Neunundzwanzig


Terje schwebte in einem Land zwischen Leben und Tod herum. Manchmal war er bei Bewusststein und sah und hörte den Koloss, der vor ihm stand und unaufhörlich plapperte. Manchmal wurde ihm schwarz vor Augen, das Bewusstsein entschwand und kehrte mit Funkenregen und quälendem Schmerz zurück. Manchmal war der Körper taub und er spürte seine Hände nicht und der Mann, der vor ihm stand, war weit entfernt und hatte nichts mit ihm zu tun.


Zu Beginn hatte er gehofft, dass jemand kommen würde, um ihn zu retten. Oder dass es ein Albtraum sei, aus dem er jeden Augenblick aufwachen werde.


Die Schmerzen in seinen durchbohrten Händen überzeugten ihn davon, dass er sich in der Realität befand. Es ist unmöglich, eine solche Tortur mitzumachen, ohne aufzuwachen.


Es nervte Karl Viktor, wie apathisch und weggetreten sein Gefangener war. Er versuchte den Polizisten mit ein paar Ohrfeigen aufzumuntern.


»Du hörst nicht zu«, sagte er. »Du sollst zuhören, was ich sage. Siehst du das Wappen da über dem Thron?«              


Der Thron war ein alter Sessel, der auf einem niedrigen Holzpodest am anderen Ende des Raumes stand. An der Wand über dem Sessel hing eine gelb gestrichene Platte, die mit dem Bild eines Vogels und dem Runenzeichen 4R geschmückt war. »Weißt du, was das bedeutet? 4R?«, fragte Karl Viktor und zeigte darauf.


»Das Vierte Reich«, nuschelte Terje. »Wenn du mich losmachst, werde ich dir helfen, es zu gründen.«


»Du brauchst mir nicht zu helfen«, sagte Karl Viktor.


»Das Vierte Reich ist die nächste Blütephase des Heiligen Römischen Kaiserreichs und es wird bald kommen. Der Adler, das bin ich, Carol Viktor Maximilian Meinrad de Plantagenet Anjou, Herzog von Staufen-Hohenzollern, Prinz von Habsburg-Siebenbürgen, Kronprinz des Heiligen Römischen Kaiserreichs.«


»So ist das also«, stöhnte Terje. »Ich dachte, Eure Hoheit sei ein Nachkomme Draculas.«


Karl Viktor blickte ihn mit ernstem Ausdruck an: »Das bin ich auch. Aber das ist mütterlicherseits. Weißt du, wer meine Mutter ist?«


»Edda heißt sie? Edda Erdély?«


»Das ist richtig. Weißt du, was Erdély bedeutet?«


Terjes Kopf sank auf seine Brust, weshalb Karl Viktor ihn mit der flachen Hand ohrfeigte.


»Du sollst wach bleiben. Das habe ich schon einmal gesagt.«


»Dann mach mich los. Ich bin so müde.«


Karl Viktor dachte einen Moment lang nach. Schaute sich um und schien abzuwägen, ob er die Nägel aus den Händen des Gefangenen ziehen sollte.


»Das lohnt sich nicht«, sagte er. »Dann muss ich dich nur wieder festmachen. Du musst dich wach halten. Ich habe dich gefragt: Weißt du, was Erdély bedeutet?«


»Weiß nicht«, murmelte Terje undeutlich.


»Erdély ist die ungarische Bezeichnung des Landes, das auf Deutsch Siebenbürgen heißt, das Siebenburgenland, aber die meisten kennen es als Transsylvanien, das Land hinter dem Wald. Meine Mutter heißt mit vollem Namen Fürstin Edda Dszenifer Ottilie del Pilar von Schäßburg-Erdély.
Fürstin ­ das ist eine Prinzessin, verstehst du? Schäßburg ist der deutsche Name einer Stadt, die auf Rumänisch Sighis¸oara heißt. Dort steht das ursprüngliche Schloss Bran. Da ist Vlad Tepes geboren. Er war es, der die Grenzen des Heiligen Römischen Kaiserreichs vor den Muslimen beschützte.«


»Hat er gut gemacht«, flüsterte Terje.


Karl Viktor schwieg und betrachtete ihn. Wollte der Gefangene ihn verspotten? Dann sah er, dass dem Mann wohl kaum nach Lachen zumute war, und fuhr fort: »Meine Mutter versteht nicht, dass es darum geht, das Heilige Römische Kaiserreich vor Angriffen zu schützen. Sie glaubt, es geht alles nur um Rauschgift. Sie versteht die Prophezeiung Mohammeds nicht, die die AlQaida und die Imame wieder aufgerollt haben. Weißt du, von welcher Prophezeiung ich spreche?«


Der Gefangene gab keine Antwort, sodass Karl Viktor ihn erneut ohrfeigen musste.


»Im Jahr 2002 gab Yousef Al-Qaradhawi den bevorstehenden Sieg des Islam bekannt. Der Prophet Mohammed wurde gefragt: Welche Stadt werden wir zuerst erobern, Konstantinopel oder Romiyya? Er antwortete, die Stadt Hirqils wird zuerst fallen. Die Stadt Hirqils ist die Stadt des Heraklius, des Kaisers des Oströmischen Reiches, Konstantinopel, die ein dreiundzwanzig Jahre alter Anführer des Osmanenreichs am 29. Mai 1453 besiegte, er hieß Mehmed und nannte sich anschließend Kayzer-i Rum, römischer Kaiser, aber in der Geschichte wurde er als Mehmed der Siegreiche bekannt.


Die andere Stadt, Romiyya, ist Rom, oder besser gesagt, das heilige Römische Kaiserreich, also Europa. Christen bekehren andere zum Christentum, indem sie die Botschaft der Liebe verbreiten. Mohammedaner werden die Welt dem Islam unterwerfen, aber nicht mit einer Liebesbotschaft, sondern mit
Dschihad ­ das ist ein heiliger Krieg! Verstehst du? Hörst du auch zu, was ich sage?«


»Ja«, ächzte Terje. »Nicht noch mal schlagen. Ich höre, was du sagst. Botschaft der Liebe.
Dschihad. Was hast du über deine Mutter und Rauschgift gesagt?«


»Sie sieht nur die Drogen und versteht den großen Zusammenhang nicht. Jetzt setzen die Mohammedaner andere Methoden im Krieg gegen uns ein. Sie müssen nicht länger mit uns kämpfen, um uns zu besiegen. Weißt du, was sie machen? Sie versorgen uns mit Rauschgift und wir sorgen selbst dafür, uns zu quälen. Hast du das gehört?«


»Ja, Eure Hoheit«, stöhnte Terje und verlor das Bewusstsein.


*****


Als Dagný eine gelbe Flagge mit einem Adler auf einem Siloturm am Ende der Heuwiese wehen sah, traute sie ihren Augen kaum. Das war ein seltsamer Zufall.


Sie befand sich auf dem Weg, der von der Nationalstraße Nummer 1 nach Gunnarsholt führt. Sie hielt den Wagen an, nahm ein Fernglas aus dem Handschuhfach und stieg aus, um die Fahne in Augenschein zu nehmen.


Die Oma väterlicherseits hatte sich bereit erklärt, beim Jungen zu bleiben. Er hatte Schmerzmittel bekommen und schlief.


Als Randver anrief und nach Terje fragte, hatte sie ein schlechtes Gewissen bekommen. Sie hatte sich durch Familienangelegenheiten von der Arbeit abhalten lassen ­ was vielleicht verzeihlich war ­, aber sie hatte damit ihren Kollegen im Stich gelassen und ihn allein ins Ungewisse fahren lassen. Sie hatte ihn zwar gebeten, jemanden mitzunehmen, aber natürlich war Terje ein zu großer Starrkopf, um ihren Rat befolgen zu können. Sie hatte ständig versucht, ihn anzurufen, aber mal war das Telefon außerhalb des Versorgungsbezirks, mal antwortete er nicht.


Schließlich hatte sie versucht, Randver anzurufen, aber als auch er nicht antwortete, war sie unruhig geworden, hatte die Oma des Jungen angerufen und sich, nachdem diese eingetroffen war, auf den Weg gemacht.


Der Hof, über dem die Fahne wehte, schien unbewohnt. Der Anstrich blätterte von den großen Gebäuden ab, oder vielleicht waren sie nie gestrichen gewesen.   

 


Dunkelgraue, finstere Betonhäuser wie eine alte Festung.


Es gab kein Vertun. Die Flagge war gelb und auf ihr prangte ein roter Adler, der die Flügel halb ausbreitete.


Der Reichsadler, hatte Theódór gesagt.


Das ist ein zu seltsamer Zufall, um ein Zufall zu sein, dachte Dagný und beschloss, dem Hof einen Besuch abzustatten.


Sie fand keinen Abzweig, bevor sie Gunnarsholt passiert hatte. Dort sah sie einen Fahrweg, der laut Schild zwar angeblich nach Steinkross führte, aber in genau entgegengesetzter Richtung verlief. Sie fuhr weiter, und schneller, als sie gedacht hatte, kam sie zu einer Abzweigung, die nach rechts führte. Dagný hatte keine besonders gute Orientierung und sprach in der Regel nur von zwei Richtungen, nämlich rechts und links. Dieser Abzweig wies in die richtige Richtung, also bog sie rechts ab und merkte sich den Namen des Hofes, der auf dem Schild stand: Ketilhúshagi. Der Weg führte über eine sandige Hügelkuppe und dann erschienen die Gebäude wieder. Sehr undeutlich sah sie etwas Weißes, das vor einem der Gebäude stand.


Sie hielt an und nahm das Fernglas heraus. Es war das Heck des weißen Toyotas.


Dagný wollte näher heranfahren, überlegte es sich aber anders, warf das Fernglas auf den Beifahrersitz, stieg aus und ging auf die Gebäude zu. Ihr kam gar nicht in den Sinn, dass Terje sich in Schwierigkeiten befinden könnte, aber sie wollte herausfinden, was hier los war, und hielt es daher für unnötig, ihre Ankunft mit Motorgeräuschen anzukündigen. Sie ging an den Gebäuden entlang, bemerkte aber nichts Besonderes. Der Silageturm, auf dem die Fahne wehte, war offenbar leer und seine Tür mit Hängeschlössern versperrt. Sie waren verrostet, sodass ihre Geschicklichkeit im Aufbrechen von Schlössern nicht gefragt war. Als sie zu einem länglichen, niedrigen Gebäude kam, sah sie eine Tür, die halb offen stand. Sie schaute vorsichtig hinein, sah aber niemanden. Obgleich Dagný ein Stadtkind war, vermutete sie, dass es ein Kuhstall hätte werden sollen, auch wenn alle Einrichtungen fehlten und es auch nicht so aussah, als sei er jemals von einem Tier betreten worden. Der Kuhstall war mit einem weiteren Gebäude verbunden, und am gegenüberliegenden Ende entdeckte sie zwei Türen.


Scheune und vielleicht Garage, dachte sie und ging darauf zu, um nachzusehen, ob man die Türen vielleicht öffnen konnte. Als sie sich dem Ende des Kuhstalls näherte, glaubte sie den Klang von Stimmen zu hören. Sie schlich sich zu der Tür, die ihr am nächsten war, und legte das Ohr daran. Doch sie hörte nichts außer ihrem eigenen Atem und dem Herzschlag, der viel schneller als gewöhnlich war. Sie atmete tief ein und schlich zur anderen Tür. Es gab keinen Zweifel. Da drin sprach jemand mit Feuereifer.


Zwischen Rahmen und Tür war ein kleiner Spalt, aber als sie hindurchlugte, war niemand zu sehen, nur ein altmodischer Ledersessel auf irgendeiner Art von Podest und über dem Sessel ein großes Bild, ein roter Adler auf gelbem Grund, amateurhaft gemalt.


Sie legte ihr Ohr an den Spalt und spürte, wie die Tür nachgab. Hielt vor Schreck den Atem an und hoffte inständig, dass niemand das Quietschen der Scharniere gehört haben möge. Es schien tatsächlich so. Der Sprecher fuhr mit seinem Vortrag fort, ohne dass sie die Worte verstehen konnte.


Sie wurde von Panik erfasst. Sie glaubte, ihr Herzschlag müsse zu hören sein, und ihr rascher Atem machte sie verrückt.


Was ist los mit dir, Frau?, sagte sie sich. Du hast überhaupt nichts gesehen. Wovor fürchtest du dich eigentlich? Terje wird dich dauernd aufziehen, wenn er ahnt, dass du Todesangst hattest, weil der Kuhstall so gruselig war.


Sie verfluchte sich auch im Stillen, dass sie so dumm gewesen und überhastet aufs Land gefahren war, nur weil ihr Kollege verbummelt hatte, ans Telefon zu gehen. Und auch dafür, dass sie unbewaffnet war ­ allerdings wäre sie auf der Wache ausgelacht worden, wenn sie gesagt hätte, sie brauche eine Pistole, um nach Terje zu suchen.


Sie drückte vorsichtig die Tür auf, Millimeter um Millimeter, ohne dass auch nur ein Ton zu hören war. Sie behielt den Rahmen im Blick, an dem die Scharniere der Tür befestigt waren. Als sie sah, dass sich eine winzige Ritze zwischen Tür und Rahmen aufgetan hatte, schaute sie hindurch. Am Kopfende des Saals stand ein großer Mann und beugte sich über einen anderen Mann. Der saß zusammengesunken auf eine Bank an der Wand und breitete die Arme aus. Sie erkannte die braune Lederjacke. Das war Terje. Von dem anderen sah sie nur den Rücken und konnte ihn nicht einordnen. Er war es offenbar, der sprach. Nicht laut genug, dass sie die Worte hätte verstehen können. Er bewegte die Hände merkwürdig, und als sie sich besser am Spalt postierte, sah sie, dass er ein Messer in der einen Hand hatte und in der anderen einen langen Stab hielt, an dem er zu schnitzen schien.              


Unterhalten sie sich einfach nur? Warum macht Terje nichts als mucksmäuschenstill mit ausgebreiteten Armen dazusitzen?, dachte sie und hielt abrupt die Luft an, als ihr klar wurde, dass Terje die Arme nicht bewegte, weil seine Hände an die Balken in der Wand hinter ihm genagelt worden waren.


Plötzlich verstand sie, was der Mann mit dem Stab vorhatte, den er schnitzte.


Gelähmt vor Angst hielt sie den Atem an.


Ich muss etwas tun. Sofort. Bevor es zu spät ist. Ich habe nicht genug Zeit, um rauszuschleichen und Unterstützung anzufordern. Das Sondereinsatzkommando bräuchte eine Stunde, um hier zu sein. Die Polizei von Hvolsvöllur könnte eine halbe Stunde brauchen. Ich habe keine halbe Stunde. Ich muss etwas tun. Jetzt. Was kann ich tun? Was?


*****


Wollte die Frau sie provozieren? War es Zufall, dass sie die Formulierung »wohlverdiente Strafe« für diejenigen gewählt hatte, die den Tod ihrer Tochter verursacht hatten? Allerdings konnte man in ihrer Miene keinen Hinweis entdecken, dass sie eine Reaktion von ihnen erwartete.


»Wohlverdiente Strafe«, sagte Randver. »Kennst du eine Website mit dem Namen?«


»Selbstverständlich kenne ich sie«, sagte Edda ruhig.


»Mein Sohn kümmert sich um sie. Ich kann nicht gut mit Computern umgehen.«


»L und T«, sagte Víkingur. »LT. Sagt dir diese Abkürzung etwas?«


Sie blickte ihn erstaunt an, wie ein Lehrer einen ungewöhnlich begriffsstutzigen Schüler anschaut.


»Das wird der internationale Name der Website. Nur Isländer verstehen >wohlverdiente Strafe<. Diese Website betrifft die ganze Welt. LT bedeutet
Lex Talionis. So einfach ist das.«


»Wohlverdiente Strafe«, sagte Víkingur. »
Lex Talionis bedeutet wohlverdiente Strafe.«


Edda nahm einen zufriedenen Ausdruck an.


»Ein Polizist, der Latein kann! Das ist ja ein Ding!«


Randver war stolz auf seinen Freund und konnte sich nicht zurückhalten, leise anzufügen: »Víkingur hat nämlich Theologie studiert.«


»Das freut mich zu hören«, sagte Edda. »Dann solltest du wissen, dass die
Lex Talionis das älteste Gesetz der Welt ist. Es begleitet das Menschengeschlecht seit dem Beginn der Zeit. Es waren die ersten Gesetze, die die Menschen aufschrieben, nachdem die Schriftzeichen erfunden wurden. Anu und Bel haben mich, Hammurabi, den edlen Prinz, der Gott fürchtete, auserwählt, um Gerechtigkeit im Land herzustellen, um die bösen Menschen und Taten auszuräumen, und damit die Starken nicht denjenigen Schaden zufügen, die über weniger verfügen. Dieses Gesetz kommt von Gott, da sind sich alle einig, man findet es in der Tora der Juden, im Alten Testament, im Koran. Das ist das Gesetz, das es jedem, dem Unrecht getan worden ist, gestattet, eine wohlverdiente Strafe zu fordern. Dieses Gesetz ist ins Herz eines jeden Menschen geschrieben. Auge für Auge. Leben für Leben.«


Víkingur schaute die Frau an. Ihre Worte wiesen darauf hin, dass sie seelisch nicht im Gleichgewicht war, ihr Auftreten aber auf das Gegenteil. Sie strahlte die Souveränität desjenigen aus, der sich seiner Sache sehr sicher ist. Es gab keinen Zweifel an ihrer Beteiligung an dem Fall, den sie untersuchten. Dem Fall, den Randver untersuchte. Es war die Frage, ob es vernünftiger war, sie sofort zu verhaften und zum Verhör zu bringen, oder bis morgen zu warten.


Edda selbst nahm ihm diese Entscheidung ab.


»Noch Kaffee?«, fragte sie, stand auf und hob die Kaffeekanne an.


Nein, danke, sie wollten keinen Kaffee mehr. Víkingur warf einen Blick auf Randver und sah, dass der offenbar auch darüber nachdachte, ob sie die Frau verhaften sollten.


Als Edda mit der Kaffeekanne in die Küche ging, flüsterte Randver: »Entweder ist die Frau verrückt oder wir müssen sie verhaften.«


Víkingur nickte und im selben Moment war ein Schuss zu hören und die Zuckerdose auf dem Tisch zwischen ihnen zersprang. Víkingur warf sich auf den Boden und stieß den Tisch um, indem er dessen Beine ergriff.


Randver saß mucksmäuschenstill auf seinem Stuhl und schaute Edda an, die mit einer Pistole in der Hand in der Küchentür stand.


Augenblicklich nahm Randver wahr, dass es sich um die berühmte Pistole Walther PPK handelte, mit acht oder neun Schuss, wahrscheinlich neun, einer im Lauf, acht im Magazin. Edda hielt die Waffe mit beiden Händen und richtete sie abwechselnd auf Randver, der bewegungslos dasaß, und auf die Tischplatte, hinter der Víkingur sich verschanzt hatte.


»Entschuldigt«, sagte sie. »Das war ein Warnschuss, um euch zu zeigen, dass ich mit einer Waffe umgehen kann. Víkingur, du kannst aufstehen. Die Tischplatte ist nicht dick genug, um dich zu schützen. Habt ihr Schusswaffen dabei?«


Randver schüttelte den Kopf und Víkingur stand langsam auf.


»Hände hoch. Ich will sie sehen.«


Sie taten wie geheißen.


»Keine Schusswaffen?«


»Wir laufen nicht mit Waffen herum«, sagte Randver.


»Und Handschellen?«


Randver nickte. Víkingur gab keine Antwort.


»Nimm die Handschellen. Aber langsam.«


Randver griff nach den Handschellen, die hinten an der Hüfte über seinen Gürtel hingen.


»Jetzt befestigst du die Handschellen an deiner linken Hand und an seiner rechten. Und machst fest zu. Ja, so.


Und dann will ich den Schlüssel haben.«


Randver warf ihr ein Lederetui zu.   

 


»Er ist da drin, zusammen mit meinen Autoschlüsseln«, sagte er.


Edda bemühte sich nicht, das Etui vom Boden aufzuheben.


»Also«, sagte sie. »Dann wollen wir uns mal aufmachen. Randi geht vor, dann Víkingur. Aber langsam.«


Sie taten, wie sie es ihnen befahl. Auf dem Platz vor dem Hof zeigte sie auf den Geländewagen. »Du fährst«, sagte sie zu Víkingur.


Der Schlüssel steckte.


Sie machte es sich auf der Rückbank bequem und hielt die Pistole hoch.


»Wohin soll ich fahren?«, fragte Víkingur.


»Weiter runter bis nach Gunnarsholt. Ganz ruhig.


Dann sage ich dir, wie es weitergeht.«


Víkingur fuhr los.


»Ganz ruhig«, wiederholte sie. »Lass dir bloß nicht einfallen, vom Weg abzubiegen oder das Auto in den Graben zu setzen.«


Langsam fuhren sie den steinigen Weg Richtung Gunnarsholt entlang.


»Randver«, sagte Randver plötzlich.


»Ja, was?«, fragte Edda.


»Ich heiße Randver und nicht Randi.«


»Es ist mir völlig gleich, wie du heißt. Du spielst für mich keine Rolle«, sagte Edda. »Wenn ihr am Leben bleiben wollt, macht ihr genau das, was ich euch sage, und dann kommt alles in Ordnung.«


»Glaubst du wirklich, dass du damit durchkommst?


Spätestens Mitternacht wird nach uns gesucht.«


»Dann bin ich bereits im Ausland«, sagte Edda.


»Glaubt ihr, ich habe euch nicht erwartet? Ich bin nur erstaunt, dass ihr so lange gebraucht habt.«


»Vor morgen früh geht kein Flug«, sagte Randver. »Du kommst nirgendwohin. Hör jetzt mit diesem Unfug auf, Mensch. Wir werden diese Sache mit Vernunft lösen.«


»Mach dir keine Sorgen«, sagte Edda. »Diese Sache wird mit aller Vernunft gelöst. Ich habe euch schon lange erwartet. Als ich gesehen habe, dass ihr unterwegs seid, habe ich in Deutschland angerufen. Jetzt ist schon ein Privatjet unterwegs, um mich abzuholen. Wenn ihr freikommt, bin ich weit, weit weg. Hier im Auto ist alles, was ich brauche, der Pass, das Geld. Nach diesen vielen Jahren in Island muss ich nichts weiter mitnehmen als die Trauer.«


*****


Dagný sah, wie der Mann aufhörte zu schnitzen. Er beugte sich vor und sagte etwas zu Terje. Das Sichtfeld durch den Spalt zwischen Rahmen und Tür war begrenzt, sodass sie beschloss, es zu riskieren, ihren Standort zu wechseln, die Tür etwas weiter aufzumachen und direkt in den Raum zu sehen, denn der Mann drehte ihr immer den Rücken zu.


Vorsichtig lugte sie in den Saal. Wie sie vermutet hatte, war niemand außer Terje und seinem Peiniger dort. Fieberhaft zerbrach sie sich den Kopf, was sie tun könnte, aber sie sah nichts, was sie als Waffe hätte verwenden können.


Es war, als spürte der Mann, dass ihn jemand beobachtete, denn plötzlich richtete er sich auf, schaute über seine Schulter und ließ den Blick durch den Saal gleiten.


Als er sich davon überzeugt hatte, dass keine Störung zu erwarten war, wandte er sich wieder Terje zu, beugte sich vor und sagte etwas, das sie nicht verstehen konnte.


Als Dagný es wieder riskierte, durch die Tür zu schauen, traf sie der mit Entsetzen erfüllte Blick Terjes. Für den Bruchteil einer Sekunde schauten sie sich in die Augen.


Mit der ganzen Kraft seiner Verzweiflung trat Terje nach dem Mann, der über ihn gebeugt stand. Der Tritt traf sein Gesicht und er stürzte zu Boden.


»Dagný, erschieß das Schwein. Schieß«, kreischte Terje. Dagný drückte die Tür auf und stürmte in den Saal.


Sie lief zu dem Mann, der sich auf alle viere aufgerappelt hatte und dabei war, aufzustehen, und trat ihm mit aller Kraft an den Kopf. Sie traf schlecht und verlor beinahe das Gleichgewicht, während der Mann auf den Knien war und nach ihr grabschte.


»Da ist ein Taser auf dem Sessel«, schrie Terje. »Da, da.«


Dagný verstand nicht, was er sagte, aber sie lief in Richtung des Sessels. Der Mann kam ihr nach und versuchte, mit dem Stab, an dem er geschnitzt hatte, nach ihr zu schlagen.


Dagný begriff, sobald sie den Taser sah, den Karl Viktor auf seinem Thron hinterlassen hatte. Sie nahm die Elektropistole vom Sitz, drehte sich blitzschnell um und zielte auf den Mann, der ihr auf den Fersen folgte. In dem Moment, als sie schoss, setzte er zum Sprung über den Sessel an und wollte sich auf sie werfen. Sie wich ihm aus, aber der schwere Körper schaffte den Sprung nicht ganz, sondern krachte herunter und landete bäuchlings auf dem Thron.


Jähe Zuckungen durchfuhren Karl Viktor, doch es gelang ihm, sich auf die Seite zu wälzen. Der Stab, der Speer, den er Terje zugedacht hatte, hatte ihn im Sprung behindert, sich in die Lehne des Sessels gebohrt und dann seine Brust durchdrungen. Mit starrem, verwundertem Blick tastete Karl Viktor nach dem Speer. Seine Füße vollführten einen unheimlichen Tanz in der Luft und Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Der Mund öffnete sich in einem lautlosen Schmerzensschrei, während sein Leben verebbte, und die aufgesperrten Augen starrten in die Dunkelheit, die ihn in Empfang nahm.              


Dagný fiel die Elektropistole aus der Hand. Scheppernd schlug sie auf dem Boden auf. Vom anderen Ende des Saals kreischte Terje. »Die Handschellen. Die Handschellen. Mach ihm die Handschellen dran, bevor er aufwacht.«


Sie ging zu ihrem Kollegen, der sie warnen wollte und ihr zurief: »Du musst ihn fesseln. Er ist irre, total wahnsinnig.«


Dagný schüttelte den Kopf. »Er tut niemandem mehr etwas. Ich glaube, er ist tot.«


»Wie hast du das Schwein umgebracht?«, stöhnte Terje.


»Das habe ich nicht. Es war ein Unfall.«


»Bist du sicher, dass er tot ist? Er ist lebensgefährlich.«


»Er ist sicher tot. Er landete auf dem spitzen Stab, als er mich anspringen wollte.«


»Du musst etwas finden, um mich loszumachen. Ich bin kurz davor, kaputtzugehen.«


Dagný schaute die Hände an, die mit großen Nägeln an die Wand genagelt worden waren. Auch wenn sie Werkzeug gehabt hätte, um die Nägel herauszuziehen, hätte sie sich geweigert.


»Ich habe nichts, um dich damit loszumachen.«


»Dann telefonier um Hilfe, schnell«, sagte Terje.


»Da muss ich rausgehen. Ich habe mein Telefon im Auto vergessen.«


»Frauen«, sagte Terje und stöhnte.


»Sagt wer?«, fragte Dagný. »Ich lasse mich immerhin nicht von irgendwelchen Volldeppen kreuzigen.«


»Sorry.«


»Tut es sehr weh?«


»Nur wenn ich lache«, sagte Terje. »Willst du jetzt rausgehen und das Telefon holen, oder sollen wir uns einfach weiter gemütlich unterhalten?«


»Entschuldige«, sagte Dagný. »Lass dir bloß nichts zustoßen in der Zeit.« Sie eilte durch den Kuhstall nach draußen an die frische Luft. Als sie um die Ecke des Gebäudes kam, sah sie einen grauen Geländewagen näher kommen. Gott sei Dank kommt jemand, dachte sie. Dann wurde ihr bewusst, dass der Mann, der Terje gefangen genommen hatte, wahrscheinlich auch Komplizen hatte. Sie ging in Deckung und beobachtete den Geländewagen, wie er auf den Vorplatz fuhr. Beinahe hätte sie einen Freudenschrei ausgestoßen, als sie Víkingur auf der Fahrerseite aussteigen sah, wunderte sich dann aber, dass kurz darauf Randver erschien und auf derselben Seite des Autos ausstieg. Sie blieben, scheinbar Hand in Hand, stehen.


Dann öffnete sich die Beifahrertür und es erschien eine große ältere Frau, die den Männern mit der Faust zu drohen schien. Dagnýs Herz machte einen Sprung, als ihr klar wurde, dass die Frau sie mit einer Pistole bedrohte. Die Mutter der Bestie?


Dagný versuchte, klar zu denken ­ aber sie bekam ihre Gedanken nicht in den Griff. Das Herz schlug wild in ihrer Brust. Die Lebensgefahr, von der sie gedacht hatte, ihr entgangen zu sein, war zurückgekehrt. Sie sprintete los und rannte so schnell sie konnte durch den Kuhstall.


Terje sah erstaunt auf, als Dagný durch die Tür geschossen kam und sie hinter sich zumachte. Sie schaute ihn an und legte ihren Zeigefinger an die Lippen: »Psst.«


Sie sah sich um. Der Taser war ohne Munition wertlos.


Sie traute sich nicht, den Speer aus dem Leib des toten Mannes zu ziehen, und außerdem war er gegen eine Pistole keine beeindruckende Waffe. Hinten aus dem Kuhstall hörte sie Menschen näher kommen.


Eine Frauenstimme rief: »Karl Viktor! Karl Viktor!«


S-c-h-e-i-i-i-i-ße! Dagný hätte sich am liebsten auf den Boden gelegt und geheult.


*****


Als Edda fragte, ob sie das Auto von Dagný kannten, verneinten beide. Durch das Fenster sah Edda, dass eine Damentasche auf dem Beifahrersitz lag. Sie griff nach dem Türgriff und wollte die Tür öffnen, um in die Tasche zu schauen. Die Tür war verschlossen. Sie zog in Betracht, die Scheibe einzuschlagen, ließ es dann aber doch bleiben.


Sie trat dicht hinter die beiden Männer, legte den linken Arm um Víkingurs Taille und drückte die Pistole mit der rechten Hand in Randvers Rücken.


»Wenn du mich auch nur zu berühren versuchst, erschieße ich deinen Kollegen«, sagte sie zu Víkingur. »Erst ihn, dann dich. Jetzt vorwärts. Da hinein.«


Randver spürte die Pistole in seinem Rücken. Er hoffte, dass niemand stolperte. Die Frau machte sich anscheinend Sorgen, dass jemand irgendwo mit einer Schusswaffe auf der Lauer läge. Deswegen klebte sie förmlich an ihnen, damit man keineswegs auf sie schießen konnte, ohne das Leben der beiden anderen zu gefährden.


Als sie in das Gebäude eingetreten waren, erschraken sie beide, als die Frau plötzlich zu rufen begann: »Karl Viktor! Karl Viktor!«


Keine Antwort.


»Stopp«, flüsterte sie.


Sie hielten inne und lauschten. Grabesstille.


»Los.«


Das Grüppchen schritt langsam auf eine der beiden Türen am Ende des Raumes zu. »Wir treten alle gemeinsam ein«, flüsterte sie. »Jetzt.«


Víkingur und Randver quetschten sich gleichzeitig durch die Tür und Edda folgte ihnen dichtauf, ohne den Griff um Víkingurs Taille zu lockern.


Sobald Edda durch die Tür getreten war, ließ Dagný sich auf ihre Schultern fallen. Sie griff mit der einen Hand nach Eddas Haar, zerkratzte mit der anderen ihr Gesicht und hoffte, dass sie die Augen erwischte.


Ein Schuss knallte.


Edda schüttelte Dagný ab, die ungünstig fiel. Sie konnte sich nicht mit ihren Händen schützen, sodass sie auf dem Gesicht landete und spürte, wie die Zähne in ihrem Mund brachen. Im gleichen Moment fiel Randver zu Boden. Die Handschellen rissen an Víkingurs Hand, sodass er das Gleichgewicht verlor und ebenfalls stürzte.   

 


Edda rieb sich die Augen und versuchte, das Blut abzuwischen, das ihr die Sicht vernebelte, während im selben Moment Víkingur mit großer Kraft gegen ihr linkes Knie trat, sodass sie hintenüber stürzte und mit dem Kopf gegen die Tür knallte.


Dagný hielt beide Hände vor den Mund, der mit Blut gefüllt war, und traute sich nicht, die Zunge zu bewegen, vor Angst, zu spüren, dass die Schneidezähne abgebrochen waren.


»Dagný!«


Es war Terje, der schrie.


»Dagný. Nimm die Pistole.«


Durch einen roten Nebel sah Dagný, dass die Frau, deren Kopf an der Tür ruhte, sich aufstützte und verwirrt um sich blickte. Dann war es, als würde ihr klar, dass sie irgendetwas in der Hand hielt. Es war eine kleine Pistole mit einem kurzen Lauf und sie hob den Arm.


Bevor die Frau die Pistole hochgehoben hatte, war es Dagný gelungen, zu ihr zu rennen und gegen ihren Arm zu treten. Die Pistole wurde an die Wand geschleudert und fiel mit metallischem Klang zu Boden. Die Frau stöhnte.


Dagný hob die Pistole auf, richtete sie auf die Frau und sah, dass sie wahrscheinlich nicht aufstehen würde. Ihr linkes Bein war gebrochen oder ausgerenkt. Der Unterschenkel bildete fast einen Neunzig-Grad-Winkel zum Oberschenkel, wie das Bein einer Puppe.


Jetzt rief Víkingur: »Dagný, Dagný. Hast du dein Telefon? Sie hat uns die Telefone abgenommen. Sie sind im Geländewagen.«


Víkingur saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden und hielt Randver im Arm. Er war kreidebleich, aber bei Bewusstsein. Sie sah, dass auf dem Boden eine Blutlache entstand.


»Ich laufe schnell zum Auto«, sagte sie, hielt aber an und drehte sich um, als sie zur Tür gekommen war. Sie legte die Pistole neben Víkingur hin.


»Sag ihnen, sie sollen einen Arzt von Hvolsvöllur aus schicken und einen Helikopter von Reykjavík und eine Zange oder irgendetwas, um Terje loszumachen, ja, und die Handschellen. Wir hängen wohl aneinander, lieber Randver.«


»Unzertrennlich«, flüsterte Randver mühsam und begann dann zu husten, als hätte er sich verschluckt.


Dagný zögerte nicht länger. Lieber Gott, mach, dass ich hier eine GSM-Verbindung habe, mach bitte, bitte, ich bitte dich, dachte sie und begann vor Erleichterung und Anspannung zu weinen, als sie hörte, wie jemand sagte: »Notruf 112, guten Abend.«


Als sie antworten wollte, fiel es ihr schwer zu sprechen. Sie blutete aus dem Mund und den Lippen. »Ich heiße Dagný Axelsdóttir und bin eine Polizistin aus Reykjavík. Ich befinde mich in Ketilhúshagi in Rangárvellir. Ich bin verletzt, nicht betrunken, deswegen rede ich so undeutlich.«


Als das Telefongespräch beendet war, versuchte sie, sich Blut und Tränen abzuwischen. Sie lehnte sich ans Auto. Es herrschte absolute Windstille und nie zuvor hatte sie bemerkt, wie schön die Welt an einem Sommerabend, in Zauberlicht und Unschuld gebadet, sein kann.


Sie fürchtete sich davor, wieder nach drinnen in die Schreckenswelt zurückzukehren, die sie gerade erst verlassen hatte. Zufällig sah sie ihr Gesicht im Rückspiegel des Autos und zwang sich, näher zu treten und dieses blutige Antlitz mit den ängstlichen Augen anzusehen.


Es hätte schlimmer sein können, schien ihr. Drei Schneidezähne waren abgebrochen. Nur einer davon schien lose zu sein. Die Oberlippe war stark geschwollen und ihre Nase, Stirn und Wangen waren zerschrammt.


Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, nicht, weil es sie schmerzte, wie sie aussah, sondern aus unbändiger Freude über das Leben in ihrer Brust.


Die Hilfe muss in etwa zehn Minuten eintreffen, höchstens einer Viertelstunde. Am liebsten würde ich hier draußen warten. Ich kann mich da drin sowieso nicht nützlich machen, dachte sie, als sie sich anschickte, ins Gebäude zurückzukehren, in dem sich der Tod aufhielt.


*****


»Hilfe ist unterwegs«, sagte Dagný, sobald sie wieder in den Saal eintrat.


Niemand schaute auf. Niemand freute sich über diese gute Nachricht. Terje schien dem Schlaf näher als dem Wachsein.


Die Frau vergrub ihr Gesicht in den Händen.


Víkingur saß noch an derselben Stelle mit seinem Freund im Arm. Die Blutlache an seiner Seite war das Einzige, was sich bewegte. Die Augen Randvers waren geschlossen und der glückliche Ausdruck auf seinem Gesicht gab zu erkennen, dass sein Schlaf tief und gut war.


Víkingur blickte auf und schaute Dagný an. Tränen liefen seine Wangen herab.


»Zu spät«, sagte er. »Zu spät.«