Er lachte. Es war einmalig, wie dieser Mann lachen
konnte.
»Nur, wenn ich lache«, hatte er gesagt, als ein Geisteskranker ihn
an eine Wand genagelt hatte. Damals war ihnen beiden nicht nach
Lachen zumute gewesen, aber dennoch hatte er sich bemüht, einen
alten Witz hervorzukramen, um sie aufzumuntern und ihr Mut zu
machen.
»Ich sehe wie eine Mumie aus«, sagte Terje und hob die Hände. »Eine
junge, sexy Mumie. Wo wir gerade vom Aussehen sprechen, ich bin mir
gar nicht sicher, ob du dir deine Zähne reparieren lassen solltest.
Ich habe Bilder von Kannibalen gesehen, die sich die Zähne
schleifen lassen, um einen Mund wie den deinen zu bekommen.«
Dann lachte er laut, als wäre alles unwirklich gewesen. »Ich
verstehe nicht, wie du das so auf die leichte Schulter nehmen
kannst«, sagte Dagný.
»Wer sagt denn, dass ich es auf die leichte Schulter
nehme?«
»Du kannst doch sogar lachen.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich keine Fehler habe«, sagte Terje.
»Wärst du so lieb, mir das Saftglas mit dem Strohhalm zu reichen?
Wir Mumien sind wahnsinnig unselbstständig.«
Nach einem Tag und einer Nacht entließ sich Terje selbst aus dem
Krankenhaus und ging zur Arbeit.
»Mir ist egal, was alle sagen, ich möchte das Verhör dieser Frau
auf keinen Fall verpassen«, sagte er. Und dabei blieb
es.
*****
»Es ist egal, was ihr mit mir macht«, sagte Edda. »Ihr könnt die
Idee nicht töten. Mein Gerichtsverfahren wird viel Interesse
wecken, nicht nur hier, sondern auf der ganzen Welt. Überall gibt
es Menschen, die Kummer haben wegen des Rauschgiftkonsums ihrer
Kinder, Verwandten oder Freunde. Mich könnt ihr einsperren. Aber
Ideen kann man nicht ins Gefängnis werfen.«
Nach und nach stellte sich heraus, dass die Idee der Wohlverdienten
Strafe, Lex
Talionis,
entstanden war, als Karl Viktor und Magnús gemeinsam überlegten,
wie man Bryndís, die Schwester von Karl Viktor, rächen
könne.
Zuerst kam für sie nichts anderes infrage, als Elli vom Octopussy
und all diejenigen, die ihr das Rauschgift verschafft hatten, zu
töten.
Die Informationen zu bekommen, die sie brauchten, war nicht schwer
indem sie nach Holland fuhren und mit Leuten sprachen, die Island
hatten verlassen müssen, als Elli expandierte. Zu Beginn waren die
Männer nicht sehr redselig, aber wenn man sich nur Mühe gibt, kann
man jeden dazu bringen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der eine
Dealer, den Elli von Island verdrängt hatte, war sogar so
begeistert von der Idee, das Labor in Estland zu zerstören, dass er
darum bat, bei der Operation mitmachen zu dürfen. Was natürlich
willkommen war.
Das Vorgehen hier zu Hause war kinderleicht. Das Einzige, was sie
überraschte, war, dass Elli versuchte, sich sein Leben zu erkaufen,
indem er seinen Vorgesetzten verriet. Allerdings machten ihnen die
anderen einen Strich durch die Rechnung, indem sie Magnús
erwischten.
Edda berichtete, dass es ohne Magnús viel schwerer war, mit Karl
Viktor zurechtzukommen; dass er sich in den Spekulationen um seine
historische Rolle als Beschützer Europas gegen die Invasion der
Muslime verloren habe. »Ich konnte ihn nicht mehr dazu bringen, die
Website weiterzuentwickeln«, sagte sie, »aber das macht nichts. Der
Prozess, den ihr gegen mich führen wollt, wird so viel
Aufmerksamkeit erregen, dass mich jetzt andere ablösen
werden.
Die Idee ist diese: Im Internet gibt es eine Website, die
Wohlverdiente Strafe oder Lex Talionis
heißt. Dorthin können
sich alle wenden, die um Gerechtigkeit betrogen wurden. Sie stellen
dort den Sachverhalt dar und veröffentlichen den Namen desjenigen,
der ihnen Unrecht getan hat. Zum Beispiel kann eine Frau, die
vergewaltigt wurde, dieses Verbrechen dort anzeigen. Ein
Freiwilliger, der weder mit der Frau noch ihrem Vergewaltiger in
Zusammenhang steht, wird dann die wohlverdiente Strafe
vollstrecken.
So wird die Website Lex Talionis
das höchste Gericht
der Erde und die Knute der Vergeltung derjenigen, die über eure
schwächlichen Versuche, Gesetze und Regeln durchzusetzen, nur
lachen.«
»Das ist ja alles gut und schön«, sagte Terje. »Jetzt möchte ich
dich bitten, uns zu sagen, warum Auður Sörensen umgebracht worden
ist.«
Edda betrachtete Terje mit Gleichmut.
»Ich habe natürlich keine Ahnung, wer Auður Sörensen umgebracht
hat. Wenn ich raten soll, würde ich sagen, die wahrscheinlichste
Erklärung ist die, dass sie getötet worden ist, weil sie die
Haupteigentümerin des Amphetaminlabors in Estland war. Ich würde
vermuten, sie wurde getötet, weil die Polizei in Island so
unbeholfen ist, dass sie die offenbaren Fakten nicht erkannt hat,
nämlich dass Elías vom Octopussy so dämlich war, dass er im Ausland
nicht einmal einen Hotdog-Stand hätte betreiben können, und schon
gar nicht eine Rauschgiftproduktion. Ich würde vermuten, dass Elli
ein Strohmann dieser intelligenten, aber unmoralischen Person war.
Er ging das Risiko ein und wurde gut dafür bezahlt. Sie besaß die
Firma und kassierte den Gewinn.«
»Hat Elli dir das im Sommerhaus gesagt?«, fragte Terje.
»Ich bin mit ihm in keinem Sommerhaus gewesen.
Was ich gesagt habe, war nur meine Vermutung. Ich habe niemanden
umgebracht.«
»Ist Randver etwa wieder lebendig? Ich habe gesehen, wie du ihn
erschossen hast.«
»Das war keine Absicht«, sagte Edda bedacht. »Unfälle können immer
vorkommen. Der Schuss löste sich aus der Pistole, als das Mädchen,
das neben dir sitzt, mich zuerst angriff. Ich wollte dem Mann
keinen Schaden zufügen.«
»Was meinst du, wer dir das glaubt?«
»Ich mache mir darüber keine Gedanken, ob mir jemand etwas glaubt
oder nicht. Ich weiß, dass die Wahrheit normalerweise so
unglaublich ist, dass die Menschen lieber die Lüge glauben. Ich
könnte euch eine wahre Geschichte erzählen, die so unwahrscheinlich
ist, dass ihr sie nicht glauben würdet. Was keine Rolle spielt. Die
Geschichte ist gleich wahr, ob sie jemand glaubt oder nicht.«
»Welche Geschichte ist das?«
»Meine Pistole heißt Walther PPK, 7,65 Millimeter Kaliber,
hergestellt von Carl Walther GmbH Sportwaffen in Deutschland im
Jahr 1931. PPK ist eine Abkürzung für Polizeipistole
Kriminalmodell. Alle Beamten der Nationalsozialisten von Hitler
abwärts trugen Pistolen dieser Art. Am 30. April 1945 beging Adolf
Hitler mit dieser Pistole Selbstmord, als das russische Militär nur
noch etwa fünfhundert Meter bis zum Führerbunker
brauchte wie sagt
man das auf Isländisch?«
»Unterirdischer Schutzraum des Anführers, erzähl unbedingt weiter«,
sagte Terje spöttisch.
»Martin Bormann gab meinem Schwiegervater diese Waffe zum Dank
dafür, dass er ihm half, nach dem Krieg aus dem Land zu
fliehen.«
»Wer war dein Schwiegervater?«
»Er lebt immer noch und heißt Rudolph Joseph Maximilian Friedrich
Leopold de Plantagenet Anjou, Herzog von Staufen-Hohenzollern,
Prinz von Habsburg, de jure das heißt per Gesetz Josef II.,
Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.«
»Erwartest du, dass dir das jemand glaubt?«, fragte Terje. »Es
spielt keine Rolle, ob mir jemand glaubt oder nicht«, sagte Edda.
»Es ist einfach zu beweisen. Rudi, wie mein Schwiegervater genannt
wird, war gemeinsam mit Otto Skorzeny einer der Initiatoren der
>Spinne<, die etlichen hochrangigen Deutschen nach dem Krieg
aus dem Land half. Ein anderer Name für >Die Spinne<, den
mehr Menschen kennen dürften, ist O. D. E. S. S. A. oder
Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen. Rudi ist inzwischen
achtundachtzig Jahre alt und lebt in Göppingen. Er war Adjutant bei
Otto Skorzeny und hat Hitler oft getroffen. Er ist kein Nazi, aber
er glaubt daran, dass es die historische Aufgabe der Hohenstaufen
ist, ein vereinigtes europäisches Reich zu lenken, das Vierte
Reich. Sein einziger Sohn, mein Mann August, hatte daran kein
Interesse. Um der Fuchtel dieses strengen Vaters zu entkommen,
beschlossen August und ich, nach Island auszuwandern und unser
Leben in der unverdorbenen Natur zu verbringen, mit den Pferden,
die Reittiere der Götter sind.
Das ist vielleicht schon eine unglaubliche Geschichte, aber ich
selbst finde das, was danach kommen sollte, noch viel
unglaublicher. Mein Mann brach sich die Hüfte, als er versuchte,
ein wildes Pferd einzureiten. Viele Monate war er ans Bett
gefesselt und bekam starke Medikamente gegen seine Schmerzen und
Beschwerden. Danach konnte er nicht mehr ohne Tabletten leben. Er,
der seinem Vater und dessen irrsinnigen Großmachtphantasien
entkommen war und die Freiheit gefunden hatte, war unfreier als je
zuvor geworden. Den Medikamenten konnte er nicht entfliehen und
deswegen nahm er sich das Leben, weil er nicht weiter in dieser
Knechtschaft leben wollte.
Wir haben zwei Kinder bekommen, Bryndís und Karl Viktor, schöne,
liebe, ganz normale isländische Kinder, die ganz nah an der Natur
aufwuchsen. Dann mussten sie beide den Hof verlassen, um auf die
weiterführende Schule zu gehen. Wie allen Jugendlichen wurde ihnen
die Frage gestellt, ob sie Drogen probieren wollten. Beide hatten
ein gutes Selbstvertrauen und dachten, ihnen drohe keine Gefahr.
Karl Viktor entschwebte in irgendeine Parallelwirklichkeit und kam
nie wieder daraus zurück.
Bryndís starb diesen Winter. Sie wurde sechsundzwanzig Jahre
alt.
Diese Geschichte finde ich viel unglaublicher als die erste. Beide
sind sie gleich wahr. Ihr glaubt das, was ich sage, vielleicht
nicht, andererseits seid ihr aber bereit, etwas zu glauben, was
tausendmal unglaublicher ist als alles, was ich erzählen
kann.«
»Was könnte unglaublicher sein als das?«, fragte Terje.
»Zum Beispiel, dass ältere Herren in schwarzen Umhängen sich darum
kümmern, dass Menschen Gerechtigkeit erfahren.«
»Wenn du Richter meinst, dann wirst du sehen, dass sie blaue Roben
tragen«, sagte Terje.
Edda fuhr fort: »Ihr lebt in einer Illusion. Ihr lebt mit dem
Unrecht, glaubt aber an die Gerechtigkeit. Ihr glaubt an
Gleichberechtigung und lasst dennoch andere eure Existenz lenken.
Es toben Kriege überall um euch herum und ihr glaubt an Frieden.
Ihr schlaft, obwohl ihr träumt, dass ihr wach seid. Ich wollte, ich
hätte weiterschlafen dürfen wie ihr, aber es war mir nicht
vergönnt.
Grausamkeit und Unrecht haben mich geweckt. Jetzt bin ich erwacht
und sehe, dass es nur eine Wahrheit gibt, und die lautet so: Auge
für Auge. Leben für Leben.«
»Les Talionis«, sagte Terje.
»Lex
Talionis«,
sagte die Frau mit Nachdruck. »Ich gestehe, dass mir nicht ganz
klar wird, was du meinst«, sagte Terje, »aber einer Sache bin ich
mir hundertprozentig sicher. Ob die Welt vollkommen ist oder nicht,
du bringst bis auf weiteres keinen Menschen mehr um, auch wenn du
eine Prinzessin bist, dein Opa Kaiser und Dracula dein
Schwiegervater.«
Terje stand auf und hob seine verbundenen Hände.
»Schau dir meine Hände an. Sie sind im Moment nicht gerade
ansehnlich, aber dennoch sind es diese Hände und die Hände von
Randver und die Hände unserer Kollegen und die Hände normaler
Menschen, die mit matter Kraft unsere Gesellschaft zusammenhalten,
um zu verhindern, dass solche Bestien wie du und dein Sohn hier ihr
Unwesen treiben können.«
Terje hielt inne und schaute Dagný zaghaft an. Setzte sich dann
wieder. Der Verband wies Blutflecken an den Handflächen
auf.
Stigmata,
dachte Dagný. Ein Zeichen der Gerechtigkeit? Und kicherte
unwillkürlich bei dem Gedanken.
Terje sah sie perplex an. Er war es nicht gewohnt, Dagný aus dem
Nichts heraus plötzlich auflachen zu hören.
»Ich habe nichts mehr zu sagen. Die einzige Zeugenaussage, die ich
unterschreiben werde, ist folgende …«,sagte Edda.
»Auge für Auge. Leben für Leben«, sagte Terje. »Wie fandest du es, wenn ich dich da an der Wand festnageln würde?«