn mit seinem boshaften Genörgel über das Chaos und
die Entartung, die der Kapitalismus hervorrief, nicht mehr in die
Sendung zu lassen, weil sie befürchteten, er könne andere Hörer
dieser beliebten Rundfunksendung vergraulen.
Vandalen stahlen zunächst die Reifen vom Lada des Professors, dann
schlugen Barbaren die Fenster und Türen ein und schließlich blieb
nur noch die Rückbank übrig in einem Skelett von Auto, das von der
Polizei entfernt wurde, nicht ohne vom Besitzer dafür eine
Strafzahlung zu verlangen.
Professor Kukk nahm die Heimsuchungen mit stoischer Ruhe auf. Er
war weit davon entfernt, seine frühere Studentin, die Restnull, des
Psychoterrors zu verdächtigen.
Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus begannen die Sitten zu
verrohen und der Professor konnte beobachten, wie sein Volk den
Totentanz mit dem Kapitalismus und den westlichen Ländern begann.
Er betrachtete sich selbst als belagerte Stadt, die letzte Bastion
menschlicher Rechtschaffenheit, und seine Wohnung in der
Hiiju-Suurtüki-Straße als eine Art Masada-Festung der modernen
Zeit. Er las zu seiner Erbauung über den Herrscher der Zeloten,
Eleazar ben Ya'ir und seine Männer, die es vorzogen, durch die
eigene Hand zu sterben, als vor der Armee der Römer zu
kapitulieren.
Zum vorzeitigen Tod Professor Kukks kam es, als er einmal seine
Wohnung verließ, um die Vorräte aufzustocken, und eine Gruppe von
Jugendlichen vor dem Gebäude bemerkte.
Mit seinem Talent zum logischen Denken vermutete der Professor,
dass es sich hierbei um Beteiligte an einem jener vielen Einbrüche
handeln könne, die er in den vergangenen Monaten hatte ertragen
müssen. Er tat so, als ob nichts sei, und verließ das Haus, als
wäre er unterwegs in den Rimi Hüpermarket.
Als er um die nächste Straßenecke gebogen war, hielt er an und
lugte vorsichtig um die Ecke, und schwupps war die Jugendgang
verschwunden.
Wenn Professor Kukk die Gelegenheit gehabt hätte, seine Taten zu
bereuen, hätte er im Nachhinein betrachtet zweifellos die
Notrufnummer 112 wählen sollen.
Aber das sagt sich leicht.
Vorsichtshalber hatte Professor Kukk sein Mobiltelefon zu Hause
gelassen, denn in den letzten Wochen war er dreimal am helllichten
Tag auf offener Straße ausgeraubt worden.
In seinem Fall wäre es die beste Lösung gewesen, sich eine
Telefonzelle zu suchen und die Polizei anzurufen, aber Professor
Kukk fühlte Heldenmut in sich aufsteigen und beschloss,
zurückzueilen, in die Wohnung zu schleichen und die Jugendlichen so
in die Falle zu locken. Weiter reichten die Planungen des
Professors leider nicht.
Die Gang von Jugendlichen, die nur drei junge Leute umfasste, Vello
Viljan und Hanneliis, seine Freundin, Jaagub, sowie deren Bruder,
hatte die feuchte Wäsche heruntergerissen, die der Professor gerade
zum Trocknen auf den Flur gehängt hatte. Hanneliis hatte sich ein
Laken umgewickelt und die langen weißen Unterhosen des Professors
auf den Kopf gezogen und wedelte damit wie eine Bauchtänzerin vor
den Gesichtern der Jungen herum.
Wie Professor Kukk es von seinen Studenten gewohnt war, verstummten
die Jugendlichen plötzlich, als sie ihn in der Tür wahrnahmen.
Sowie er seine Stimme erhob, um ihnen sein Vorhaben mitzuteilen,
die Polizei zu rufen, reagierten Vello und Jaagub blitzschnell und
zogen ihn ins Badezimmer, und Hanneliis schloss die Wohnungstür,
die der Professor sich noch nicht zu schließen bequemt
hatte.
Vello teilte dem Professor offen und ehrlich mit, es täte ihnen
sehr leid, dass er so hereingestürmt wäre, ohne auch nur
anzuklopfen, und dass er demnach in der Lage sei, sie zu
identifizieren.
Professor Kukk verbesserte seine Lage nicht unbedingt, indem er
damit prahlte, ein so gutes Personengedächtnis zu haben, dass er
niemals ein Gesicht vergäße, das er einmal gesehen habe. Was stark
übertrieben war.
Ohne weitere Worte zu wechseln tauchten die jungen Männer den Kopf
des Professors gemeinsam in die Klosettschüssel, und das Letzte,
was Nigul Kukk in diesem Leben hörte, war das Lachen und Kichern
von Hanneliis, die ein fröhliches Mädchen war und die lustigen
Seiten des Lebens zu schätzen wusste.
Als Andrus Reelika Nuul die Nachricht überbrachte, wurde sie
fuchsteufelswild.
»Wer hat ihnen erlaubt, ihn zu ersäufen?«, fragte sie.
»Es war nicht vorgesehen, ihn so einfach davonkommen zu
lassen.«
Andrus zuckte cool mit den Schultern.
»Sie sind Kinder, sie spielen gern«, sagte er.
Die Leiche des Professors wurde erst drei Monate später gefunden,
als die Menschen, die auf derselben Etage wohnten, darin
übereinkamen, dass der Geruch im Treppenhaus ein anderer wäre als
der der berüchtigten Kohlsuppe, die der Professor sich gewöhnlich
kochte.
Den Vorschriften entsprechend riefen die Polizisten einen
Kriminalpolizisten und einen Arzt an den Tatort, bevor die Leiche
abtransportiert wurde. Es handelte sich um erfahrene Leute, die ihr
Fazit schnell zum Ausdruck brachten: Ein weiterer alter Herr, der
nicht mit Fortschritt und Wachstum klarkam. Selbstmord.
*****
Wäre Frau Nuul eine offenere Person gewesen und hätte anderen ihre
Antipathie gegenüber ihrem alten Ausbilder anvertraut, hätte der
eine oder andere es wahrscheinlich krankhaft gefunden, wie
hasserfüllt sie war.
Frau Nuul war anderer Auffassung. Sie war Wissenschaftlerin und
betrachtete das Dasein in einem logischen Zusammenhang von Ursache
und Wirkung. Professor Kukk hatte sie gemobbt, als sie sich im
Chemiestudium seiner Führung beugen musste. Der Grund für das
Mobbing war, dass sie, ihre Persönlichkeit, ihre Stimme, ihre Art
zu sprechen und ihr Auftreten ihm auf die Nerven gingen und er sich
in einer Position befand, ihr dafür das Leben unerträglich zu
machen. Professor Kukk hatte sie tyrannisiert und ihr den Abschluss
verweigert, nachdem sie das Studium eigentlich beendet hatte. Zwei
Jahre lang war es im Forschungslabor ihre Aufgabe gewesen,
Benzylacetat herzustellen. Wieder und wieder hatte er ihr kurz
angebunden befohlen, diese lächerlich einfache Reaktion zu
wiederholen, normalerweise eine Einstiegsübung für
Erstsemester.
Der Professor erklärte das damit, dass er ihr auf diese Art und
Weise Disziplin und Präzision bei der Arbeit beibrächte.
Die tatsächliche Erklärung war die, dass er, um sein Gehalt
aufzubessern, den Stoff auf dem Schwarzmarkt verkaufte, und zwar
einem Bekannten, der in seinem Badezimmer eine kleine
Süßwarenherstellung betrieb, denn Benzylacetat ist bekanntlich ein
Birnenduft- bzw. Aromastoff, der unter anderem für Bonbons
verwendet wird.
Professor Kukk hatte an sich nichts gegen autistische Menschen,
aber er achtete auf seinen Ruf und hatte nicht vor, sich später
vorwerfen lassen zu müssen, er habe einer Psychopathin zum
Doktortitel verholfen.
Was Frau Nuul dem Professor später antat, war nicht mehr oder
weniger als das, was er verdient hatte, und er hatte es sich selbst
zuzuschreiben.
Krankhaft?
Nein. Einfach und logisch.
Moralisch verwerflich?
Richtig und falsch, gut und böse waren für Frau Nuul Begriffe, die
genauso wenig in eine wissenschaftliche Diskussion gehörten wie das
Vaterunser.
Das Gras auf dem Grab bereitete ihr immer wieder Kopfschmerzen. Sie
hatte sich geschworen, dafür zu sorgen, dass dort kein Halm mehr
gedieh, aber das Gras war zählebiger, als sie gedacht hatte. Doch
sie gab nicht auf.
Nach Feierabend beschäftigte sie sich mit einem interessanten
Stoff, der 2,4,5-T oder Trichlorphenoxyessigsäure genannt wird. Die
Beschäftigung damit war spannend und erforderte bei der Herstellung
ein wenig Umsicht, denn bei der Produktion bilden sich
lebensgefährliche Dioxine, die irgendwelche skrupellosen Typen dem
Präsidenten der Ukraine, Juschtschenko, eingeflößt hatten und nach
denen in bestimmten Kreisen eine große Nachfrage besteht. Normales
Gift wie 2,4-D und Picloram zu kaufen war kein Problem, aber
2,4,5-T musste sie selbst herstellen. Wenn man diese drei Stoffe im
passenden Verhältnis mischt und dann in PCB löst, das sehr leicht
erhältlich ist, entsteht ein phantastisches Gift, das den
Kosenamen Agent Orange
trägt und von den
Amerikanern mit hervorragendem Erfolg im Vietnamkrieg eingesetzt
wurde.
Zehn Liter Agent Orange
dürften mehr als genug
sein, um allen Bewuchs auf dem Grab und seiner nächsten Umgebung
für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre auszulöschen und dann
gab es sicher einen noch wirksameren Stoff.
Sie schrak aus diesen Tagträumen auf, als Andrus plötzlich neben
ihr stand. Erstaunlich, wie lautlos sich dieser wuchtige Körper
bewegen konnte. Er sagte nichts, sondern schaute nur auf seine
Armbanduhr.
05:57.
Er hatte natürlich recht. Es war Zeit, zur Arbeit zu
gehen.
*****
Es war exakt 06:00:00 Uhr.
Karl hielt seinen Arm angewinkelt vor sich und starrte auf seine
Armbanduhr, als ob er kurz davor wäre, eine bemannte Rakete in den
Weltraum zu schießen.
»Jetzt«, sagte er und zog sich die Skimütze übers Gesicht. »Von
jetzt an verhüllen wir unser Gesicht, bis die Aufgabe abgeschlossen
ist und ich die Anweisung gebe, das Gelände zu
verlassen.«
Der ist bestimmt eine Scheiß-Schwuchtel, dachte Nordpol. Erinnert
mich an einen Sportlehrer, von dem alle wussten, dass er verkehrt
rum war und der gefeuert wurde, weil er kleine Jungs befummelt
hatte. An einer kleinen Aktion teilzunehmen ist die eine Sache,
aber eine andere, schwachsinnige Direktiven von einem Psychopathen
zu bekommen. Das Einzige, was jetzt noch fehlt, ist, dass er sagt,
er setzt sich auf einen Ast und gibt uns das Zeichen zum Angriff,
indem er wie eine Eule kreischt.
Genau nach Plan war Nordpol als Erster am Ort des Geschehens
angelangt, und als Karl und Ulrich erschienen, hatte er das Gelände
bereits erkundet und erstattete nun Bericht.
»Ein Mann hält im westlichen Gebäude Wache, wo auch eine Art von
Produktion stattfindet. Er hat einen Hund bei sich. Weiß nicht, ob
da drinnen auch irgendwelche Waffen sind. Ich wollte mich wegen des
Hundes nicht danach umsehen. Der hat mich bemerkt, aber der Wächter
hat ihm befohlen, still zu sein. Im Wohnhaus sind zwei Männer, die
AKM und zig 30-Schuss-Magazine haben. Und dann gab es da eine
fabelhafte Waffe, eine doppelläufige Kalaschnikow, deren unterer
Lauf ein winziger Granatwerfer ist. So was hab ich noch nie
gesehen.«
»Wie konntest du das so genau erkennen?«, fragte Ulrich.
»Indem ich das Haus betreten habe«, sagte Nordpol.
»Und dabei hast du riskiert, die Männer zu wecken?«, fragte
Ulrich.
»Die wären nicht aufgewacht, selbst wenn ich mit einem Panzer und
einem Blasorchester davor angerückt wäre. De facto erwachten die
beiden nicht mehr, als ich ihre Stimmbänder unwirksam gemacht
hatte.«
»Wie das?«, fragte Ulrich.
»Indem ich ihnen die Kehlen durchgeschnitten habe, natürlich«,
sagte Nordpol.
»Wer hat dir die Erlaubnis dafür gegeben?«, fragte Karl.
»Ich höre manchmal Stimmen«, sagte Nordpol.
»Wo sind ihre Gewehre?«, fragte Ulrich. »Dann müssen wir nicht
diese verdammten Armbrüste benutzen.« »Die Gewehre sind immer noch
im Haus«, sagte Nordpol. »Ich habe sie dagelassen. Wollte nicht
riskieren, dass der Hund hört, wie ich sie herumschleppe. Wir
müssen nichts anderes tun als uns in das Wohnhaus zu schleichen,
uns ans Fenster zu setzen und darauf zu warten, dass die Leute
kommen. Dann zünden wir alles an und machen, dass wir
fortkommen.«
»Wenn wir Gewehre haben, ändert das ziemlich viel«, sagte Karl.
»Bist du sicher, dass die Männer tot sind?«
»Geh rein und schau nach.«
»Sollen wir nicht schnell die Gewehre holen und dann den Wächter
erledigen?«, fragte Ulrich.
»Machen wir das«, sagte Nordpol. »Dann müssen wir uns um ihn keine
Sorgen machen, wenn die anderen Leute kommen.«
Karl stöhnte auf. »Wer gibt hier die Befehle? Was fällt euch ein?
Der Wächter sitzt in einem Labor, das randvoll mit brennbaren
Stoffen ist. Wenn irgendetwas schiefgeht und das Feuer ausbricht,
bevor die Leute da sind, dann erreichen wir nicht das, was wir uns
vorgenommen haben.«
»Und wenn der Wächter rauskommt?« Nordpol hatte nicht vor, sich von
Karl etwas vorschreiben zu lassen.
»Warum sollte er rauskommen?«
»Zum Beispiel, um zu pinkeln. Darf ich ihn dann erledigen? Sein
Urin wird ja wohl kaum brennbar sein.«
»Nun gut«, sagte Karl. »Gehen wir ins Haus. Wir gehen mit fünf
Minuten Abstand los. Ich gehe zuerst, dann du, Ulrich, und Nordpol
kommt zum Schluss.«
Nordpol konnte sich nicht verkneifen, wie eine Eule zu kreischen,
als Karl loslief.
*****
Frau Nuul wusste, dass sogar Andrus ihre Offensive gegen Professor
Kukk manchmal zu weit ging. Nicht zuletzt nach dessen Tod. Sie
spürte, dass Andrus die tägliche Morgenandacht auf dem Friedhof,
bevor sie zur Arbeit fuhren, nicht ganz ernst nahm. Reelika Nuul
war ein intelligenter Mensch, und aus vielen Erfahrungen konnte sie
darauf schließen, dass andere Menschen sich anders als sie zu
verhalten, zu reden und zu amüsieren schienen. Sie hatte heimlich
einen Termin bei einem bekannten Neurologen gemacht, einem
Immigranten, der ihr im Fernsehen vernünftig erschienen war. Zia
Ghoochannejhad hieß er. In Estland lebten nur wenige Menschen mit
so fremdartigem Namen, und als sie den Doktor persönlich traf,
wurde Frau Nuul nicht enttäuscht. Er war dunkelhäutig, hatte dunkle
Augen, und sich an einen Mann zu wenden, der offensichtlich einer
anderen Rasse angehörte, empfand sie als weniger intim.
Der Arzt und sie saßen sich eine Weile stumm gegenüber. Frau Nuul
unterbrach die Stille: »Zia Ihr Name bedeutet Licht auf Persisch,
nicht wahr?«
»Sprechen Sie Persisch?«, fragte der Arzt und musterte seine
Patientin.
»Nein«, sagte die Frau. »Ich habe dieses Wort nachgeschlagen und
festgestellt, dass es Licht bedeutet. Das halte ich für ein gutes
Zeichen.«
Der Arzt lächelte. »Ja, Zia bedeutet Licht, aber schlimmer ist es
mit dem Nachnamen Ghoochannejhad, der bedeutet nämlich
Stromrechnung.«
Er sah, dass er die Patientin damit überraschte. Sie bezweifelte
seine Aussage nicht. Fand es einfach nur seltsam, dass jemand Licht
Stromrechnung hieß.
»Das war nur ein Scherz«, sagte er. »Verstehen Sie? Erst Licht,
dann kommt die Stromrechnung. Das eine führt zum
anderen.«
Die Frau schien den Witz zu verstehen und stieß ein kurzes,
bellendes Lachen aus, hahaha, das nicht schön klang.
Das Gespräch dauerte fast zwei Stunden. Zia merkte bald, dass die
soziale Kompetenz dieser merkwürdigen Frau zu wünschen übrig ließ.
Die mangelnde Fähigkeit zu zwischenmenschlichen Beziehungen ist das
Hauptmerkmal des Asperger-Syndroms.
Frau Nuul war sehr zufrieden mit der Diagnose des Arztes, sie war
sogar stolz. Für sie war es, als fielen ihr Fesseln ab, als der
Arzt ihr erklärte, dass sie einer Gruppe von Menschen angehörte,
die das sogenannte Asperger-Syndrom haben, was mit dem Autismus
verwandt sei.
Es gäbe keine allgemeingültige Regel, wie man dieses Syndrom
medikamentös behandele. Manche AspergerPatienten nähmen
verschiedene Antidepressiva. Für andere sei es auch nützlich,
Amphetamine in passender Dosierung zu sich zu nehmen.
Frau Nuul, die niemals andere Medikamente als Aspirin gegen
Kopfschmerzen und Antibiotika, die sie vom Arzt verschrieben bekam,
genommen hatte, empfand den Hinweis auf das Amphetamin als Zeichen.
Ohne von ihrer Krankheit mit dem schönen Namen AspergerSyndrom zu
wissen, hatte sie, wenn auch in Kooperation mit anderen, ein ganzes
Labor errichtet, das ein Medikament gegen diese Krankheit
herstellte. Zufall? Nein.
Wissenschaftlich betrachtet war die Wahrscheinlichkeit, dass
jemand, der nicht weiß, dass er an einer bestimmten Krankheit
leidet, sich der Herstellung einer Medizin widmet, die diese
Krankheit heilt, so unvorstellbar klein, dass sie zu
vernachlässigen war. Es war ein Zeichen und kein Zufall.
Sie merkte, wie gut ihr das Amphetamin tat, als sie begann, es
regelmäßig zu nehmen. Vieles, was ihr früher schleierhaft war,
wurde in ihrem Kopf nun kristallklar.
Hahaha!
Laut lachend wandte sie sich vom Grab ab und ging zum
Auto.
Andrus saß am Steuer und Frau Nuul setzte sich auf den Rücksitz.
Ihr fiel sofort auf, dass sie nur zu zweit waren. Vorhin waren sie
zu dritt gewesen.
»Wir sind zu zweit«, sagte sie.
»Ja«, sagte Andrus.
»Und der Junge, dein Neffe, der vorhin bei uns war?«
»Ach, der«, sagte Andrus und fuhr los. »Er hat Nasenbluten
bekommen, sodass ich ihn im Kofferraum untergebracht habe. Es ist
so eklig, wenn Blut auf die Sitze kleckert.«