Dreißig


Er lachte. Es war einmalig, wie dieser Mann lachen konnte.


»Nur, wenn ich lache«, hatte er gesagt, als ein Geisteskranker ihn an eine Wand genagelt hatte. Damals war ihnen beiden nicht nach Lachen zumute gewesen, aber dennoch hatte er sich bemüht, einen alten Witz hervorzukramen, um sie aufzumuntern und ihr Mut zu machen.


»Ich sehe wie eine Mumie aus«, sagte Terje und hob die Hände. »Eine junge, sexy Mumie. Wo wir gerade vom Aussehen sprechen, ich bin mir gar nicht sicher, ob du dir deine Zähne reparieren lassen solltest. Ich habe Bilder von Kannibalen gesehen, die sich die Zähne schleifen lassen, um einen Mund wie den deinen zu bekommen.«              


Dann lachte er laut, als wäre alles unwirklich gewesen. »Ich verstehe nicht, wie du das so auf die leichte Schulter nehmen kannst«, sagte Dagný.


»Wer sagt denn, dass ich es auf die leichte Schulter nehme?«


»Du kannst doch sogar lachen.«


»Ich habe nie gesagt, dass ich keine Fehler habe«, sagte Terje. »Wärst du so lieb, mir das Saftglas mit dem Strohhalm zu reichen? Wir Mumien sind wahnsinnig unselbstständig.«


Nach einem Tag und einer Nacht entließ sich Terje selbst aus dem Krankenhaus und ging zur Arbeit.


»Mir ist egal, was alle sagen, ich möchte das Verhör dieser Frau auf keinen Fall verpassen«, sagte er. Und dabei blieb es.


*****


»Es ist egal, was ihr mit mir macht«, sagte Edda. »Ihr könnt die Idee nicht töten. Mein Gerichtsverfahren wird viel Interesse wecken, nicht nur hier, sondern auf der ganzen Welt. Überall gibt es Menschen, die Kummer haben wegen des Rauschgiftkonsums ihrer Kinder, Verwandten oder Freunde. Mich könnt ihr einsperren. Aber Ideen kann man nicht ins Gefängnis werfen.«


Nach und nach stellte sich heraus, dass die Idee der Wohlverdienten Strafe,
Lex Talionis, entstanden war, als Karl Viktor und Magnús gemeinsam überlegten, wie man Bryndís, die Schwester von Karl Viktor, rächen könne.


Zuerst kam für sie nichts anderes infrage, als Elli vom Octopussy und all diejenigen, die ihr das Rauschgift verschafft hatten, zu töten.


Die Informationen zu bekommen, die sie brauchten, war nicht schwer ­ indem sie nach Holland fuhren und mit Leuten sprachen, die Island hatten verlassen müssen, als Elli expandierte. Zu Beginn waren die Männer nicht sehr redselig, aber wenn man sich nur Mühe gibt, kann man jeden dazu bringen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Der eine Dealer, den Elli von Island verdrängt hatte, war sogar so begeistert von der Idee, das Labor in Estland zu zerstören, dass er darum bat, bei der Operation mitmachen zu dürfen. Was natürlich willkommen war.


Das Vorgehen hier zu Hause war kinderleicht. Das Einzige, was sie überraschte, war, dass Elli versuchte, sich sein Leben zu erkaufen, indem er seinen Vorgesetzten verriet. Allerdings machten ihnen die anderen einen Strich durch die Rechnung, indem sie Magnús erwischten.


Edda berichtete, dass es ohne Magnús viel schwerer war, mit Karl Viktor zurechtzukommen; dass er sich in den Spekulationen um seine historische Rolle als Beschützer Europas gegen die Invasion der Muslime verloren habe. »Ich konnte ihn nicht mehr dazu bringen, die Website weiterzuentwickeln«, sagte sie, »aber das macht nichts. Der Prozess, den ihr gegen mich führen wollt, wird so viel Aufmerksamkeit erregen, dass mich jetzt andere ablösen werden.


Die Idee ist diese: Im Internet gibt es eine Website, die Wohlverdiente Strafe oder
Lex Talionis heißt. Dorthin können sich alle wenden, die um Gerechtigkeit betrogen wurden. Sie stellen dort den Sachverhalt dar und veröffentlichen den Namen desjenigen, der ihnen Unrecht getan hat. Zum Beispiel kann eine Frau, die vergewaltigt wurde, dieses Verbrechen dort anzeigen. Ein Freiwilliger, der weder mit der Frau noch ihrem Vergewaltiger in Zusammenhang steht, wird dann die wohlverdiente Strafe vollstrecken.


So wird die Website
Lex Talionis das höchste Gericht der Erde und die Knute der Vergeltung derjenigen, die über eure schwächlichen Versuche, Gesetze und Regeln durchzusetzen, nur lachen.«


»Das ist ja alles gut und schön«, sagte Terje. »Jetzt möchte ich dich bitten, uns zu sagen, warum Auður Sörensen umgebracht worden ist.«


Edda betrachtete Terje mit Gleichmut.


»Ich habe natürlich keine Ahnung, wer Auður Sörensen umgebracht hat. Wenn ich raten soll, würde ich sagen, die wahrscheinlichste Erklärung ist die, dass sie getötet worden ist, weil sie die Haupteigentümerin des Amphetaminlabors in Estland war. Ich würde vermuten, sie wurde getötet, weil die Polizei in Island so unbeholfen ist, dass sie die offenbaren Fakten nicht erkannt hat, nämlich dass Elías vom Octopussy so dämlich war, dass er im Ausland nicht einmal einen Hotdog-Stand hätte betreiben können, und schon gar nicht eine Rauschgiftproduktion. Ich würde vermuten, dass Elli ein Strohmann dieser intelligenten, aber unmoralischen Person war. Er ging das Risiko ein und wurde gut dafür bezahlt. Sie besaß die Firma und kassierte den Gewinn.«


»Hat Elli dir das im Sommerhaus gesagt?«, fragte Terje.


»Ich bin mit ihm in keinem Sommerhaus gewesen.


Was ich gesagt habe, war nur meine Vermutung. Ich habe niemanden umgebracht.«


»Ist Randver etwa wieder lebendig? Ich habe gesehen, wie du ihn erschossen hast.«


»Das war keine Absicht«, sagte Edda bedacht. »Unfälle können immer vorkommen. Der Schuss löste sich aus der Pistole, als das Mädchen, das neben dir sitzt, mich zuerst angriff. Ich wollte dem Mann keinen Schaden zufügen.«


»Was meinst du, wer dir das glaubt?«


»Ich mache mir darüber keine Gedanken, ob mir jemand etwas glaubt oder nicht. Ich weiß, dass die Wahrheit normalerweise so unglaublich ist, dass die Menschen lieber die Lüge glauben. Ich könnte euch eine wahre Geschichte erzählen, die so unwahrscheinlich ist, dass ihr sie nicht glauben würdet. Was keine Rolle spielt. Die Geschichte ist gleich wahr, ob sie jemand glaubt oder nicht.«   

 


»Welche Geschichte ist das?«


»Meine Pistole heißt Walther PPK, 7,65 Millimeter Kaliber, hergestellt von Carl Walther GmbH Sportwaffen in Deutschland im Jahr 1931. PPK ist eine Abkürzung für Polizeipistole Kriminalmodell. Alle Beamten der Nationalsozialisten von Hitler abwärts trugen Pistolen dieser Art. Am 30. April 1945 beging Adolf Hitler mit dieser Pistole Selbstmord, als das russische Militär nur noch etwa fünfhundert Meter bis zum
Führerbunker brauchte ­ wie sagt man das auf Isländisch?«


»Unterirdischer Schutzraum des Anführers, erzähl unbedingt weiter«, sagte Terje spöttisch.


»Martin Bormann gab meinem Schwiegervater diese Waffe zum Dank dafür, dass er ihm half, nach dem Krieg aus dem Land zu fliehen.«


»Wer war dein Schwiegervater?«


»Er lebt immer noch und heißt Rudolph Joseph Maximilian Friedrich Leopold de Plantagenet Anjou, Herzog von Staufen-Hohenzollern, Prinz von Habsburg, de jure ­ das heißt per Gesetz ­ Josef II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.«


»Erwartest du, dass dir das jemand glaubt?«, fragte Terje. »Es spielt keine Rolle, ob mir jemand glaubt oder nicht«, sagte Edda. »Es ist einfach zu beweisen. Rudi, wie mein Schwiegervater genannt wird, war gemeinsam mit Otto Skorzeny einer der Initiatoren der >Spinne<, die etlichen hochrangigen Deutschen nach dem Krieg aus dem Land half. Ein anderer Name für >Die Spinne<, den mehr Menschen kennen dürften, ist O. D. E. S. S. A. oder Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen. Rudi ist inzwischen achtundachtzig Jahre alt und lebt in Göppingen. Er war Adjutant bei Otto Skorzeny und hat Hitler oft getroffen. Er ist kein Nazi, aber er glaubt daran, dass es die historische Aufgabe der Hohenstaufen ist, ein vereinigtes europäisches Reich zu lenken, das Vierte Reich. Sein einziger Sohn, mein Mann August, hatte daran kein Interesse. Um der Fuchtel dieses strengen Vaters zu entkommen, beschlossen August und ich, nach Island auszuwandern und unser Leben in der unverdorbenen Natur zu verbringen, mit den Pferden, die Reittiere der Götter sind.


Das ist vielleicht schon eine unglaubliche Geschichte, aber ich selbst finde das, was danach kommen sollte, noch viel unglaublicher. Mein Mann brach sich die Hüfte, als er versuchte, ein wildes Pferd einzureiten. Viele Monate war er ans Bett gefesselt und bekam starke Medikamente gegen seine Schmerzen und Beschwerden. Danach konnte er nicht mehr ohne Tabletten leben. Er, der seinem Vater und dessen irrsinnigen Großmachtphantasien entkommen war und die Freiheit gefunden hatte, war unfreier als je zuvor geworden. Den Medikamenten konnte er nicht entfliehen und deswegen nahm er sich das Leben, weil er nicht weiter in dieser Knechtschaft leben wollte.


Wir haben zwei Kinder bekommen, Bryndís und Karl Viktor, schöne, liebe, ganz normale isländische Kinder, die ganz nah an der Natur aufwuchsen. Dann mussten sie beide den Hof verlassen, um auf die weiterführende Schule zu gehen. Wie allen Jugendlichen wurde ihnen die Frage gestellt, ob sie Drogen probieren wollten. Beide hatten ein gutes Selbstvertrauen und dachten, ihnen drohe keine Gefahr. Karl Viktor entschwebte in irgendeine Parallelwirklichkeit und kam nie wieder daraus zurück.


Bryndís starb diesen Winter. Sie wurde sechsundzwanzig Jahre alt.


Diese Geschichte finde ich viel unglaublicher als die erste. Beide sind sie gleich wahr. Ihr glaubt das, was ich sage, vielleicht nicht, andererseits seid ihr aber bereit, etwas zu glauben, was tausendmal unglaublicher ist als alles, was ich erzählen kann.«


»Was könnte unglaublicher sein als das?«, fragte Terje.


»Zum Beispiel, dass ältere Herren in schwarzen Umhängen sich darum kümmern, dass Menschen Gerechtigkeit erfahren.«


»Wenn du Richter meinst, dann wirst du sehen, dass sie blaue Roben tragen«, sagte Terje.


Edda fuhr fort: »Ihr lebt in einer Illusion. Ihr lebt mit dem Unrecht, glaubt aber an die Gerechtigkeit. Ihr glaubt an Gleichberechtigung und lasst dennoch andere eure Existenz lenken. Es toben Kriege überall um euch herum und ihr glaubt an Frieden. Ihr schlaft, obwohl ihr träumt, dass ihr wach seid. Ich wollte, ich hätte weiterschlafen dürfen wie ihr, aber es war mir nicht vergönnt.


Grausamkeit und Unrecht haben mich geweckt. Jetzt bin ich erwacht und sehe, dass es nur eine Wahrheit gibt, und die lautet so: Auge für Auge. Leben für Leben.«


»Les Talionis«, sagte Terje.


»
Lex Talionis«, sagte die Frau mit Nachdruck. »Ich gestehe, dass mir nicht ganz klar wird, was du meinst«, sagte Terje, »aber einer Sache bin ich mir hundertprozentig sicher. Ob die Welt vollkommen ist oder nicht, du bringst bis auf weiteres keinen Menschen mehr um, auch wenn du eine Prinzessin bist, dein Opa Kaiser und Dracula dein Schwiegervater.«


Terje stand auf und hob seine verbundenen Hände.


»Schau dir meine Hände an. Sie sind im Moment nicht gerade ansehnlich, aber dennoch sind es diese Hände und die Hände von Randver und die Hände unserer Kollegen und die Hände normaler Menschen, die mit matter Kraft unsere Gesellschaft zusammenhalten, um zu verhindern, dass solche Bestien wie du und dein Sohn hier ihr Unwesen treiben können.«              


Terje hielt inne und schaute Dagný zaghaft an. Setzte sich dann wieder. Der Verband wies Blutflecken an den Handflächen auf.


Stigmata, dachte Dagný. Ein Zeichen der Gerechtigkeit? Und kicherte unwillkürlich bei dem Gedanken.


Terje sah sie perplex an. Er war es nicht gewohnt, Dagný aus dem Nichts heraus plötzlich auflachen zu hören.


»Ich habe nichts mehr zu sagen. Die einzige Zeugenaussage, die ich unterschreiben werde, ist folgende …«,sagte Edda.


»Auge für Auge. Leben für Leben«, sagte Terje. »Wie fandest du es, wenn ich dich da an der Wand festnageln würde?«