Elf


Glámur ähnelte seinem Namensvetter, der schwedischstämmigen Spukgestalt aus der Saga vom starken Grettir, in der Hinsicht, dass er am liebsten nachts unterwegs war. Er war von Natur aus ein Langschläfer, der gern bis in den Tag hinein döste und in einem tranceartigen Zustand an der Grenze zwischen zwei Welten ruhte, zwischen Schlaf und Wachsein. An diesem Morgen drang ein quälendes Hungergefühl wie eine falsche Note in das feine Zusammenspiel der wachen Sinne und des schlafenden Bewusstseins. Beim ersten Hungerpfeil war er hellwach und spürte die Impulse seiner Nerven, die ihm bestätigten, dass seine Verdauung wieder in Ordnung war.


Er war gesundheitlich empfindlich und vertrug Autofahrten schlecht. Ein einstündiger Kurztrip nach Þingvellir reichte, um seine Verdauung durcheinanderzubringen und Übelkeit, Appetitlosigkeit und sogar Verstopfung zu verursachen. Glámur fand die regelmäßigen Wochenendfahrten grauenhaft und verabscheute jene Tierspezies, die ein primitives Vergnügen daran hatten, sich in Autos herumzutreiben, namentlich Menschen und Hunde. Glámur selbst gehörte zur Spezies der Katzen.


Obwohl es schon spät am Morgen war, schliefen die Menschen im Sommerhäuschen noch fest; das Ehepaar Ásdís Ólafsdóttir und Hervar Guðmannsson, der Verleger, hatte bis spät in die Nacht eine DVD über einen blutrünstigen Kannibalen geschaut. Die beiden waren wie Glámur ganz versessen darauf, sich zu ihrem Vergnügen die Sinne mit Blut zu vernebeln. In ihrem Fall war Sehen der Sinn, der am leichtesten zu kitzeln war. Bei Glámur war es der Geruchssinn. Wahrscheinlich hatten sie den Geruch, der ihn um den Verstand brachte, als sie am Vorabend zum Sommerhäuschen gegangen waren, nicht wahrgenommen, denn sie schauten ja im Anschluss einen Film über einen Kannibalen, anstatt dem Blutgeruch nachzugehen. Das hätte Glámur getan, wenn er nicht nach der Fahrt von Sodbrennen und Übelkeit geplagt gewesen wäre.              


Glámur stand auf, gähnte und reckte sich. Atmete dann tief ein und spürte, wie der Geruchssinn prompt ein oder zwei interessante Moleküle aus der Atmosphäre auffing, die er unverzüglich als Blut identifizierte. Die Unpässlichkeit von gestern Abend war wie weggeblasen.


Glámur war kerngesund. Nichts konnte ihn aufhalten.


Am besten gleich rauslaufen und die Sache untersuchen.


Der Kater Glámur war nicht nur von Natur aus blutrünstig, sondern auch ausgesprochen neugierig.


*****


Schon zwei Jahre bevor ein irrer Konditormeister und Brandstifter mir nichts, dir nichts den Verlag Altúnga anzündete, hatte Hervar Guðmannsson beschlossen, es sei an der Zeit, innezuhalten und sein Leben zu überdenken.


Das Verlegen von Büchern hat ebenso wie andere Geschäftsfelder in Reykjavík den Effekt, dass je mehr man arbeitet, umso weniger Zeit bleibt, nachzudenken. Als Lösung dafür gedachte Hervar ein Sommerhäuschen in geeigneter Entfernung zur Hauptstadt zu kaufen, um dort gemeinsam mit seiner Ehefrau Ásdís und dem Kater Glámur, die er beide über alles auf dieser Welt liebte, seine Wochenenden und seine Freizeit damit zu verbringen, den Stand und die Zukunft des Menschengeschlechts im Allgemeinen und seinen Wohlstand und die Aussichten des Verlags Altúnga im Speziellen zu überdenken.


In der Feuersbrunst bei Altúnga waren dann in kurzer Zeit große Vorräte von unverkauften und größtenteils unverkäuflichen Büchern in Flammen aufgegangen, und sorgfältige Rechtsanwälte hatten Hervars Versicherung davon überzeugt, den Schaden zu ersetzen, sodass der Betrieb im letzten Jahr wirtschaftlich betrachtet ein ausgezeichnetes Ergebnis erzielen konnte. Hervar war als Kaufmann Realist und sich vollkommen bewusst, dass er nicht jedes Jahr mit einem solchen Glücksfall rechnen konnte. Wenngleich diejenigen, die sich für ein Leben ohne Bücher entschieden, langsam, aber stetig mehr wurden, war das Zeitalter von >Fahrenheit 451< noch nicht eingetreten, und mit Geschick gelang es, immer mal wieder ein paar Wälzer zu drucken und zu verkaufen.


Hervar beschloss, einen Ruhepol für Geist und Körper außerhalb der Stadtgrenzen zu finden, an dem keine Gefahr der Belästigung durch geldgeile und krankhaft ehrgeizige Schriftsteller, nervenkranke Dichterinnen oder gealterte Querulanten bestand, und der vor allem bezahlbar war. Das einzige Ferienhausgebiet in Island, bei dem man ziemlich sicher sein kann, dass sich dort keine Schriftsteller aufhalten, ist in Þingvellir. Dort sind die Sommerhäuser weit teurer als andernorts und zum Großteil im Besitz alter vermögender Familien oder Neureicher, die keine anderen Bücher brauchen als ihre Sparbücher. Das passte Hervar gut. Ein Makler wies ihn auf ein neugebautes Ferienhaus im Gebiet von Grafningur am westlichen Ufer des Sees Þingvallavatn hin, das zu einem guten Preis erhältlich war, da der Bauherr seine Meinung geändert und eine Tausend-Hektar-Farm für sich und seine Familie gekauft hatte, weil die älteste Tochter mit ihrer Freundin zusammen einen Reitkurs gemacht hatte und jetzt pferdeverrückt war und sich ein Pferd zur Konfirmation wünschte.


Das Ferienhaus war ein einstöckiges Holzhaus auf einem Betonfundament und sechsundachtzig Quadratmeter groß, was Hervars Bedürfnissen genau entsprach.


Er sorgte dafür, dass sich herumsprach, die Hütte sei zu klein, um darin Gäste zu empfangen, um Gerüchte zu zerstreuen, die neiderfüllte Autoren von Altúnga in die Welt gesetzt hatten, es handele sich bei der Hütte um eine vierhundert Quadratmeter umfassende Villa mit Schwimmbad im Haus, einer Sauna, Whirlpools und einem Heimkinosaal.


Auf einer kleinen Halbinsel, die in den See Þingvallavatn hineinragte und mit Heidekraut und Birkengestrüpp bewachsen war, standen drei Ferienhäuser. Zwei Neubauten, und zwar das Sommerhaus von Hervar und das eines jungen Finanzgenies, der zwei Grundstücke auf der Halbinsel zusammengelegt und dort eine Villa erbaut hatte, von der die boshaften Autoren, die Hervars Ruf beschädigen wollten, Fotos ins Internet stellten, um damit zu illustrieren, wie Verleger die armen Poeten ausbeuten. Das dritte Sommerhaus stand vorn auf dem schönsten Teil der Halbinsel, eine heruntergekommene Blockhütte, wahrscheinlich mehr als ein halbes Jahrhundert alt und jetzt im Besitz eines bekannten Maklers, der mehr Immobilien besaß, als man zählen konnte.


In Island stehen zigtausende Ferienhäuser, wobei die durchschnittliche Zahl der Übernachtungen pro Sommerhaus bei unter zwanzig im Jahr liegt, was darauf schließen lässt, dass die Anschaffung eines Ferienhauses mit etwas anderem zu tun hat als dem Verlangen, Ruhe und Frieden im Schoß der Natur zu genießen. Als Ásdís und Hervar spätabends in der Johannisnacht in Þingvellir ankamen, war der Porsche-Geländewagen des Finanzgenies nirgendwo zu sehen. Sie waren in diesem friedlichen Paradies am spiegelglatten See offensichtlich mit Glámur allein.


Wegen der erheblichen Belastung, die das Publizieren von Büchern für eine kleine Nation, die kaum Lust hat, mal in ein Buch zu schauen, bedeutet, litt Hervar an zahlreichen Gebrechen und Erkrankungen, wie Asthma, Burn-out, Schlaflosigkeit, Schlafapnoe, Fußpilz und Hämorrhoiden. Die Nächte verbrachte er damit, sich dieser Krankheitsflora entgegenzustemmen, und sein Schlaf war daher von Unterbrechungen durchzogen.


Lange Stunden des Wachliegens und komatöser Schlaf mit dazugehörigem Schnarchen und Röcheln, Seufzen und Luftschnappen wechselten sich ab. Ásdís, die Hervar tagsüber mit mütterlicher Hingabe bediente, brauchte ihre Ruhe. Deswegen schliefen die beiden Ehegatten in getrennten Räumen, wenngleich die dünne Zwischenwand keinesfalls genügte, Ásdís vor dem Todestanz der unheimlichen Geräusche zu bewahren, die aus der Schlafstätte ihres Mannes drangen.


Glámur war ein geschickter Jäger und genoss es, sich einen schönen Tag zu machen. Er hatte von Hervar gelernt, sich an Ásdís zu wenden, wenn ihm irgendetwas fehlte. Wenn er hungrig war, nachdem sie zu Bett gegangen war, miaute er und kratzte an der Tür zu ihrem Zimmer, bis sie dem Jammern nachgab. Wenngleich Glámur fordernd und anspruchsvoll war, so war er doch nicht undankbar. Um der Dame des Hauses die Aufmerksamkeit zu danken, die sie ihm vielfach entgegenbrachte, hatte er sich angewöhnt, ihr Geschenke auf die Bettdecke zu legen, meist frühmorgens; vor allem angefressene Mäuse, die er mit ihr teilen wollte, aber auch verschiedene Vogelarten. Wenn er etwas gefangen hatte, kehrte er damit ins Haus zurück. Dann ließ er seine Beute im Wohnzimmer frei, stupste sie mit der Pfote an und versuchte, sie wiederzubeleben, um so das Jagdfieber zu verlängern und möglichst viel Zeit damit zu verbringen, das Leben aus dem Opfer herauszuquetschen.  


*****


An diesem Morgen erwachte Ásdís davon, dass Glámur offenbar im Begriff war, Wiederbelebungsmaßnahmen im Wohnzimmer vorzunehmen. Schon oft hatte sie davon zu träumen gewagt, diesen ruchlosen Mörder aus ihrem Leben zu verbannen. Am besten, er würde im nächtlichen Kampf mit einem Nerz oder Fuchs den Heldentod sterben. Allerdings gab es keine Hinweise dafür, dass die örtlichen Wildtiere mutig oder angriffslustig genug waren, um ihr den Kater vom Hals zu schaffen.  

 


Deswegen hatte sie auch in Betracht gezogen, ihn mitsamt einigen Steinbrocken in einen Sack zu stecken und im Þingvallavatn zu versenken. Aber jemandem den Tod zu wünschen und ihn tatsächlich um die Ecke zu bringen, dazwischen liegen Welten. Ásdís bekam regelmäßig Gewissensbisse, wenn sich Glámur auf ihrem Schoß zusammenrollte, ohne dass er einen Verdacht hatte, was sie für ihn empfand. Wegen dieser Gewissensbisse versuchte sie, seine Bettgeschenke mit Fassung anzunehmen, obwohl sie der blutrünstigen Bestie am liebsten den Hals umgedreht hätte, sobald sie davon erwachte, dass sie ihr eine angekaute Mäuseleiche aufs Kopfkissen legte.


Als an diesem Morgen Lärm aus dem Wohnzimmer zu Ásdís drang, beschloss sie, sofort einzuschreiten und Glámur einen Strich durch die Rechnung zu machen, zu versuchen, dem Opfer das Leben zu retten oder zumindest zu verhindern, dass er ein Stück blutiges Fleisch zu ihr ins Bett schleifte. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch und stellte fest, dass es auch Zeit war, den Frühstückstisch für Hervar zu decken, und ging ins Wohnzimmer.


Als Ásdís auftauchte, hatte Glámur schon jede Hoffnung aufgegeben, seinen Fang noch einmal beleben zu können. Er hatte genug Fleisch und Blut verschlungen, sodass er nicht mehr hungrig war. Dieses kleine, leblose Stück, das er in der Schnauze nach Hause getragen hatte, war streng genommen keine lebende Beute, sondern ein unerwarteter Fund, mit dem er eine Weile zu spielen gedachte, um dann sein Frauchen damit zu beglücken.


In alter Gewohnheit griff Ásdís nach der Ofenschaufel, die sie immer benutzte, um den Opfern von Glámur den Gnadenhieb zu gewähren und sie so von weiterer Marter zu erlösen.


Als sie den Hieb ausführte, bewunderte Glámur sie von Herzen dafür, mit welcher Erbarmungslosigkeit und Konzentration sie vorging, wenn auch in diesem Fall überflüssigerweise, weil die Beute leblos war. Ásdís, die ihre Lesebrille nicht mitgenommen hatte, beugte sich jetzt vor, um zu begutachten, was Glámur in die Wohnung gezerrt hatte. Ein Vogel war es nicht, denn Glámur ging mit ihnen normalerweise so hart ins Gericht, dass das Gefieder von nur einer Schneeammer ausreichte, um so gut wie alles Mobiliar im Wohnzimmer zu bedecken. Eine Maus war es auch nicht, weil der Schwanz fehlte. Ásdís starrte auf den Fleischbrocken auf dem Boden, konnte aber nicht ausmachen, um was für eine Art Tier es sich handelte.


»Hervar«, rief sie. »Hervar, komm mal und schau, was das Katzenvieh diesmal nach Hause geschleppt hat.«


Hervar war schon vor einiger Zeit erwacht und hatte hin und her überlegt, ob Ásdís sich wohl dazu bewegen ließe, ihm das Frühstück ans Bett zu bringen, bevor er zur Toilette tappen musste. Bei ihren Rufen entschied er sich, aufzustehen, die Beute zu betrachten und sich den Geisteszustand von Ásdís zunutze zu machen, um hinaus auf die Veranda zu gehen und seine Blase dort zu erleichtern. Ásdís konnte diese Gewohnheit ihres Mannes nicht leiden, sodass er vorhatte, unter dem Vorwand, die nächtliche Beute des Katers wegzuwerfen, hinauszuhuschen.              


Tief in seinem Innern war Hervar stolz auf die Jagdlust seines Freundes Glámur. Er strich seiner Frau über den Rücken und nahm ihr die Ofenschaufel aus der Hand, bevor er sich herunterbeugte, um die Beute zu begutachten. Ein Vogel war es nicht. Auch keine Maus. Sah am ehesten aus wie die Nachbildung eines Daumens. Bei näherer Inspektion sah Hervar, dass es keine Nachbildung war. Ein Daumen lag auf ihrem Wohnzimmerboden.


Glámur knurrte vor unterdrückter Erregung und schlug mit dem Schwanz. »Das ist der Finger eines Menschen«, sagte Hervar und schauderte. »Das ist ekelhaft. Wir müssen das schnellstens in den Müll werfen.«


Ásdís sagte: »Wo hat der Kater das her und wo ist der Rest?«


*****


Glámur trug nicht viel zur Klärung der Frage bei. Er hatte das Essen geholt und es seinen Herrchen übergeben. Er war satt und zufrieden und wandte sich dem Putzen seines Gesichts zu, wie er es regelmäßig nach guten Mahlzeiten tat. Daraufhin gähnte er ausgiebig, sprang auf das Sofa im Wohnzimmer und begab sich zur Ruhe.


Ásdís lief ins Badezimmer. Hervar blieb stehen und starrte den Finger auf dem Boden an. Dann ging er in die Küche, holte einen Plastikbeutel, stülpte ihn um und hob den Finger auf. Dann verknotete er den Beutel.


Er hob die Tüte auf Augenhöhe und betrachtete den Inhalt durch das Plastik.


»Was willst du damit machen?«, fragte Ásdís.


»Ich weiß es nicht«, sagte Hervar. »Müssen wir nicht die Polizei rufen?«


»Ich weiß es nicht«, sagte Ásdís. »Ich weiß nur, dass ich es hier keine Minute länger aushalte.«


»Und wieso?«


»Ich bin total bedient. Diese eklige Katze schleppt ununterbrochen irgendwelche Lebewesen hier rein, um sie zu misshandeln und zu töten. Ich weiß nicht, wie viele Kadaver von Vögeln und Mäusen ich schon rausgetragen habe, aber jetzt ist es genug. Wenn dieses Scheusal anfängt, hier mit Überresten von toten Menschen reinzukommen, sage ich: Bis hierhin und nicht weiter.« »Was meinst du mit >Überreste von toten Menschen<?«, fragte Hervar, der es nicht leiden konnte, wenn sein Glámur diskreditiert wurde.


»Schau dir doch mal an, was du in den Händen hältst, Mann.«


»Das ist doch nur ein Daumen. Menschen sterben doch nicht davon, einen Daumen zu verlieren.«


»Ach so? Glaubst du etwa, hier war jemand in der Gegend unterwegs, der seinen Daumen >verloren< hat, ohne es zu bemerken?«


»Was weiß denn ich. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob Glámur das hier in der Nähe gefunden hat.«


»Glaubst du etwa, dass die Scheißkatze sich das aus der Stadt mitgenommen hat? Als Proviant oder was?«


»Natürlich nicht.«


»Nein, wohl kaum.« Ásdís hatte rote Backen bekommen. Obwohl der Finger unheimlich war, hatte er ihr die langersehnte Gelegenheit geliefert, ihre Meinung darüber zu sagen, dass sie jedes Wochenende in einem verdammten Ferienhaus hockte, in Gesellschaft eines mordlustigen Katers und eines kerngesunden Ehemannes, der bedient zu werden verlangte, als läge er auf dem Sterbebett. »In Reykjavík läuft man höchstens Gefahr, auf dem Bürgersteig in Hundekot zu treten, aber hier in der beschissenen Provinz muss man wohl damit rechnen, dass tote Leute draußen herumliegen.«


»Þingvellir ist ein heiliger Ort und keine beschissene Provinz«, sagte Hervar.


»Das einzige >Vellir<, das wir von hier aus sehen, ist Nesjavellir, nicht Þingvellir«, sagte Ásdís. »Wir sind hier in Grafningur in nächster Nähe zu einem potthässlichen Moloch von Elektrizitätswerk.«


»Was soll denn das, Frau? Du tust gerade so, als wohnten wir in einer Art Slum«, sagte Hervar. Es nervte ihn immer wieder aufs Neue, wenn die exakte geografische Lage des Ferienhauses thematisiert wurde. »Soweit ich weiß, besitzt einer der reichsten Männer Islands das Ferienhaus hier neben uns. Ich weiß zwar nicht, was er verdient, aber ich weiß, dass sein letzter Arbeitgeber ihm eine ganze Milliarde dafür bezahlte, dass er aufhörte zu arbeiten.«


»Ach ja, gut, dass du das sagst. Willst du nicht rüberlaufen zu dem Banker und ihn bitten, seine Finger zu zählen, weil wir auf unserem Grundstück einen Finger zu viel haben?«, sagte Ásdís.


»Was soll denn dieser Unfug?«, fragte Hervar. »Wir haben uns doch gestern noch darüber unterhalten, dass wir niemanden in seinem Haus gesehen haben.«


»Dass wir kein Lebenszeichen im Ferienhaus gesehen haben«, sagte Ásdís. »Das ist ein Unterschied.«


»Du glaubst doch wohl nicht ...?«


Ásdís zuckte mit den Schultern. »Was weiß denn ich?


Sind diese Banker nicht alle in Geschäfte mit Russengold und der Mafia verwickelt?«


»Dieser nicht«, sagte Hervar.


»Woher willst du denn das wissen?«


»Ich weiß, was ich weiß«, antwortete Hervar.


»Ist das dein Ernst, dass du nicht verstehst, wovon ich rede?«, fragte Ásdís.


»Du meckerst schon wieder darüber, dass dieses feine Sommerhaus, das ich morgen zum doppelten Preis verkaufen könnte, nicht in Þingvellir ist«, sagte Hervar, der manchmal kurz davor war, sich der unerträglichen Aufrichtigkeit seiner Frau zu beugen.


»Hervar«, sagte Ásdís und sah ihn an. »Jetzt denk doch mal kurz nach. Wie kommt dieser Finger hierher?« »Du hast gesagt, Glámur hat ihn hergebracht.«


»Hältst du es für wahrscheinlich, dass der Kater diesen Finger draußen in der Natur gefunden hat?«


»Was weiß denn ich?«, fragte Hervar, kurz davor, eingeschnappt zu sein, weil sein Freund beschuldigt wurde.


»Hältst du es nicht für wahrscheinlicher, dass er sich durch irgendeine Ritze ins Ferienhaus hier nebenan gestohlen und ihn da gefunden hat?«


»Nein, jetzt hör aber mal auf«, sagte Hervar, der Glámur auf keinen Fall des Einbruchs bezichtigt sehen wollte.


»Und dir kommt auch nicht in den Sinn, dass wir in Gefahr sein könnten, wenn im Nachbarhaus zerstückelte Leichen liegen?«, stieß Ásdís aus. »Der Kater hat den Finger ja wohl kaum abgebissen. Man muss ihm seinen Fisch ja schon fast ins Maul stopfen. Ich weiß nicht, was hier passiert ist, aber ich fahre jetzt in die Stadt. Ich möchte mich nicht in Stücke schneiden lassen.«


»Das ist verdammte Nervenschwäche, Mensch«, sagte Hervar. »Dass du dir aber auch so einen Unsinn einfallen lässt. Das kommt davon, wenn man so viel Fernsehen glotzt.«


»Du entscheidest, was du machst«, sagte Ásdís. »Ich bleibe nicht hier und es wird eine Weile dauern, bis ich wieder herkomme.«


»Beruhige dich«, sagte Hervar. »Was ist das für eine Hysterie? Du stellst dich an, als könne man vor lauter toten Menschen keinen Fuß mehr auf den Boden setzen.«


»Und was ist das?«, fragte Ásdís und zeigte auf den Plastikbeutel.  


»Das ist nur ein Finger«, sagte Hervar. »Könnte aus einem Flugzeug gefallen sein. Immer fliegen irgendwelche Idioten hier über das Gelände.« »Um Leichen über dem See abzuwerfen?«


»Wie zur Hölle soll ich das wissen? Ich bitte dich, hör auf, dich so anzustellen, und zieh dir etwas an die Füße.


Es ist Zeit, dass wir uns mal bei unserem Nachbarn umsehen.«


»Das ist an und für sich völlig richtig«, sagte Ásdís und begann, ihre Schuhe zu suchen. »Er kann ja nicht besonders herrschaftlich wohnen, hat er sich doch nie dazu in der Lage gesehen, uns auch nur zu einer Tasse Kaffee einzuladen.«  

 


*****


Obwohl es kaum hundert Meter Fußweg zum Sommerhaus des Bankers waren, nahm Hervar seinen Spazierstock mit.


Ásdís sagte nichts. Sie ging hinter ihrem Ehemann her. Schaute direkt geradeaus und vermied es, unterwegs in das Gebüsch zu sehen. Sie blieb stehen, als Hervar die Veranda, die um das Sommerhaus führte, betrat und wartete, während er an der Haustür rüttelte und durch das Fenster lugte.


»Hier ist kein Schwein«, sagte Hervar. »Und es ist ausgeschlossen, dass der Kater hier reingelaufen ist.«


»Woher weißt du das?«, fragte Ásdís, die sich über die Schnelligkeit, mit der ihr Ehemann zu diesem Urteil gelangt war, wunderte.


»Weil hier das ausgefeilteste Einbruchssicherungssystem installiert ist, das ich jemals gesehen habe«, sagte Hervar. »Wenn hier eine Scheibe zerbricht, geht alles los, und bei der geringsten Bewegung im Innenraum beginnt das System zu piepsen. Und dann sind hier überall Überwachungskameras. Schau mal da. Und da.« Ásdís folgte dem Fingerzeig ihres Mannes bis zur Dachtraufe, ohne etwas zu entdecken, was einer Kamera ähnelte.


»Das ist nicht lustig«, sagte Hervar.


»Was denn?«


»Verstehst du nicht, dass uns gerade jemand beobachten kann? Das sind so vollkommene Geräte, dass der Besitzer uns jetzt auf seinem Computer oder seinem Mobiltelefon sehen kann. Was meinst du, wie das aussieht, wenn die Nachbarn in deine Fenster hineingaffen wie irgendwelche Perversen?«


»Das ist mir so was von egal«, sagte Ásdís. »Bist du sicher, dass nirgendwo ein Fenster offen steht?«


»Da bin ich mir absolut sicher«, antwortete Hervar.


»Aber am besten gehen wir einmal rundherum, jetzt, wo wir uns sowieso schon zu Deppen gemacht haben.«


Er war schnell fertig. »Hier ist alles abgeschlossen«, sagte er und blieb auf der Veranda stehen.


»Dann komm«, sagte Ásdís. »Wir sehen mal nach dem alten Sommerhaus.«


»Da ist doch nie jemand«, sagte Hervar.


»Komm.«


»Augenblick«, sagte Hervar.


Mit einem besorgten Blick beobachtete Ásdís ihren Mann, der in die Luft schaute und mit den Händen gestikulierte, die Handflächen vorzeigte und sich verbeugte, als wäre er kurz davor, ein Gebet zu sprechen. Dann fuchtelte er mit den Händen und zeigte auf sich selbst und danach auf die Tür und die Fenster. Verneigte sich dann tief und winkte noch einmal, bevor er von der Veranda sprang.


»Was sollte denn das darstellen?«, fragte Ásdís.


»Ich habe nur versucht, diesen Kameras zu verstehen zu geben, dass ich nachgeschaut habe, ob auch alle Fenster verschlossen sind und alles in Ordnung ist, damit der Mann nicht den Sicherheitsdienst oder die Polizei ruft.«


Das alte Sommerhaus auf der Halbinsel war seinerzeit wahrscheinlich von jemand Betuchtem erbaut worden, aber was damals groß war, wirkte jetzt klein. Im Norden des Hauses war ein dichtes Wäldchen, um das sich schon lange niemand mehr gekümmert hatte, und einige hochgewachsene Fichten schienen sich gegen die knorrigen kleinen Birken im Kampf ums Sonnenlicht durchgesetzt zu haben.              


Auf der Rückseite, vom See abgewandt, waren drei Fenster mit hölzernen Läden. Als die beiden näher kamen, sahen sie, dass sich am Südgiebel zwei Fenster befanden, die nicht durch Läden geschützt waren. Hervar versuchte, hindurchzulinsen, aber hinter den schmutzigen Scheiben behinderten ausgeblichene Vorhänge die Sicht. Ásdís stand hinter ihm und prustete in die Luft.


»Die Vorhänge sind zugezogen«, sagte Hervar. »Das ist ja nichts Unnormales.«


»Bemerkst du den Geruch nicht?«, fragte Ásdís und verzog das Gesicht.


Hervar tat seiner Frau den Gefallen und stellte sich neben sie, um zu schnuppern. Er verstand jedoch nicht, was sie meinte, bevor er um die Ecke des Hauses ging und vorsichtig auf die morsche Veranda an der Vorderseite des Sommerhäuschens stieg.


Er schnappte nach Luft und kämpfte gegen die Übelkeit an, als ihm klar wurde, dass der Verwesungsgeruch, der seine Sinne vernebelte, wahrscheinlich nicht von verdorbenen Lebensmitteln stammte.


Es bestand kein Zweifel daran, dass der Geruch aus dem Haus kam. Vier kleine Scheiben, rot, grün, blau und gelb, waren in der Haustür. Die gelbe Scheibe war zerbrochen. Sich hineinzubeugen und das Schnappschloss durch das Loch von innen zu öffnen, war einfach.


Hervar zögerte ein wenig und klopfte dann vorsichtig mit der Spitze seines Spazierstocks an die Tür.


»Warum klopfst du?«, fragte Ásdís. »Kein lebendiger Mensch kann es bei diesem Gestank da drin aushalten.«


Hervar gab seiner Frau keine Antwort, beugte sich zu der zerbrochenen Scheibe herab und rief: »Hallo, hallo!


Ist da jemand?«


Er versuchte, durch die Öffnung zu spähen, aber es war schwer, im abgedunkelten Häuschen etwas zu erkennen, wenn man an die klare Helligkeit draußen gewöhnt war.


Hervar steckte seine Hand hinein und tastete nach dem Schnappschloss. Öffnete dann die Tür und bedeutete seiner Frau, einzutreten.


»Bitte sehr«, sagte er. »Willst du dich nicht umsehen?«


»Lass uns zusammen gehen«, sagte Ásdís, nahm die Hand ihres Mannes und führte ihn hinter sich über die Schwelle ins Dämmerlicht des Häuschens.


Sie hielten inne, als sie den Raum betreten hatten. Hervar blieb jedoch nicht lange stehen, denn er riss sich von seiner Frau los und drehte um Richtung Veranda, wo er sich erbrach. Ásdís stand still, während sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnten. Sie war nicht allein im Wohnzimmer. Ganz langsam wurden drei Männer sichtbar. Zwei von ihnen saßen wie Skulpturen einander gegenüber an einem großen Tisch, der dritte stand mittig am Tisch und lehnte sich an die Wand.


Die Neugier überwog die Angst, also ging Ásdís näher.


Dass Glámur das morgendliche Geschenk für sie hier besorgt hatte, war offenkundig, denn der Hand des einen Mannes, der am Tisch saß, fehlten beide Daumen.


Diese Amputation war aber nicht das schrecklichste an dem Anblick, denn Ásdís sah, dass große Nägel durch die Hände und Arme beider Männer getrieben worden waren, um sie an der Tischplatte zu befestigen. Als sie herunterblickte, sah sie, dass auch ihre Füße an den Boden genagelt worden waren.


Der Mann, der an der Mitte des Tisches stand und den Kopf hängen ließ, lehnte sich nicht an die Wand, wie es ihr zunächst geschienen hatte ­ er war an die Vertäfelung genagelt worden.


Ásdís betrachtete dieses Bild wie in Trance. Ihre Atmung wurde schneller und schneller. Die Gesichter der Männer waren fürchterlich zugerichtet. Blutflecken waren auf dem Boden und an den Wänden. Sie wich einen Schritt zurück und trat auf etwas. Es war der andere Daumen. Ásdís empfand plötzlich ein starkes Schwindelgefühl, dann wurde es schwarz vor ihren Augen. Die furchterregenden Bilder verschwanden im Dunklen und sie sank nieder.


Das Letzte, was ihr durch den Sinn schoss, war: Ich bin noch nie ohnmächtig geworden. Wahrscheinlich muss ich sterben.