Glámur ähnelte seinem Namensvetter, der schwedischstämmigen
Spukgestalt aus der Saga vom starken Grettir, in der Hinsicht, dass
er am liebsten nachts unterwegs war. Er war von Natur aus ein
Langschläfer, der gern bis in den Tag hinein döste und in einem
tranceartigen Zustand an der Grenze zwischen zwei Welten ruhte,
zwischen Schlaf und Wachsein. An diesem Morgen drang ein quälendes
Hungergefühl wie eine falsche Note in das feine Zusammenspiel der
wachen Sinne und des schlafenden Bewusstseins. Beim ersten
Hungerpfeil war er hellwach und spürte die Impulse seiner Nerven,
die ihm bestätigten, dass seine Verdauung wieder in Ordnung
war.
Er war gesundheitlich empfindlich und vertrug Autofahrten schlecht.
Ein einstündiger Kurztrip nach Þingvellir reichte, um seine
Verdauung durcheinanderzubringen und Übelkeit, Appetitlosigkeit und
sogar Verstopfung zu verursachen. Glámur fand die regelmäßigen
Wochenendfahrten grauenhaft und verabscheute jene Tierspezies, die
ein primitives Vergnügen daran hatten, sich in Autos
herumzutreiben, namentlich Menschen und Hunde. Glámur selbst
gehörte zur Spezies der Katzen.
Obwohl es schon spät am Morgen war, schliefen die Menschen im
Sommerhäuschen noch fest; das Ehepaar Ásdís Ólafsdóttir und Hervar
Guðmannsson, der Verleger, hatte bis spät in die Nacht eine DVD
über einen blutrünstigen Kannibalen geschaut. Die beiden waren wie
Glámur ganz versessen darauf, sich zu ihrem Vergnügen die Sinne mit
Blut zu vernebeln. In ihrem Fall war Sehen der Sinn, der am
leichtesten zu kitzeln war. Bei Glámur war es der Geruchssinn.
Wahrscheinlich hatten sie den Geruch, der ihn um den Verstand
brachte, als sie am Vorabend zum Sommerhäuschen gegangen waren,
nicht wahrgenommen, denn sie schauten ja im Anschluss einen Film
über einen Kannibalen, anstatt dem Blutgeruch nachzugehen. Das
hätte Glámur getan, wenn er nicht nach der Fahrt von Sodbrennen und
Übelkeit geplagt gewesen wäre.
Glámur stand auf, gähnte und reckte sich. Atmete dann tief ein und
spürte, wie der Geruchssinn prompt ein oder zwei interessante
Moleküle aus der Atmosphäre auffing, die er unverzüglich als Blut
identifizierte. Die Unpässlichkeit von gestern Abend war wie
weggeblasen.
Glámur war kerngesund. Nichts konnte ihn aufhalten.
Am besten gleich rauslaufen und die Sache untersuchen.
Der Kater Glámur war nicht nur von Natur aus blutrünstig, sondern
auch ausgesprochen neugierig.
*****
Schon zwei Jahre bevor ein irrer Konditormeister und Brandstifter
mir nichts, dir nichts den Verlag Altúnga anzündete, hatte Hervar
Guðmannsson beschlossen, es sei an der Zeit, innezuhalten und sein
Leben zu überdenken.
Das Verlegen von Büchern hat ebenso wie andere Geschäftsfelder in
Reykjavík den Effekt, dass je mehr man arbeitet, umso weniger Zeit
bleibt, nachzudenken. Als Lösung dafür gedachte Hervar ein
Sommerhäuschen in geeigneter Entfernung zur Hauptstadt zu kaufen,
um dort gemeinsam mit seiner Ehefrau Ásdís und dem Kater Glámur,
die er beide über alles auf dieser Welt liebte, seine Wochenenden
und seine Freizeit damit zu verbringen, den Stand und die Zukunft
des Menschengeschlechts im Allgemeinen und seinen Wohlstand und die
Aussichten des Verlags Altúnga im Speziellen zu
überdenken.
In der Feuersbrunst bei Altúnga waren dann in kurzer Zeit große
Vorräte von unverkauften und größtenteils unverkäuflichen Büchern
in Flammen aufgegangen, und sorgfältige Rechtsanwälte hatten
Hervars Versicherung davon überzeugt, den Schaden zu ersetzen,
sodass der Betrieb im letzten Jahr wirtschaftlich betrachtet ein
ausgezeichnetes Ergebnis erzielen konnte. Hervar war als Kaufmann
Realist und sich vollkommen bewusst, dass er nicht jedes Jahr mit
einem solchen Glücksfall rechnen konnte. Wenngleich diejenigen, die
sich für ein Leben ohne Bücher entschieden, langsam, aber stetig
mehr wurden, war das Zeitalter von >Fahrenheit 451< noch
nicht eingetreten, und mit Geschick gelang es, immer mal wieder ein
paar Wälzer zu drucken und zu verkaufen.
Hervar beschloss, einen Ruhepol für Geist und Körper außerhalb der
Stadtgrenzen zu finden, an dem keine Gefahr der Belästigung durch
geldgeile und krankhaft ehrgeizige Schriftsteller, nervenkranke
Dichterinnen oder gealterte Querulanten bestand, und der vor allem
bezahlbar war. Das einzige Ferienhausgebiet in Island, bei dem man
ziemlich sicher sein kann, dass sich dort keine Schriftsteller
aufhalten, ist in Þingvellir. Dort sind die Sommerhäuser weit
teurer als andernorts und zum Großteil im Besitz alter vermögender
Familien oder Neureicher, die keine anderen Bücher brauchen als
ihre Sparbücher. Das passte Hervar gut. Ein Makler wies ihn auf ein
neugebautes Ferienhaus im Gebiet von Grafningur am westlichen Ufer
des Sees Þingvallavatn hin, das zu einem guten Preis erhältlich
war, da der Bauherr seine Meinung geändert und eine
Tausend-Hektar-Farm für sich und seine Familie gekauft hatte, weil
die älteste Tochter mit ihrer Freundin zusammen einen Reitkurs
gemacht hatte und jetzt pferdeverrückt war und sich ein Pferd zur
Konfirmation wünschte.
Das Ferienhaus war ein einstöckiges Holzhaus auf einem
Betonfundament und sechsundachtzig Quadratmeter groß, was Hervars
Bedürfnissen genau entsprach.
Er sorgte dafür, dass sich herumsprach, die Hütte sei zu klein, um
darin Gäste zu empfangen, um Gerüchte zu zerstreuen, die
neiderfüllte Autoren von Altúnga in die Welt gesetzt hatten, es
handele sich bei der Hütte um eine vierhundert Quadratmeter
umfassende Villa mit Schwimmbad im Haus, einer Sauna, Whirlpools
und einem Heimkinosaal.
Auf einer kleinen Halbinsel, die in den See Þingvallavatn
hineinragte und mit Heidekraut und Birkengestrüpp bewachsen war,
standen drei Ferienhäuser. Zwei Neubauten, und zwar das Sommerhaus
von Hervar und das eines jungen Finanzgenies, der zwei Grundstücke
auf der Halbinsel zusammengelegt und dort eine Villa erbaut hatte,
von der die boshaften Autoren, die Hervars Ruf beschädigen wollten,
Fotos ins Internet stellten, um damit zu illustrieren, wie Verleger
die armen Poeten ausbeuten. Das dritte Sommerhaus stand vorn auf
dem schönsten Teil der Halbinsel, eine heruntergekommene
Blockhütte, wahrscheinlich mehr als ein halbes Jahrhundert alt und
jetzt im Besitz eines bekannten Maklers, der mehr Immobilien besaß,
als man zählen konnte.
In Island stehen zigtausende Ferienhäuser, wobei die
durchschnittliche Zahl der Übernachtungen pro Sommerhaus bei unter
zwanzig im Jahr liegt, was darauf schließen lässt, dass die
Anschaffung eines Ferienhauses mit etwas anderem zu tun hat als dem
Verlangen, Ruhe und Frieden im Schoß der Natur zu genießen. Als
Ásdís und Hervar spätabends in der Johannisnacht in Þingvellir
ankamen, war der Porsche-Geländewagen des Finanzgenies nirgendwo zu
sehen. Sie waren in diesem friedlichen Paradies am spiegelglatten
See offensichtlich mit Glámur allein.
Wegen der erheblichen Belastung, die das Publizieren von Büchern
für eine kleine Nation, die kaum Lust hat, mal in ein Buch zu
schauen, bedeutet, litt Hervar an zahlreichen Gebrechen und
Erkrankungen, wie Asthma, Burn-out, Schlaflosigkeit, Schlafapnoe,
Fußpilz und Hämorrhoiden. Die Nächte verbrachte er damit, sich
dieser Krankheitsflora entgegenzustemmen, und sein Schlaf war daher
von Unterbrechungen durchzogen.
Lange Stunden des Wachliegens und komatöser Schlaf mit
dazugehörigem Schnarchen und Röcheln, Seufzen und Luftschnappen
wechselten sich ab. Ásdís, die Hervar tagsüber mit mütterlicher
Hingabe bediente, brauchte ihre Ruhe. Deswegen schliefen die beiden
Ehegatten in getrennten Räumen, wenngleich die dünne Zwischenwand
keinesfalls genügte, Ásdís vor dem Todestanz der unheimlichen
Geräusche zu bewahren, die aus der Schlafstätte ihres Mannes
drangen.
Glámur war ein geschickter Jäger und genoss es, sich einen schönen
Tag zu machen. Er hatte von Hervar gelernt, sich an Ásdís zu
wenden, wenn ihm irgendetwas fehlte. Wenn er hungrig war, nachdem
sie zu Bett gegangen war, miaute er und kratzte an der Tür zu ihrem
Zimmer, bis sie dem Jammern nachgab. Wenngleich Glámur fordernd und
anspruchsvoll war, so war er doch nicht undankbar. Um der Dame des
Hauses die Aufmerksamkeit zu danken, die sie ihm vielfach
entgegenbrachte, hatte er sich angewöhnt, ihr Geschenke auf die
Bettdecke zu legen, meist frühmorgens; vor allem angefressene
Mäuse, die er mit ihr teilen wollte, aber auch verschiedene
Vogelarten. Wenn er etwas gefangen hatte, kehrte er damit ins Haus
zurück. Dann ließ er seine Beute im Wohnzimmer frei, stupste sie
mit der Pfote an und versuchte, sie wiederzubeleben, um so das
Jagdfieber zu verlängern und möglichst viel Zeit damit zu
verbringen, das Leben aus dem Opfer herauszuquetschen.
*****
An diesem Morgen erwachte Ásdís davon, dass Glámur offenbar im
Begriff war, Wiederbelebungsmaßnahmen im Wohnzimmer vorzunehmen.
Schon oft hatte sie davon zu träumen gewagt, diesen ruchlosen
Mörder aus ihrem Leben zu verbannen. Am besten, er würde im
nächtlichen Kampf mit einem Nerz oder Fuchs den Heldentod sterben.
Allerdings gab es keine Hinweise dafür, dass die örtlichen
Wildtiere mutig oder angriffslustig genug waren, um ihr den Kater
vom Hals zu schaffen.
Deswegen hatte sie auch in Betracht gezogen, ihn mitsamt einigen
Steinbrocken in einen Sack zu stecken und im Þingvallavatn zu
versenken. Aber jemandem den Tod zu wünschen und ihn tatsächlich um
die Ecke zu bringen, dazwischen liegen Welten. Ásdís bekam
regelmäßig Gewissensbisse, wenn sich Glámur auf ihrem Schoß
zusammenrollte, ohne dass er einen Verdacht hatte, was sie für ihn
empfand. Wegen dieser Gewissensbisse versuchte sie, seine
Bettgeschenke mit Fassung anzunehmen, obwohl sie der blutrünstigen
Bestie am liebsten den Hals umgedreht hätte, sobald sie davon
erwachte, dass sie ihr eine angekaute Mäuseleiche aufs Kopfkissen
legte.
Als an diesem Morgen Lärm aus dem Wohnzimmer zu Ásdís drang,
beschloss sie, sofort einzuschreiten und Glámur einen Strich durch
die Rechnung zu machen, zu versuchen, dem Opfer das Leben zu retten
oder zumindest zu verhindern, dass er ein Stück blutiges Fleisch zu
ihr ins Bett schleifte. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch und
stellte fest, dass es auch Zeit war, den Frühstückstisch für Hervar
zu decken, und ging ins Wohnzimmer.
Als Ásdís auftauchte, hatte Glámur schon jede Hoffnung aufgegeben,
seinen Fang noch einmal beleben zu können. Er hatte genug Fleisch
und Blut verschlungen, sodass er nicht mehr hungrig war. Dieses
kleine, leblose Stück, das er in der Schnauze nach Hause getragen
hatte, war streng genommen keine lebende Beute, sondern ein
unerwarteter Fund, mit dem er eine Weile zu spielen gedachte, um
dann sein Frauchen damit zu beglücken.
In alter Gewohnheit griff Ásdís nach der Ofenschaufel, die sie
immer benutzte, um den Opfern von Glámur den Gnadenhieb zu gewähren
und sie so von weiterer Marter zu erlösen.
Als sie den Hieb ausführte, bewunderte Glámur sie von Herzen dafür,
mit welcher Erbarmungslosigkeit und Konzentration sie vorging, wenn
auch in diesem Fall überflüssigerweise, weil die Beute leblos war.
Ásdís, die ihre Lesebrille nicht mitgenommen hatte, beugte sich
jetzt vor, um zu begutachten, was Glámur in die Wohnung gezerrt
hatte. Ein Vogel war es nicht, denn Glámur ging mit ihnen
normalerweise so hart ins Gericht, dass das Gefieder von nur einer
Schneeammer ausreichte, um so gut wie alles Mobiliar im Wohnzimmer
zu bedecken. Eine Maus war es auch nicht, weil der Schwanz fehlte.
Ásdís starrte auf den Fleischbrocken auf dem Boden, konnte aber
nicht ausmachen, um was für eine Art Tier es sich
handelte.
»Hervar«, rief sie. »Hervar, komm mal und schau, was das Katzenvieh
diesmal nach Hause geschleppt hat.«
Hervar war schon vor einiger Zeit erwacht und hatte hin und her
überlegt, ob Ásdís sich wohl dazu bewegen ließe, ihm das Frühstück
ans Bett zu bringen, bevor er zur Toilette tappen musste. Bei ihren
Rufen entschied er sich, aufzustehen, die Beute zu betrachten und
sich den Geisteszustand von Ásdís zunutze zu machen, um hinaus auf
die Veranda zu gehen und seine Blase dort zu erleichtern. Ásdís
konnte diese Gewohnheit ihres Mannes nicht leiden, sodass er
vorhatte, unter dem Vorwand, die nächtliche Beute des Katers
wegzuwerfen, hinauszuhuschen.
Tief in seinem Innern war Hervar stolz auf die Jagdlust seines
Freundes Glámur. Er strich seiner Frau über den Rücken und nahm ihr
die Ofenschaufel aus der Hand, bevor er sich herunterbeugte, um die
Beute zu begutachten. Ein Vogel war es nicht. Auch keine Maus. Sah
am ehesten aus wie die Nachbildung eines Daumens. Bei näherer
Inspektion sah Hervar, dass es keine Nachbildung war. Ein Daumen
lag auf ihrem Wohnzimmerboden.
Glámur knurrte vor unterdrückter Erregung und schlug mit dem
Schwanz. »Das ist der Finger eines Menschen«, sagte Hervar und
schauderte. »Das ist ekelhaft. Wir müssen das schnellstens in den
Müll werfen.«
Ásdís sagte: »Wo hat der Kater das her und wo ist der
Rest?«
*****
Glámur trug nicht viel zur Klärung der Frage bei. Er hatte das
Essen geholt und es seinen Herrchen übergeben. Er war satt und
zufrieden und wandte sich dem Putzen seines Gesichts zu, wie er es
regelmäßig nach guten Mahlzeiten tat. Daraufhin gähnte er
ausgiebig, sprang auf das Sofa im Wohnzimmer und begab sich zur
Ruhe.
Ásdís lief ins Badezimmer. Hervar blieb stehen und starrte den
Finger auf dem Boden an. Dann ging er in die Küche, holte einen
Plastikbeutel, stülpte ihn um und hob den Finger auf. Dann
verknotete er den Beutel.
Er hob die Tüte auf Augenhöhe und betrachtete den Inhalt durch das
Plastik.
»Was willst du damit machen?«, fragte Ásdís.
»Ich weiß es nicht«, sagte Hervar. »Müssen wir nicht die Polizei
rufen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ásdís. »Ich weiß nur, dass ich es hier
keine Minute länger aushalte.«
»Und wieso?«
»Ich bin total bedient. Diese eklige Katze schleppt ununterbrochen
irgendwelche Lebewesen hier rein, um sie zu misshandeln und zu
töten. Ich weiß nicht, wie viele Kadaver von Vögeln und Mäusen ich
schon rausgetragen habe, aber jetzt ist es genug. Wenn dieses
Scheusal anfängt, hier mit Überresten von toten Menschen
reinzukommen, sage ich: Bis hierhin und nicht weiter.« »Was meinst
du mit >Überreste von toten Menschen<?«, fragte Hervar, der
es nicht leiden konnte, wenn sein Glámur diskreditiert
wurde.
»Schau dir doch mal an, was du in den Händen hältst,
Mann.«
»Das ist doch nur ein Daumen. Menschen sterben doch nicht davon,
einen Daumen zu verlieren.«
»Ach so? Glaubst du etwa, hier war jemand in der Gegend unterwegs,
der seinen Daumen >verloren< hat, ohne es zu
bemerken?«
»Was weiß denn ich. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob Glámur das
hier in der Nähe gefunden hat.«
»Glaubst du etwa, dass die Scheißkatze sich das aus der Stadt
mitgenommen hat? Als Proviant oder was?«
»Natürlich nicht.«
»Nein, wohl kaum.« Ásdís hatte rote Backen bekommen. Obwohl der
Finger unheimlich war, hatte er ihr die langersehnte Gelegenheit
geliefert, ihre Meinung darüber zu sagen, dass sie jedes Wochenende
in einem verdammten Ferienhaus hockte, in Gesellschaft eines
mordlustigen Katers und eines kerngesunden Ehemannes, der bedient
zu werden verlangte, als läge er auf dem Sterbebett. »In Reykjavík
läuft man höchstens Gefahr, auf dem Bürgersteig in Hundekot zu
treten, aber hier in der beschissenen Provinz muss man wohl damit
rechnen, dass tote Leute draußen herumliegen.«
»Þingvellir ist ein heiliger Ort und keine beschissene Provinz«,
sagte Hervar.
»Das einzige >Vellir<, das wir von hier aus sehen, ist
Nesjavellir, nicht Þingvellir«, sagte Ásdís. »Wir sind hier in
Grafningur in nächster Nähe zu einem potthässlichen Moloch von
Elektrizitätswerk.«
»Was soll denn das, Frau? Du tust gerade so, als wohnten wir in
einer Art Slum«, sagte Hervar. Es nervte ihn immer wieder aufs
Neue, wenn die exakte geografische Lage des Ferienhauses
thematisiert wurde. »Soweit ich weiß, besitzt einer der reichsten
Männer Islands das Ferienhaus hier neben uns. Ich weiß zwar nicht,
was er verdient, aber ich weiß, dass sein letzter Arbeitgeber ihm
eine ganze Milliarde dafür bezahlte, dass er aufhörte zu
arbeiten.«
»Ach ja, gut, dass du das sagst. Willst du nicht rüberlaufen zu dem
Banker und ihn bitten, seine Finger zu zählen, weil wir auf unserem
Grundstück einen Finger zu viel haben?«, sagte Ásdís.
»Was soll denn dieser Unfug?«, fragte Hervar. »Wir haben uns doch
gestern noch darüber unterhalten, dass wir niemanden in seinem Haus
gesehen haben.«
»Dass wir kein Lebenszeichen im Ferienhaus gesehen haben«, sagte
Ásdís. »Das ist ein Unterschied.«
»Du glaubst doch wohl nicht ...?«
Ásdís zuckte mit den Schultern. »Was weiß denn ich?
Sind diese Banker nicht alle in Geschäfte mit Russengold und der
Mafia verwickelt?«
»Dieser nicht«, sagte Hervar.
»Woher willst du denn das wissen?«
»Ich weiß, was ich weiß«, antwortete Hervar.
»Ist das dein Ernst, dass du nicht verstehst, wovon ich rede?«,
fragte Ásdís.
»Du meckerst schon wieder darüber, dass dieses feine Sommerhaus,
das ich morgen zum doppelten Preis verkaufen könnte, nicht in
Þingvellir ist«, sagte Hervar, der manchmal kurz davor war, sich
der unerträglichen Aufrichtigkeit seiner Frau zu beugen.
»Hervar«, sagte Ásdís und sah ihn an. »Jetzt denk doch mal kurz
nach. Wie kommt dieser Finger hierher?« »Du hast gesagt, Glámur hat
ihn hergebracht.«
»Hältst du es für wahrscheinlich, dass der Kater diesen Finger
draußen in der Natur gefunden hat?«
»Was weiß denn ich?«, fragte Hervar, kurz davor, eingeschnappt zu
sein, weil sein Freund beschuldigt wurde.
»Hältst du es nicht für wahrscheinlicher, dass er sich durch
irgendeine Ritze ins Ferienhaus hier nebenan gestohlen und ihn da
gefunden hat?«
»Nein, jetzt hör aber mal auf«, sagte Hervar, der Glámur auf keinen
Fall des Einbruchs bezichtigt sehen wollte.
»Und dir kommt auch nicht in den Sinn, dass wir in Gefahr sein
könnten, wenn im Nachbarhaus zerstückelte Leichen liegen?«, stieß
Ásdís aus. »Der Kater hat den Finger ja wohl kaum abgebissen. Man
muss ihm seinen Fisch ja schon fast ins Maul stopfen. Ich weiß
nicht, was hier passiert ist, aber ich fahre jetzt in die Stadt.
Ich möchte mich nicht in Stücke schneiden lassen.«
»Das ist verdammte Nervenschwäche, Mensch«, sagte Hervar. »Dass du
dir aber auch so einen Unsinn einfallen lässt. Das kommt davon,
wenn man so viel Fernsehen glotzt.«
»Du entscheidest, was du machst«, sagte Ásdís. »Ich bleibe nicht
hier und es wird eine Weile dauern, bis ich wieder
herkomme.«
»Beruhige dich«, sagte Hervar. »Was ist das für eine Hysterie? Du
stellst dich an, als könne man vor lauter toten Menschen keinen Fuß
mehr auf den Boden setzen.«
»Und was ist das?«, fragte Ásdís und zeigte auf den Plastikbeutel.
»Das ist nur ein Finger«, sagte Hervar. »Könnte aus einem Flugzeug
gefallen sein. Immer fliegen irgendwelche Idioten hier über das
Gelände.« »Um Leichen über dem See abzuwerfen?«
»Wie zur Hölle soll ich das wissen? Ich bitte dich, hör auf, dich
so anzustellen, und zieh dir etwas an die Füße.
Es ist Zeit, dass wir uns mal bei unserem Nachbarn
umsehen.«
»Das ist an und für sich völlig richtig«, sagte Ásdís und begann,
ihre Schuhe zu suchen. »Er kann ja nicht besonders herrschaftlich
wohnen, hat er sich doch nie dazu in der Lage gesehen, uns auch nur
zu einer Tasse Kaffee einzuladen.«
*****
Obwohl es kaum hundert Meter Fußweg zum Sommerhaus des Bankers
waren, nahm Hervar seinen Spazierstock mit.
Ásdís sagte nichts. Sie ging hinter ihrem Ehemann her. Schaute
direkt geradeaus und vermied es, unterwegs in das Gebüsch zu sehen.
Sie blieb stehen, als Hervar die Veranda, die um das Sommerhaus
führte, betrat und wartete, während er an der Haustür rüttelte und
durch das Fenster lugte.
»Hier ist kein Schwein«, sagte Hervar. »Und es ist ausgeschlossen,
dass der Kater hier reingelaufen ist.«
»Woher weißt du das?«, fragte Ásdís, die sich über die
Schnelligkeit, mit der ihr Ehemann zu diesem Urteil gelangt war,
wunderte.
»Weil hier das ausgefeilteste Einbruchssicherungssystem installiert
ist, das ich jemals gesehen habe«, sagte Hervar. »Wenn hier eine
Scheibe zerbricht, geht alles los, und bei der geringsten Bewegung
im Innenraum beginnt das System zu piepsen. Und dann sind hier
überall Überwachungskameras. Schau mal da. Und da.« Ásdís folgte
dem Fingerzeig ihres Mannes bis zur Dachtraufe, ohne etwas zu
entdecken, was einer Kamera ähnelte.
»Das ist nicht lustig«, sagte Hervar.
»Was denn?«
»Verstehst du nicht, dass uns gerade jemand beobachten kann? Das
sind so vollkommene Geräte, dass der Besitzer uns jetzt auf seinem
Computer oder seinem Mobiltelefon sehen kann. Was meinst du, wie
das aussieht, wenn die Nachbarn in deine Fenster hineingaffen wie
irgendwelche Perversen?«
»Das ist mir so was von egal«, sagte Ásdís. »Bist du sicher, dass
nirgendwo ein Fenster offen steht?«
»Da bin ich mir absolut sicher«, antwortete Hervar.
»Aber am besten gehen wir einmal rundherum, jetzt, wo wir uns
sowieso schon zu Deppen gemacht haben.«
Er war schnell fertig. »Hier ist alles abgeschlossen«, sagte er und
blieb auf der Veranda stehen.
»Dann komm«, sagte Ásdís. »Wir sehen mal nach dem alten
Sommerhaus.«
»Da ist doch nie jemand«, sagte Hervar.
»Komm.«
»Augenblick«, sagte Hervar.
Mit einem besorgten Blick beobachtete Ásdís ihren Mann, der in die
Luft schaute und mit den Händen gestikulierte, die Handflächen
vorzeigte und sich verbeugte, als wäre er kurz davor, ein Gebet zu
sprechen. Dann fuchtelte er mit den Händen und zeigte auf sich
selbst und danach auf die Tür und die Fenster. Verneigte sich dann
tief und winkte noch einmal, bevor er von der Veranda
sprang.
»Was sollte denn das darstellen?«, fragte Ásdís.
»Ich habe nur versucht, diesen Kameras zu verstehen zu geben, dass
ich nachgeschaut habe, ob auch alle Fenster verschlossen sind und
alles in Ordnung ist, damit der Mann nicht den Sicherheitsdienst
oder die Polizei ruft.«
Das alte Sommerhaus auf der Halbinsel war seinerzeit wahrscheinlich
von jemand Betuchtem erbaut worden, aber was damals groß war,
wirkte jetzt klein. Im Norden des Hauses war ein dichtes Wäldchen,
um das sich schon lange niemand mehr gekümmert hatte, und einige
hochgewachsene Fichten schienen sich gegen die knorrigen kleinen
Birken im Kampf ums Sonnenlicht durchgesetzt zu haben.
Auf der Rückseite, vom See abgewandt, waren drei Fenster mit
hölzernen Läden. Als die beiden näher kamen, sahen sie, dass sich
am Südgiebel zwei Fenster befanden, die nicht durch Läden geschützt
waren. Hervar versuchte, hindurchzulinsen, aber hinter den
schmutzigen Scheiben behinderten ausgeblichene Vorhänge die Sicht.
Ásdís stand hinter ihm und prustete in die Luft.
»Die Vorhänge sind zugezogen«, sagte Hervar. »Das ist ja nichts
Unnormales.«
»Bemerkst du den Geruch nicht?«, fragte Ásdís und verzog das
Gesicht.
Hervar tat seiner Frau den Gefallen und stellte sich neben sie, um
zu schnuppern. Er verstand jedoch nicht, was sie meinte, bevor er
um die Ecke des Hauses ging und vorsichtig auf die morsche Veranda
an der Vorderseite des Sommerhäuschens stieg.
Er schnappte nach Luft und kämpfte gegen die Übelkeit an, als ihm
klar wurde, dass der Verwesungsgeruch, der seine Sinne vernebelte,
wahrscheinlich nicht von verdorbenen Lebensmitteln
stammte.
Es bestand kein Zweifel daran, dass der Geruch aus dem Haus kam.
Vier kleine Scheiben, rot, grün, blau und gelb, waren in der
Haustür. Die gelbe Scheibe war zerbrochen. Sich hineinzubeugen und
das Schnappschloss durch das Loch von innen zu öffnen, war
einfach.
Hervar zögerte ein wenig und klopfte dann vorsichtig mit der Spitze
seines Spazierstocks an die Tür.
»Warum klopfst du?«, fragte Ásdís. »Kein lebendiger Mensch kann es
bei diesem Gestank da drin aushalten.«
Hervar gab seiner Frau keine Antwort, beugte sich zu der
zerbrochenen Scheibe herab und rief: »Hallo, hallo!
Ist da jemand?«
Er versuchte, durch die Öffnung zu spähen, aber es war schwer, im
abgedunkelten Häuschen etwas zu erkennen, wenn man an die klare
Helligkeit draußen gewöhnt war.
Hervar steckte seine Hand hinein und tastete nach dem
Schnappschloss. Öffnete dann die Tür und bedeutete seiner Frau,
einzutreten.
»Bitte sehr«, sagte er. »Willst du dich nicht umsehen?«
»Lass uns zusammen gehen«, sagte Ásdís, nahm die Hand ihres Mannes
und führte ihn hinter sich über die Schwelle ins Dämmerlicht des
Häuschens.
Sie hielten inne, als sie den Raum betreten hatten. Hervar blieb
jedoch nicht lange stehen, denn er riss sich von seiner Frau los
und drehte um Richtung Veranda, wo er sich erbrach. Ásdís stand
still, während sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Sie war
nicht allein im Wohnzimmer. Ganz langsam wurden drei Männer
sichtbar. Zwei von ihnen saßen wie Skulpturen einander gegenüber an
einem großen Tisch, der dritte stand mittig am Tisch und lehnte
sich an die Wand.
Die Neugier überwog die Angst, also ging Ásdís näher.
Dass Glámur das morgendliche Geschenk für sie hier besorgt hatte,
war offenkundig, denn der Hand des einen Mannes, der am Tisch saß,
fehlten beide Daumen.
Diese Amputation war aber nicht das schrecklichste an dem Anblick,
denn Ásdís sah, dass große Nägel durch die Hände und Arme beider
Männer getrieben worden waren, um sie an der Tischplatte zu
befestigen. Als sie herunterblickte, sah sie, dass auch ihre Füße
an den Boden genagelt worden waren.
Der Mann, der an der Mitte des Tisches stand und den Kopf hängen
ließ, lehnte sich nicht an die Wand, wie es ihr zunächst geschienen
hatte er war an die Vertäfelung genagelt worden.
Ásdís betrachtete dieses Bild wie in Trance. Ihre Atmung wurde
schneller und schneller. Die Gesichter der Männer waren
fürchterlich zugerichtet. Blutflecken waren auf dem Boden und an
den Wänden. Sie wich einen Schritt zurück und trat auf etwas. Es
war der andere Daumen. Ásdís empfand plötzlich ein starkes
Schwindelgefühl, dann wurde es schwarz vor ihren Augen. Die
furchterregenden Bilder verschwanden im Dunklen und sie sank
nieder.
Das Letzte, was ihr durch den Sinn schoss, war: Ich bin noch nie
ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich muss ich sterben.