{8}Bei den Kafkas

Ertragen, um ertragen zu werden, ist das Hauptprinzip jeder Gemeinschaft.
Franz Grillparzer, TAGEBUCH, 1831
»Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt, durch das Vorzimmer Wort für Wort rufend, ob des Vaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt noch das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstüre wird aufgeklinkt und lärmt, wie aus katarrhalischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem Singen einer Frauenstimme und schließt sich endlich mit einem dumpfen, männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir von neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.«

GROSSER LÄRM betitelt Kafka dieses Prosastück, das er am 5.November 1911 im Tagebuch notiert und ein knappes Jahr später – da sich an den geschilderten Zuständen nicht das mindeste gebessert hat – in einer Prager Literaturzeitschrift abdrucken lässt: zur »öffentlichen Züchtigung meiner Familie«. [2]  Allerdings ist zweifelhaft, ob Hermann Kafka die Spur, die sein schleppender Schlafrock in der deutschen Literatur hinterließ, je mit eigenen Augen gesehen hat. Der Vater, obgleich ein stämmiger Mann und noch keine sechzig Jahre alt, durfte nicht ›aufgeregt‹ werden, das war Gesetz; sein Blutdruck war nicht in Ordnung, der Atem ging schwer, sein Herz machte ihm zu schaffen, {9}und für Humor, der auf seine Kosten ging, hatte er wenig Sinn. Die drei Schwestern hingegen empfingen ihre Belegexemplare gewiss kichernd: »Valli«, da stand es schwarz auf weiß; nicht einmal den Namen seiner mittleren Schwester hatte Franz unkenntlich gemacht.

Der Text war an einem Sonntag entstanden, und die wenigen Freunde, die von Kafkas privaten Verhältnissen wussten, erkannten wohl mit einem Blick den typischen Sonntagslärm. Denn jeder andere Morgen, der im vierten Stock des Prager Mietshauses Niklasstraße 36 anbrach, stand ganz unter dem Diktat des Berufslebens und ließ niemandem die Muße, still am Tisch zu sitzen und ein Protokoll der akustischen Verhältnisse anzufertigen.

Gewöhnlich gegen sechs Uhr früh begann der Alltag der Kafkas: Entfernen der Asche aus dem Küchenherd, Vorbereiten des Frühstücks, Einheizen im Wohnzimmer, Bereitstellen warmen Wassers zum Waschen – alles lästige und geräuschvolle Handarbeit, für die natürlich ein Dienstmädchen zuständig war. Dennoch musste Kafkas jüngste Schwester Ottilie, genannt Ottla, fast ebenso früh aus dem Bett finden. Denn ihre Aufgabe war es seit Jahren, allmorgendlich, nach hastigem Frühstück, mit einem Schlüsselbund in die Zeltnergasse zu eilen – nahe dem Altstädter Ring, das war beinahe ein Kilometer – und das dort ansässige ›Galanteriewaren-Geschäft Hermann Kafka‹ aufzusperren, vor dessen Eingang sich bereits um 7.15 Uhr das Personal einfand.

War Ottla aus dem Haus, wurde es auch für ihren Bruder hohe Zeit. Sein kleines, ungeheiztes Zimmer lag unglücklich zwischen dem Schlafzimmer der Eltern und der Wohnstube, und während auf der einen Seite das Geschirr klapperte, hörte er auf der anderen Seite das Flüstern der Mutter und das weniger rücksichtsvolle, laute Gähnen des Vaters, der sich mächtig im knarrenden Ehebett drehte. Dazwischen die Tür zum Flur, die mit Scheiben aus mattem, ornamentiertem Glas versehen war: Machte draußen jemand das Licht an, wurde es auch drinnen hell.

Eng und gedrängt ging es zu bei den Kafkas: Die sonore Stimme des Vaters war allgegenwärtig, Besucher wurden stets von der ganzen Familie empfangen, und ein Gespräch unter vier Augen bedurfte der Verabredung, wollte man sich nicht mit verstohlenen Zeichen begnügen. Dennoch ist Kafkas Aufzeichnungen nicht zu entnehmen, dass irgend jemand unter diesem Mangel an Intimität gelitten hätte – außer {10}ihm selbst natürlich, den am Sonntagmorgen (aber darüber konnte man nicht schreiben) stets eine leichte Übelkeit anflog, wenn er das zerwühlte Bettzeug der Eltern erblickte, nur wenige Schritte von seinem eigenen. Dabei durfte er sich nicht einmal beschweren: Immerhin war er das einzige Familienmitglied, das über ein eigenes Zimmer verfügte, während sich seine drei Schwestern Elli, Valli und Ottla jahrelang mit einem einzigen ›Mädchenzimmer‹ hatten abfinden müssen. Elli heiratete im Herbst 1910 und verließ die Wohnung. Doch noch immer teilte Kafka seinen Lebensraum mit fünf Erwachsenen (inklusive des Dienstmädchens), und es war nicht zuletzt die unwirtliche Stimmung des morgendlichen Aufbruchs, die ihn jetzt immer häufiger daran denken ließ, diesen Zustand zu beenden.

Es war wenig verlockend, den vergehenden Schlaf noch länger auszukosten, und während nebenan die notorischen Kanarienvögel (die nach ihrem Ableben immer wieder durch neue ersetzt wurden) in das allgemeine Geräusch einstimmten, eilte Kafka ins Bad, um sich mit peinlicher Sorgfalt zu waschen, zu kämmen und zu rasieren. Das eigene Bad war ein Luxus, den er besonders schätzte, und es war gewiss einer der wichtigsten Gründe gewesen, gerade diese Wohnung zu wählen: Es gab noch genug Behausungen in Prag – die Kafkas wussten es aus eigener Erfahrung –, in die das Wasser herbeigeschleppt werden musste, und das umständliche Hantieren mit Eimern und Waschschüsseln war nicht nur anstrengend, sondern auch langwierig. Mit den hygienischen Ansprüchen, die Kafka seit langem verfocht, war dies kaum zu vereinbaren – es sei denn, man ließ den Tag noch um einiges früher beginnen.

Auch das funktionell eingerichtete Badezimmer änderte freilich nichts daran, dass Kafkas Morgentoilette eine langwierige Prozedur war. Nur selten fand er die Zeit, sich länger als unbedingt notwendig am Frühstückstisch aufzuhalten, wo ihm Cakes, Milch und Kompott serviert wurden. Dienstbeginn für die Beamten der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war acht Uhr morgens, und der Weg dorthin war fast doppelt so weit wie der ins elterliche Geschäft. Kafka packte ein mit nichts belegtes Brötchen ein, und ohne auf den Lift zu warten – das dauerte viel zu lange – hastete er die vier Stockwerke hinab, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, eilte mit aufsehenerregend langen Schritten durch die Gassen der Prager Altstadt, grüßte endlich im Flug und als einer der Letzten den Pförtner der Anstalt und hastete {11}die Treppen hinauf zur ›Betriebsabteilung‹, wiederum vier Stockwerke hoch. » … so traf es sich oftmals«, erinnerte sich einer von Kafkas Kollegen, »dass ich ihn in rasendem Tempo ins Büro schießen sah.« [3]  Man konnte nach Kafka die Uhr stellen: auf Viertel nach acht.


Es sei, konstatierte er Jahre später, die »unmittelbare Nähe des Erwerbslebens«, die seine literarische Produktivität zuverlässig zum Stillstand bringe. [4]  Hätten seine Eltern diese Tagebuchnotiz je zu Gesicht bekommen, sie hätten sich ihren Sinn wohl erst mühsam zurechtlegen müssen. Ihr Leben war Erwerbsleben. Nicht, dass sie Privates und Öffentliches nicht rein voneinander geschieden hätten, im Gegenteil: Diese Demarkationslinie war streng bewacht, kein Angestellter des Galanteriewarengeschäfts (soweit wir wissen) hat je die Wohnung seines ›Prinzipals‹ betreten, und niemals wurden familiäre oder finanzielle Probleme vor den Ohren des Hauspersonals diskutiert. Doch die Kafkas führten ein Familienunternehmen, und das war im doppelten Sinn zu verstehen: Nicht nur gehörte das Geschäft der Familie – natürlich unter der stillschweigenden Erwartung, dies würde so bleiben für alle Zeiten –, sondern die Familie gehörte ebenso dem Geschäft. Dass Kafkas Großvater Jakob Löwy noch im Alter von über achtzig Jahren mithalf, galt als selbstverständlich. Wurde juristischer Beistand benötigt, ging man zu Anwälten, mit denen man verwandt war. Und dass der Stundenplan des Lebens den allgemeinen Öffnungszeiten folgte, war schon derart verinnerlicht, dass Kafkas Eltern sich in der erzwungenen Untätigkeit kurzer Ferien- oder Kuraufenthalte niemals recht wohl fühlten. Nicht vom Geschäft erholte man sich, sondern für das Geschäft. Selbst an den Wochenenden im Hochsommer, wenn die Familie ein gemietetes Ferienhäuschen in der näheren Umgebung aufsuchte, kam es vor, dass Hermann Kafka noch ein paar Stunden allein im Geschäft arbeitete, ehe er sich den anderen anschloss.

Über das wirtschaftliche Schicksal des ›Geschäfts‹, um das die Gespräche der Eltern kreisten, soweit ihre Kinder zurückdenken konnten, ist Kafkas Selbstzeugnissen wenig zu entnehmen. Es ging langsam, doch stetig aufwärts, aber es muss auch zu bedrohlichen Einbrüchen gekommen sein, über deren Ursachen sich nur spekulieren lässt. Es war eine empfindliche Branche, auf welche die Kafkas sich eingelassen hatten, denn sie handelten en gros mit Gegenständen, {12}die entbehrlich waren: Schirme, Spazierstöcke, Handschuhe, Taschentücher, Knöpfe, Stoffe, Taschen, feine Unterwäsche, Muffs … alles ›Accessoires‹, auf die man in schlechten Zeiten zuerst verzichtete und deren Absatz daher ein guter Indikator des allgemeinen Lebensstandards war. Dennoch gelang es, das Geschäft im Herbst 1912 an eine der repräsentativsten Adressen Prags zu verlegen: in das Kinsky-Palais am Altstädter Ring, dasselbe Gebäude, in das einst Kafka zur Schule gegangen war. Der Umzug dorthin führte eigentlich nur um die Ecke, kaum hundert Meter waren zu überbrücken. Doch das Ladenschild am zentralen Platz der Prager Altstadt bedeutete einen Zuwachs symbolischen Kapitals, das sich bald auch in klingender Münze auszahlte.

Kein Zweifel, dass Kafka die niemals endenden Sorgen des Kaufmanns als den Brennstoff wirtschaftlicher Unabhängigkeit erlebte und dass er über diese Sorgen Tag für Tag und aufs genaueste unterrichtet wurde: gleichsam ein Existenzial des Familienlebens. Selbst wenn er absichtsvoll weghörte – und das geschah immer häufiger, seit er eigene berufliche Probleme hatte –, beherrschte doch auch ihn die verwickelte und ungemütliche Agenda, die das Geschäft allen aufzwang. Verließ er morgens das Haus, so setzte sich der Vater eben zum Frühstück. Gewöhnlich erst gegen 8.45 Uhr stellte sich auch der Chef hinter die Ladentheke, Julie Kafka wohl noch später, da sie mit dem Dienstmädchen und mit Valli, die sich um den Haushalt kümmerte, noch allerlei zu besprechen hatte und auch selbst Einkäufe erledigte. Zwischen 13 und 14 Uhr kamen die Eltern zurück, und das Essen wurde aufgetragen. Wiederum Ottla war es, die dafür zu sorgen hatte, dass die Angestellten nicht unbewacht blieben, das warme Essen wurde ihr daher meist ins Geschäft getragen. Kam Kafka aus dem Büro nach Hause, gewöhnlich gegen 14.30 Uhr, erhoben sich die Eltern eben vom Tisch, ruhten vielleicht noch einen Augenblick im Lehnsessel und gingen dann zurück ins Geschäft. Ottla hatte um 16 oder 17 Uhr endlich Feierabend (bei einem freien Nachmittag pro Woche), die Eltern erst um 20 Uhr. Dazwischen erschien und verschwand ›das Fräulein‹, eine Tschechin namens Marie Wernerová, die ebenfalls im Haushalt diente und die im Laufe vieler Jahre zum Faktotum der Familie wurde.

Lang waren die Abende, ehe endlich Ruhe einkehrte. Erst gegen 21.30 Uhr wurde die letzte Mahlzeit eingenommen, zumeist wohl die {13}›Reste‹ vom Mittag, während Kafka, ein ebenso unbelehrbarer wie anspruchsvoller Vegetarier, unter den verächtlichen Blicken seines Vaters ein ganzes Sortiment von Tellern und Schüsselchen um sich aufbaute, wahlweise mit Joghurt, Nüssen, Kastanien, Datteln, Feigen, Trauben, Mandeln, Rosinen, Bananen, Orangen oder sonstigem teuren Obst, dazu ein wenig Vollkornbrot.

Zum guten Schluss eine Stunde Freizeit, die Hermann Kafka mit der Abendausgabe des Prager Tagblatts und beim Kartenspiel verbrachte: am liebsten natürlich mit männlichen Verwandten, im Alltag notgedrungen mit seiner Frau, die sich diesem Schicksal längst ergeben hatte und die bisweilen, nach aufreibendem Arbeitstag, noch bis 23 Uhr oder länger beim ›Franzefuß‹ saß. Für dieses Spiel, fand Kafka, brauche man weniger Verstand als zum Holzhacken. Zu sagen wagte er das natürlich nicht, doch das ewige Pfeifen, Singen, Hohngelächter und Karten-auf-den-Tisch-Hämmern ging ihm derart auf die Nerven, dass er sich, trotz väterlicher Kommandos, nur selten dazu überwinden konnte, mitzumachen. Lieber setzte er sich, eine Wolldecke um die Beine gewickelt, in sein kaltes Zimmer. Irgendwann musste doch auch der Vater müde werden. Dann würde sein Schlafrock wieder durchs Zimmer schleifen, in umgekehrter Richtung. Die Tür zum elterlichen Schlafzimmer würde sich schließen, und ein zweites, ein anderes Leben würde beginnen, das nächtliche Leben des Schriftstellers Franz Kafka.


Es kam vor, dass die Eltern für eine oder zwei Wochen nach Franzensbad fuhren, ein böhmisches Kurstädtchen, gepriesen als »Österreichs hervorragendstes Herzheilbad«. Der Hausarzt bestand darauf. Doch wer bewachte inzwischen das Geschäft? Elf Stunden lang am Verkaufstisch zu stehen, das war Ottla schlechterdings nicht zuzumuten, auch wenn es in der Hochsaison im Herbst bisweilen passierte. Dann musste also Franz aushelfen. Er ging am späten Nachmittag in den Laden, sichtete die eingegangene Post (darunter auch alles Private, das der Briefträger stets hier ablieferte), beruhigte die Eltern brieflich über Umsatz und Lieferungen, verabschiedete endlich die Angestellten, verriegelte die Eingangstür und trug den Schlüsselbund nach Hause. Keine große Sache. Es machte ihm nichts aus, mit dem Personal ein wenig zu plaudern, deutsch oder tschechisch, und vom Lehrjungen bis zum Buchhalter waren alle froh, wenn eine Zeit lang statt des polternden {14}Prinzipals dessen höflicher Sohn erschien, der selbst vor den einfachsten Tätigkeiten eine Art von Respekt bezeugte. Dachte dann Kafka im Stillen darüber nach, welche Energien das Geschäft von jeher einsaugte und verzehrte, wie es das Denken und Fühlen aller überschattete, dann begann er es zu hassen. Doch er hasste es nicht, wenn er dort war.

Auch im Büro war Kafka allgemein geschätzt. Ein wenig undurchsichtig wirkte er, zugegeben, und sein ewiges Lächeln ließ nicht erkennen, ob es ihm gut oder schlecht ging, ob die Arbeit und seine Karriere in der Arbeiter-Unfall-Versicherung ihn befriedigte oder nicht. Doch er war zuvorkommend, auch gegen Büroboten und Tippfräulein, er beteiligte sich weder an den üblichen Amtsintrigen noch an dem nationalen politischen Palaver zwischen Deutschen und Tschechen, er zeigte selten Launen und niemals das Bedürfnis, ein Revier zu verteidigen.

Auch seine Vorgesetzten wussten längst, was sie an ihm hatten, und sie sorgten dafür, dass Kafka die unteren Ebenen der Beamtenhierarchie möglichst rasch hinter sich ließ: Im Oktober 1909, nach kaum mehr als einem Jahr, wurde er zum ›Anstaltspraktikanten‹ ernannt, im Mai 1910 zum ›Concipisten‹, im Februar 1911 zum Bevollmächtigten der Anstalt und bald darauf auch zum stellvertretenden Abteilungsleiter. Kafkas unmittelbare Vorgesetzte, Eugen Pfohl und der Leitende Direktor Dr.Robert Marschner, verfolgten damit gewiss auch ein eigenes Interesse. Denn nur mittels formeller Beförderungen war es möglich, Kafka von bloßen Routinetätigkeiten abzuziehen und ihm komplexere Aufgaben zu übertragen, die seinen Fähigkeiten besser entsprachen und bei denen er die Chefs tatsächlich entlasten konnte.

Eine der wesentlichen Aufgaben der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt war es, einem seit zwei Jahrzehnten bestehenden und noch immer heftig umkämpften Gesetz endlich Geltung zu verschaffen: der Beteiligung der Unternehmer an der Unfallversicherung ihrer Arbeiter. Kafka hatte zunächst lernen müssen, wie man Beiträge festsetzt: je höher die Zahl der Unfälle, desto höher der Pro-Kopf-Beitrag des Unternehmers. Die Unfallstatistiken, die man dazu benötigte, wurden von hauseigenen Mathematikern erstellt und ausgewertet, die endgültige ›Einreihung‹ der Betriebe in eine der ›Gefahrenklassen‹ erfolgte dann nach einem ausgeklügelten Schema und unter Beratung durch technisch ausgebildete ›Kontrollore‹.

Nun ließ es sich freilich kaum ein böhmischer Unternehmer gefallen, dass man seinem Betrieb überdurchschnittlich viele oder gar vermeidbare Unfälle bescheinigte. Zu Hunderten und zu Tausenden wurden Widersprüche eingelegt, sogenannte Rekurse, und zahllose Beschwerden gegen die sturen Prager Beamten gingen über deren Köpfe hinweg ans Innenministerium in Wien. Denn was hieß ›überdurchschnittlich‹, und was war ›vermeidbar‹? Konnten Juristen und Versicherungsexperten – mithin Leute, die als Handwerkszeug nur Feder und Tinte kannten – hier überhaupt mitreden?

Tatsächlich war dies der verletzbarste Punkt in Kafkas Behörde. Legte ein Unternehmer Widerspruch ein, so musste man ihm nachweisen, dass der Unfallschutz in seinem Betrieb nicht auf neuestem Stand war. Was aber war der neueste Stand? Das ließ sich durch Dekrete nicht ein für alle Mal festlegen, sondern musste ständig neu erkundet werden, und, wenn möglich, durch Augenschein. Diese technische Kompetenz hatte sich der Jurist Kafka sehr rasch angeeignet, er hatte entsprechende Lehrgänge besucht und die nordböhmischen Industriestädte bereist. Auf seinem riesigen Büroschreibtisch lagen neben den schwankenden Stapeln eingegangener Rekurse stets auch Fachzeitschriften für Unfallschutz, und zumindest in den Branchen, auf die er sich spezialisiert hatte – das waren vor allem die holzverarbeitende Industrie sowie Steinbrüche –, gab es wohl nur wenige Praktiker, die über technische Details so virtuos verfügten wie Kafka.

Eine weitere Kompetenz kam hinzu, die sich für die ›Anstalt‹ als außerordentlich nützlich erwies: Kafkas sprachliche Wendigkeit. Denn der soziale Auftrag, den diese halbstaatlichen Versicherungen hatten, bestand ja nicht nur darin, Unfälle finanziell abzustrafen, sondern ihnen auch vorzubeugen, und das ließ sich nur durch Propaganda, Aufklärung und durch vorsichtigen Druck erreichen. So wurden in den Jahresberichten der Anstalt immer wieder technische Belehrungen zum Unfallschutz veröffentlicht, mit denen man den Unternehmern zu vermitteln suchte, was man für den unabdingbaren Standard hielt. ›Unfallverhütungsmaßregel bei Holzhobelmaschinen‹ hieß einer dieser Aufsätze, der für eine neue, sichere Hobelwelle werben sollte. Ein propagandistisches Glanzstück, das mit Abbildungen zerschnittener Hände schockierte und zugleich an den wirtschaftlichen Eigennutz appellierte: Die weniger unfallträchtige Technik sei doch auch die billigere, wurde versichert. Gezeichnet ist dieser Aufsatz {16}nicht, doch wir wissen, dass niemand anderer als Kafka ihn verfasst hat. [5]  

Auch im mündlichen Umgang mit aufgebrachten Beschwerdeführern muss Kafka sich früh bewährt haben. Als im September 1910 die Kleinunternehmer des Bezirks Gablonz einen Vertreter der Prager Versicherung ›einluden‹ – in Wahrheit wohl herbeizitierten, um endlich einmal Dampf abzulassen –, war es wiederum Kafka, der für diese Aufgabe nominiert wurde. Sein Auftritt, dem er mit begreiflicher Nervosität entgegensah, wurde in der Tagespresse angekündigt, und der ausführliche Bericht über die Versammlung, der dann in der Gablonzer Zeitung nachzulesen war, lässt ahnen, mit welcher sozialen Ignoranz man es in der böhmischen Provinz noch immer zu tun hatte. Trotz aller Beschwichtigungsversuche sah sich Kafka massiven Angriffen ausgesetzt, bis hin zu dem absurden Vorwurf, die Anstalt verhalte sich schikanös und Unfallschutz halte nur den Betrieb auf. ›Gedanken und Augen bei der Arbeit, das ist der beste Schutz gegen jeden Unfall‹, schimpfte einer der Unternehmer.

Solche Sätze hörte und las Kafka wohl täglich, und seine im Büro entstandenen Texte lassen erkennen, dass er sich alle erdenkliche Mühe gab, sie zu entkräften. Seine früh im Tagebuch einsetzenden Klagen über die eintönige Fron vermitteln gewiss nicht die ganze Wahrheit: War Kafka im Amt, dann war er auch bei der Sache, und seine beständige Furcht, den Anforderungen nicht zu genügen, bezog sich eher auf die schiere Menge der zu erledigenden Korrespondenz als auf die berufliche Verantwortung selbst. Durchaus möglich, ja wahrscheinlich ist, dass Kafkas Kollegen die ihnen zugewiesenen Fälle schneller bearbeiteten. An Sorgfalt nahm es wohl keiner mit ihm auf, und dass Kafka darüber auch Befriedigung verspürte, lässt sich schon daran ermessen, dass er seine ›Amtlichen Schriften‹ vor den literaturbesessenen und technikfernen Freunden keineswegs versteckte.

Dennoch wuchs die Überzeugung und allmählich auch die Qual, unwiederbringliche Ressourcen zu verschwenden an Dinge, die ihn im Innersten nichts angingen. Er hasste die Anstalt von außen, nicht anders als das elterliche Geschäft, und wenn er nach Dienstschluss gegen 14 Uhr aus dem großen Portal in das Licht und den Lärm der Straße trat, packte ihn Widerwille bei dem Gedanken, am nächsten Morgen dort wieder hineinzumüssen und womöglich noch froh zu sein, wenn die Zeit verging. Ihm war, als habe er die Hälfte seines Lebens {17}verkauft, als beginne jeder Lebenstag um zwei Uhr mittags, und nur ein flüchtiger Trost war es, dass andere weitaus härter arbeiteten. Gewiss, er hatte einen der begehrten Posten ergattert, die den Lebensunterhalt sicherten und dennoch die Nachmittagsstunden frei ließen. ›Einfache Frequenz‹ nannte man das in der Behördensprache, und Kafka hatte genügend Einblick in das böhmische ›Erwerbsleben‹, um zu wissen, dass er damit zu den Privilegierten zählte. Doch es war nicht die vergeudete Zeit allein.

Am 19.Februar 1911 blieb der Anstaltsbevollmächtigte Dr.Kafka zu Hause, und auf dem Schreibtisch seines Vorgesetzten Eugen Pfohl langte ein Entschuldigungsbrief ein, wie ihn diese Behörde wohl noch niemals gesehen hatte:

»Wie ich heute aus dem Bett steigen wollte bin ich einfach zusammengeklappt. Es hat das einen sehr einfachen Grund, ich bin vollkommen überarbeitet. Nicht durch das Bureau aber durch meine sonstige Arbeit. Das Bureau hat nur dadurch einen unschuldigen Anteil daran, als ich, wenn ich nicht hinmüsste, ruhig für meine Arbeit leben könnte und nicht diese 6 Stunden dort täglich verbringen müsste, die mich besonders Freitag und Samstag, weil ich voll meiner Sachen war gequält haben dass Sie es sich nicht ausdenken können. Schliesslich das weiss ich ja ist das nur Geschwätz, schuldig bin ich und das Bureau hat gegen mich die klarsten und berechtigsten Forderungen. Nur ist es eben für mich ein schreckliches Doppelleben, aus dem es wahrscheinlich nur den Irrsinn als Ausweg gibt. Ich schreibe das bei gutem Morgenlicht und würde es sicher nicht schreiben, wenn es nicht so wahr wäre und wenn ich sie nicht so liebte wie ein Sohn.
Im übrigen bin ich morgen schon wieder sicher beisammen und komme ins Bureau, wo ich als erstes hören werde, dass Sie mich aus Ihrer Abteilung weghabenwollen.« [6]  

Eine Kostprobe des entwaffnenden Charmes, mit dem Kafka gerade in verzweifelten Situationen zu brillieren vermochte. Dass Pfohl diesen Brief unmöglich in der Personalakte abheften konnte, muss Kafka klar gewesen sein (und überliefert ist der Wortlaut nur, weil er ihn zuerst im Tagebuch formulierte), doch offenbar war er sich völlig sicher, dass dies nicht geschehen würde: Nein, Pfohl wollte ihn keineswegs »weghaben«, und diesen Trumpf spielte hier Kafka nicht zum letzten Mal.

Heute käme es wohl keinem Angestellten in den Sinn, dem eigenen ›Chef‹ ein derartiges Beweisstück der eigenen mangelnden Motivation zu liefern. Aber auch in Kafkas beruflichem Umfeld, das weniger vom {18}Arbeitsrecht als von den Gesetzen der Protektion beherrscht wurde, war eine derartige Überlagerung persönlicher und dienstlicher Mitteilungen gewiss ungewöhnlich: eine Verletzung der Spielregeln, die sich nur leisten konnte, wer besonderes Vertrauen genoss.

Was aber hatte es mit jener ominösen »sonstigen Arbeit« auf sich, die Kafka für seine Erschöpfung verantwortlich macht, was sind das für »Sachen«, die ihn derart ausfüllen, dass für die beruflichen Pflichten kein Raum mehr bleibt? Er belässt es bei Andeutungen, ganz so, als müsse der Adressat verstehen, worum es geht. Tatsächlich ist Kafkas Brief ein klares Indiz dafür, dass er seine nächtlichen Aktivitäten, die er beharrlich und provozierend immer wieder als »Arbeit« auszeichnete, seiner Behörde keineswegs verschwieg, ja mehr noch, dass er sogar mit einer gewissen Nachsicht rechnen konnte.

Es waren vor allem Juristen, Versicherungsexperten, Unternehmer und Ingenieure, mit denen er den beruflichen Alltag teilte, doch keinesfalls hat man sich diese Szene als illiterat vorzustellen. Eugen Lederer, Direktor der Unfall-Abteilung und Besitzer einer Brauerei, veröffentlichte Lyrik in tschechischer Sprache, sein Assistent Krofta war literarisch nicht weniger ambitioniert. Der im Nebenzimmer arbeitende Alois Gütling, der Kafka jahrelang mit technischen und statistischen Berechnungen zuarbeitete, ein zarter, stets elegant gekleideter Wagnerianer, publizierte drei Gedichtbände, angeblich sogar auf Kafkas Rat und Vermittlung. Schließlich Direktor Marschner, der mit Kafka »Kopf an Kopf aus einem Buch Gedichte von Heine« las, »während im Vorzimmer Diener, Bureauchefs, Parteien, vielleicht mit den dringendsten Angelegenheiten, ungeduldig darauf warteten vorgelassen zu werden«. [7]  So anekdotisch es klingt: Derartige Vorfälle waren gewiss nicht selten. Denn Marschner, der auch eine Reihe sozialpolitischer Schriften verfasste, war kein Freizeitleser, sondern stellte zu Goethe, Stifter und Nietzsche eigene Forschungen an, für die er später sogar den Karlsbader Goethe-Preis erhielt. Kein Wunder, dass Kafka von der Klugheit seines obersten Vorgesetzten stets mit Begeisterung erzählte, während wiederum Marschner das ewige Zuspätkommen seines belesenen, sprachgewandten und als Lektor äußerst hilfreichen Juristen absichtsvoll übersah.

Freilich war es zweierlei, literarische Interessen zu pflegen oder, wie Kafka dies in seinem Brief an Pfohl riskierte, das Schreiben zu einer Hauptsache, einer Bestimmung zu erklären, die sich nur um den Preis {19}des Irrsinns unterdrücken ließ. Auch der gebildete Marschner, der ja selbst eine Art von »Doppelleben« führte, hätte für einen derart radikalen Anspruch wohl kaum Verständnis aufgebracht. Überschätzte sich Kafka nicht? ›Dichten‹ war eine Tätigkeit, an der sich im deutschsprachigen Bürgertum Prags jeder zweite Jüngling irgendwann versucht hatte, und die wenigen Seiten, die Kafka bislang in Zeitschriften veröffentlicht hatte, ließen zwar Begabung erkennen, doch keinesfalls die Sonderstellung, die er für sich selbst zu reklamieren schien. Pfohl und Marschner wären entsetzt gewesen, hätten sie zu Gesicht bekommen, was Kafka unmittelbar nach seinem Entschuldigungsbrief im Tagebuch notierte: »zweifellos«, hieß es da, »bin ich jetzt im Geistigen der Mittelpunkt von Prag«. Das war unendlich weit entfernt von jeder sichtbaren Realität, es war Wahnsinn – auch wenn Kafka diesen Satz mit dichtester Schraffur sogleich unlesbar machte.

Solche Augenblicke des freien Flügelschlags waren indessen selten, und Kafkas Platz war niemals der Mittelpunkt – wovon auch immer. Er wusste sich nicht zu fassen, nicht zu verorten. Vor allem fehlte gerade dort, wo die Menschen ihm am nächsten an den Leib rückten, jede Möglichkeit der Aussprache und damit auch jede Ermutigung, Differenzierung und Korrektur, von sachhaltiger Kritik ganz zu schweigen. Mit Missbehagen beobachteten Kafkas Eltern, dass ihr einziger Sohn, der seinem dreißigsten Lebensjahr entgegensah, den Zeitvertreib seiner Jugend noch immer nicht aufgeben wollte. Stapel von Schulheften schrieb er voll, ein erwachsener Mensch, und opferte dafür den Nachtschlaf. Machte man ihm Vorhaltungen wegen der Unvernunft dieser Lebensweise, so konnte er entgegnen, dass er doch wohl gesünder lebe als alle anderen: Er ging spazieren, schwimmen, wandern, er rauchte nicht, trank nicht, verzichtete auf Tee, Kaffee und tierisches Fett. Aber er übertrieb eben auch die Gesundheit, wie alles. Kam er am frühen Abend von einem Spaziergang zurück, so erfuhr die staunende Familie, dass er mit seinem Eilschritt bis weit hinaus in Dörfer gelangt war, wohin andere nur mit dem Zug fuhren. Machte er einen Sonntagsausflug mit Freunden, so saß er anschließend sonnenverbrannt am Tisch wie ein Urlauber. In den heißen Sommermonaten ging er Tag für Tag in die ›Civilschwimmschule‹ – das wenige Minuten entfernte Bad an der Moldau –, oder er fuhr mit dem eigenen Ruderboot, ließ sich kilometerweit treiben, um sich dann mühsam wieder flussaufwärts zu arbeiten. Zu schweigen von den absonderlichen {20}Turnübungen, die er auch bei frostiger Kälte am offenen Fenster absolvierte, beinahe nackt und selbstverständlich nach Anleitung durch einen international anerkannten Turnlehrer, dessen Broschüre MEIN SYSTEM stets aufgeschlagen daneben lag: »Müllern« nannte man das. Er solle nur aufpassen, raunzte Kafkas Vater, dass er nicht zu einem zweiten Onkel Rudolf werde.

Das war eine gewichtige und durchaus bedenkenswerte Drohung. Denn Onkel Rudolf war der Narr der Familie, ein bescheidener, ängstlicher, dabei aber geschwätziger Mensch, der ein einsames Leben als Buchhalter und Junggeselle zubrachte, scheinbar ohne zu altern und ohne sichtbare Entwicklung, ein Hypochonder mit allerlei unenträtselbaren Spleens. Äußere Ähnlichkeiten gab es genug, das konnte Kafka nicht leugnen, und selbst seine Mutter, die gegen den Vergleich anfangs protestiert hatte, wurde allmählich stiller. Sie liebte ihren Sohn, und wenngleich sie den lebenstüchtigen Pragmatismus Hermanns durchaus teilte, suchte sie doch stets dessen grobe Attacken abzufedern und zu relativieren, ganz unabhängig von ihrem sachlichen Gehalt. Auch sie aber erkannte in Franz schon lange nicht mehr das eigene ›Blut‹, wie abwesend saß er am Tisch, scheinbar desinteressiert am Schicksal des Clans, heiter bisweilen, wenn er aus dem Kino kam oder eine auffallende Figur parodierte, die ihm begegnet war, dann wieder stumm und unzugänglich durch die Wohnung schleichend, der Schatten der Familie. Ja, bisweilen glaubte sie ihren Halbbruder Rudolf, den Sonderling, besser zu verstehen als den eigenen Sohn.

»Ich lebe in meiner Familie«, resümierte Kafka wenig später, »unter den besten liebevollsten Menschen fremder als ein Fremder. Mit meiner Mutter habe ich in den letzten Jahren durchschnittlich nicht zwanzig Worte täglich gesprochen, mit meinem Vater kaum jemals mehr als Grußworte gewechselt. […] Für die Familie fehlt mir jeder mitlebende Sinn.« [8]  Nach allem, was wir wissen, war das keineswegs übertrieben; die ganze Wahrheit war es jedoch ebenso wenig. Denn Kafka war durchaus dazu fähig, die Bedürfnisse, Freuden und Begrenztheiten der anderen so intensiv sich vor Augen zu führen, ja zu durchfühlen, dass er an deren Leben nicht nur teilnahm, sondern es gleichsam innerlich simulierte. Während die Eltern stets gefangen blieben im eigenen Erfahrungs- und Empfindungshorizont und niemals auch nur ahnten, dass sich unmittelbar neben ihnen, verborgen {21}hinter einer unschuldigen Stirn, ein ›Weltinnenraum‹ von ungeheurer Ausdehnung öffnete.

Dieses steile Gefälle vermochten auch die drei Schwestern nur geringfügig zu mindern. Ottla, die Jüngste, war die Einzige, die das Vertrauen des Bruders gewann, und sie wusste daher als Erste – und signalisierte es vermutlich auch den anderen –, wann es an der Zeit war, Franz in Ruhe zu lassen. Da sie den ganzen Tag im Geschäft verbrachte, konnte wiederum Kafka manches erfahren, was die Eltern unter der Decke hielten oder nur auf höchst parteiische Weise berichteten: Streitigkeiten mit den Angestellten, Misserfolge, Ärger mit den Behörden. Was von dem gewohnheitsmäßigen und ausdauernden Schimpfen des Vaters zu halten war, wusste die Familie ohnehin: Es richtete sich wahllos gegen Menschen, Unannehmlichkeiten, Zustände, doch wörtlich nehmen musste man nichts davon. Anders als ihr Bruder ließ es Ottla allerdings nicht damit bewenden, wegzuhören; sie war durchaus auch bereit, die Partei des niedersten Personals zu ergreifen, wenn die Ungerechtigkeit des Vaters offensiv und beleidigend wurde, und sie bekräftigte damit wiederum dessen Verdacht, im eigenen Geschäft von ›bezahlten Feinden‹ umgeben zu sein.

Dass Ottla nicht immer die taktisch besten Augenblicke wählte, um ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren, war offensichtlich und mangels weiblicher Vorbilder auch kaum zu vermeiden: Sie ›trotzte‹, war empfindlich und zeigte die Labilität des Teenagers – ein Mädchen, das seinen neunzehn Jahren keineswegs voraus war. Und was die Aussicht auf eine künftige Ehe betraf, die den Knoten vielleicht mit einem Hieb lösen würde, so war und blieb sie die Letzte in einer von den Eltern rigoros überwachten Warteschlange. »Du bist noch ein Kind«, schrieb ihr die Mutter, als ein vorzeitiger Bewerber auftauchte. »Erst werden Deine zwei Schwestern an die Reihe kommen, Du hast noch viel Zeit dazu. Schreibe ihm, dass Dich Deine Eltern noch lange nicht heiraten lassen … « [9]  Diesen Aufschub scheint Ottla dazu genutzt zu haben, die luftige, clowneske Rolle der Jüngsten noch ein wenig länger in Anspruch zu nehmen, und sie gab Widerworte, die den angepassteren Schwestern kaum je über die Lippen kamen.

Für den Trotz, ja die Sturheit eigenständig gewonnener Überzeugungen hegte Kafka tiefste Sympathie, wie unreif sich das im Alltag auch ausnehmen mochte. Selbst er, ein wohlversorgter Beamter, ein Mann mit allen Freiheitsgraden seines Alters und Geschlechts, musste {22}sich immer wieder gewaltsam versteifen, sich psychisch förmlich festhaken, um gegenüber den eigenen Eltern zu bestehen und ihre Interventionen abzuweisen – wie erst die abhängige, wenig gebildete und ihres künftigen Wegs noch völlig unsichere Ottla. Er versuchte sie zu bestärken, half ihr im Umgang mit Büchern, brachte Nachrichten aus dem Prager Kulturleben und las ihr vor. Auch der eigentümliche missionarische Eifer, mit dem Kafka die fachmännische Pflege des eigenen Körpers verfocht, beeinflusste und beeindruckte die Schwester: Sie fing an zu turnen und entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einer strengen Vegetarierin. Als Kafka sich schließlich für die Prager zionistische Szene zu interessieren begann, ging Ottla sogleich einen Schritt weiter und trat dem ideologisch höchst anspruchsvollen ›Verein jüdischer Mädchen und Frauen‹ bei.

Die Richtung stimmte. Freilich bedachte Kafka nur selten, dass Ottla, die mit Freundlichkeit leicht zu lenken war, auch eigene, fremde Potenziale barg. Ihre sozialen Bedürfnisse und Fähigkeiten waren weit stärker ausgeprägt als die seinen, und mit einer Art abstrakter Bewunderung, doch durchaus nicht mit ungetrübter Freude beobachtete er ihre zunehmende moralische Kompromisslosigkeit. 1914 begann Ottla, ihre freien Sonntage in einer Blindenanstalt zu verbringen, wo sie vorlas, Zigaretten verteilte und Freundschaften schloss.

»Ein allerdings etwas gefährliches und schmerzliches Vergnügen. Was man sonst mit Blicken ausdrückt, zeigen die Blinden mit den Fingerspitzen. Sie befühlen das Kleid, fassen den Ärmel an, streicheln die Hände und dieses grosse starke, von mir leider, wenn auch ohne Schuld, vom richtigen Weg ein wenig abgelenkte Mädchen nennt das ihr höchstes Glück. Weiss, wie sie sagt, erst dann, warum sie glücklich aufwacht, wenn sie sich an die Blinden erinnert.« [10]  

Man hört die Sorge und den lebenspraktischen Verstand der Eltern, vielfach gedämpft, doch unverkennbar. Erst, als Kafka schließlich erfuhr, dass Ottla ganz auf eigene Verantwortung eine Liebesbeziehung eingegangen war, mit einem Mann, der kein Jude und nicht einmal Deutscher war – erst in diesem Moment dürfte ihm klar geworden sein, dass sich Ottla auch von ihm emanzipieren musste, um die gemeinsame geschwisterliche Fluchtbewegung an ein Ziel zu bringen. Ja, es war richtig, auch »unterdrückt« hatte er sie, wie er im Tagebuch notierte, nachdem er einen Brief von ihr gelesen und dort seine eigenen Wendungen wiedergefunden hatte: »Als hätte es mein Affe geschrieben. {23}« [11]  Doch sie machte sich frei, und Kafka, der um neun Jahre Ältere, Klügere, Erfahrenere, hatte das Nachsehen im buchstäblichen Sinn. Dass die spätere, gut ausbalancierte Freundschaft zur Schwester gerade dadurch erst möglich würde – das war dem trotzigen Mädchen noch längst nicht anzusehen.


»Nicht zwanzig Worte täglich« … das war allerdings schwer zu glauben für jemanden, der die Kafkas nicht aus der Nähe kannte. Wehte denn dort schon immer so eisige Luft? – Keineswegs. Es hatte einen Bruch gegeben, einen Verrat. Und Franz besetzte dabei die Hauptrolle.

Am 27.November 1910 hatte Kafkas Schwester Elli, damals einundzwanzig Jahre alt, den um sechs Jahre älteren Geschäftsmann Karl Hermann geheiratet. Natürlich war dies eine arrangierte Ehe, und weder den Eltern noch Elli selbst wäre es in den Sinn gekommen, das sozial heikle Andocken einer fremden Familie und das künftige Schicksal des schwer erkämpften Vermögens einer verliebten Laune zu überlassen. Niemals, so weit man zurückdenken konnte, war das bei den Kafkas und den Löwys anders gehandhabt worden, und sie selbst, die Eltern, waren ja der lebende Beweis dafür, dass auf diese Weise auch durchaus glückliche oder zumindest funktionierende Ehen zustande kamen, stabile Bündnisse, die fortdauerten bis in den Tod.

Einzelheiten über die ›Anbahnung‹ von Ellis Ehe sind nicht überliefert, und darum wissen wir auch nicht, wie groß die Auswahl geeigneter Kandidaten war, mit denen die herbeigerufene jüdische Vermittlerin aufwarten konnte. Sicherlich gab es das eine oder andere diskrete Treffen, bei dem der Vater die Geschäftstüchtigkeit und ›Bonität‹ des Bewerbers abklopfte – grundsätzlich führte er das Wort, wenn es um Geld ging –, während die Mutter die äußere und vor allem die charakterliche Erscheinung prüfte, um sie dann mit der Tochter unter vier Augen durchzusprechen. Hätte Elli auf eines der vorgelegten Fotos mit Abscheu reagiert, so hätte die Mutter wohl kaum gezögert, auch starke finanzielle Argumente hintanzustellen: Im Grunde war sie es, die hier entschied und die dafür zu sorgen hatte, dass der Ruf der Familie, die sozialen Aufstiegsmöglichkeiten und das erforderliche Minimum an Sympathie in vernünftigem Gleichgewicht blieben. Floss all dies ununterscheidbar ineinander, so war die Operation geglückt.

Doch Diplomatie war diesmal gar nicht vonnöten, denn Elli fand ihren künftigen Ehemann attraktiv, selbst die Mutter war beeindruckt von der flotten Erscheinung des Reserveleutnants, und der schwer zufrieden zu stellende Familienvorstand war angenehm überrascht von einem kaufmännischen Unternehmungsgeist, den er am eigenen Sohn von jeher vermisste. Freilich, eine ›Geldheirat‹ war dies nicht. Zwar besaß die Familie Hermann, die aus dem westböhmischen Dorf Zürau stammte, einigen Grundbesitz; doch Karl hatte sieben Geschwister, mit denen er teilen musste, und für die Gründung eines selbständigen Unternehmens war diese Basis zu schmal.

Indessen brachte der Schwiegersohn Geschäftsideen vor, die selbst dem misstrauischen alten Kafka imponierten. Karl Hermann wollte eine Produktionsstätte gründen, die in Prag konkurrenzlos war, und dabei verfiel er – wir wissen nicht, wie – auf den Werkstoff Asbest, der in der Industrie überall gebraucht wurde, wo es um Feuerschutz und um besonders sichere, hitzebeständige Dichtungen ging. Asbestprodukte also – ein zukunftssicheres Geschäft, solange es Industrie gab.

Natürlich setzte die Gründung eines solchen Unternehmens voraus, dass Ellis Mitgift reichlich bemessen wurde und dass der größere Teil dieses Betrags nicht in den Haushalt, sondern in die Fabrik floss. Den Kafkas leuchtete das ein, auch ihr eigenes Geschäft war ja dreißig Jahre zuvor auf dem Fundament von Julie Löwys Mitgift errichtet worden, und bei einer Bank sich zu verschulden statt bei der eigenen Familie – das war eine moderne Unsitte, über die man im jüdischen Clan nur lächeln konnte. Hier hatte man eigene und lange bewährte Methoden, sich die nötigen ›Sicherheiten‹ zu verschaffen.

Hermann Kafka schätzte, ja bewunderte seinen Schwiegersohn. Bewunderung freilich war nicht dasselbe wie Vertrauen. Schließlich ging es um eine fünfstellige Summe in Kronen, wahrscheinlich sogar um mehr als den Geschäftsgewinn eines ganzen Jahres [12]  , und es war ganz undenkbar, einem Menschen, den man erst wenige Monate kannte, ein derartiges Vermögen zur freien Verfügung auszuhändigen. Die Kafkas mussten die Kontrolle behalten, ohne indessen die Initiative des Schwiegersohns zu ersticken. Das war ein Widerspruch, gewiss. Doch wozu hatte man Juristen in der Familie?

Tatsächlich zeigt die gewitzte Lösung, auf die man schließlich verfiel, die Handschrift des Advokaten: Ein Teil der Zahlung, zu der die Kafkas sich verpflichteten, ging nicht an Karl Hermann, sondern an {25}den eigenen Sohn Franz, und dieser wiederum brachte den Betrag als Teilhaber in das zu gründende Unternehmen ein. Damit war sichergestellt, dass ein Mitglied der Familie ständigen Einblick in die Bücher hatte, und gleichsam als Bonus eröffnete sich die Chance, dass Franz eines Tages doch noch aus der sozialen Einbahnstraße seiner Beamtenkarriere würde ausbrechen können. Denn im Fall des Erfolgs konnte niemand ihm verwehren, vom stillen zum aktiven Teilhaber aufzusteigen und im vollen Wortsinne das zu werden, was er jetzt nur nominell war: ein Fabrikant. Konnte ein am Geld so desinteressierter Sohn mehr verlangen, als dass die Eltern ihm das soziale Sprungbrett geradewegs vor die Füße stellten? Nein. Und darum wurde am 8.November 1911 im Büro des Rechtsanwalts Dr.Robert Kafka, Wenzelsplatz 35, der Gesellschaftervertrag verlesen, der die ›Prager Asbestwerke Hermann & Co.‹ begründete. [13]  – »Und Co.«: das war Kafka.


Ein bescheidenes Hinterhof-Unternehmen war es, die erste Prager Asbestfabrik, nach heutigen Begriffen eher eine Werkstatt. Žižkov, Boriwogasse Nr. 27 lautete die Adresse: Das lag inmitten einer grauen, überwiegend von tschechischen Arbeiterfamilien bewohnten Vorstadt, wo Mieten und Arbeitskräfte billig waren. Da weder Kafka noch Karl Hermann etwas von Asbest verstanden, wurde ein Werkmeister aus Deutschland engagiert, der etwa zwanzig Arbeiterinnen kommandierte. Produziert wurden Isoliermaterialien, vor allem ›Stopfbüchsenpackungen‹ [14]  , das Ganze arbeitsteilig an vierzehn Maschinen, die von einem einzigen, 35 PS starken Dieselmotor angetrieben wurden. Ein Foto der Anlage hat sich leider nicht erhalten, wohl aber eine Schilderung aus der Feder des Unternehmers selbst:

»Gestern in der Fabrik. Die Mädchen in ihren an und für sich unerträglich schmutzigen und gelösten Kleidern, mit den wie beim Erwachen zerworfenen Frisuren, mit dem vom unaufhörlichen Lärm der Transmissionen und von der einzelnen zwar automatischen aber unberechenbar stockenden Maschine festgehaltenen Gesichtsausdruck sind nicht Menschen, man grüsst sie nicht, man entschuldigt sich nicht, wenn man sie stösst, ruft man sie zu einer kleinen Arbeit, so führen sie sie aus, kehren aber gleich zur Maschine zurück, mit einer Kopfbewegung zeigt man ihnen wo sie eingreifen sollen, sie stehn in Unterröcken da, der kleinsten Macht sind sie überliefert und haben nicht einmal genug ruhigen Verstand, um diese Macht mit Blicken und Verbeugungen anzuerkennen und sich geneigt zu machen. Ist es aber sechs Uhr und rufen sie das einander zu, binden sie die Tücher vom Hals und von den Haaren {26}los, stauben sie sich ab mit einer Bürste, die den Saal umwandert und von Ungeduldigen herangerufen wird, ziehn sie die Röcke über die Köpfe und bekommen sie die Hände rein so gut es geht, so sind sie schliesslich doch Frauen, können trotz Blässe und schlechten Zähnen lächeln, schütteln den erstarrten Körper, man kann sie nicht mehr stossen, anschauen oder übersehn, man drückt sich an die schmierigen Kisten um ihnen den Weg freizumachen, behält den Hut in der Hand, wenn sie guten Abend sagen und weiss nicht, wie man es hinnehmen soll, wenn eine unseren Winterrock bereithält, dass wir ihn anziehn.« [15]  

Es ist nicht die lineare, diskrete Welt der Elektromotoren, es ist die schmutzige Mechanik des 19. Jahrhunderts, die Kafka hier vor Augen hat, eine ölige und lärmende, dabei ständig versagende Technik, die am ledernen Transmissionsriemen hängt. Er kannte solche Werkstätten, und nicht selten saß jemand, der dort sein Brot verdiente, mit entsetzlichen Wunden im Büro der Versicherung. Wenigstens der Unfallschutz – da dürfen wir sicher sein – war in den ›Prager Asbestwerken‹ vorbildlich.

Umso makabrer wirkt es aus der Distanz eines Jahrhunderts, dass ausgerechnet Kafka, der von Berufs wegen die Rechte von Proletariern verfocht, ›seine‹ Arbeiterinnen einem hochgradig karzinogenen Werkstoff aussetzte. Offenbar trugen die Frauen Kopf- und Halstücher, um die Asbestfasern von der Haut fernzuhalten; von Mundschutz ist nirgendwo die Rede, und dass am Feierabend eine einzige Kleiderbürste im Saal umhergereicht wird, als handele es sich um die Vervollkommnung der Abendtoilette, zeigt Arbeiterinnen, Werkmeister und Fabrikanten als eine Gemeinschaft von Ahnungslosen. Man muss sich Kafka bei dieser Szene wohl eingehüllt in eine Wolke aus Asbest vorstellen, und dass sowohl er als auch sein Schwager diese Fasern mit nach Hause trugen, war schwerlich zu vermeiden. Dort wurde dann allerdings streng auf frische Luft geachtet, und Kafka selbst war es, der zum Leidwesen seiner Familie unentwegt die Fenster aufriss, um die verbrauchte Luft hinaus- und den städtischen Braunkohlenruß hereinzulassen.

Seine Eltern bekamen die Notizen aus der Fabrik wohl kaum je zu Gesicht, und wie sie es aufgenommen hätten, ist unschwer zu erraten. Das war weder der Stil noch die Perspektive des angehenden Fabrikanten, es war die Stimme des verwöhnten Sohnes, der sich wieder einmal mit dem Dienstpersonal gemein machte. Physiognomie, Gestik, {27}sozialer Ausdruck waren es, die Kafka interessierten, das Exemplarische, das noch in der unbewusstesten Regung des Körpers aufzuleuchten vermag. Ein soziales Setting schildert er, in dem ein unmenschlicher Rhythmus jede Intimität, Höflichkeit, Erotik, ja überhaupt jegliche Verständigung zwischen Menschen überflüssig und zugleich unmöglich macht. Nicht anders als ein geschulter Ethnologe bemerkt Kafka zugleich, wie das, was er erfährt, zurückschlägt auf das eigene Verhalten, das sich den Verhältnissen nahtlos einpasst. Sein Blick reicht tief, nach außen wie nach innen. Doch er lässt nicht den Funken eines Eigeninteresses erkennen, das über die Lust an Beobachtung und Erkenntnis hinausreichte. Nichts, gar nichts deutet darauf hin, dass dies seine Fabrik ist.

Bereits nach wenigen Wochen fingen Kafkas Eltern an zu begreifen, dass ihr advokatorisch ausgeklügelter Plan einen Haken hatte. Ihr Sohn ließ sich im familieneigenen Betrieb nicht mehr blicken. Kaum war die Maschinerie in Gang, nahm er die früheren Gewohnheiten wieder auf, ging am Nachmittag spazieren oder saß am eigenen Schreibtisch vor Heften und Büchern, und es kam sogar vor, dass er am Abend das Haus verließ, während in der Wohnstube Vater und Schwager die Sorgen der Fabrik verhandelten. Es war empörend. Hatte er nicht selbst dem Vater zugeredet, der vor dem Risiko anfangs zurückschreckte, hatte er nicht ausdrücklich zugestimmt, den Schwager durch regelmäßige Anwesenheit in der Fabrik zu »überwachen«? Offenbar hatte er vergessen, dass es nicht unverbindliche Gefälligkeiten waren, die man von ihm verlangte, und dass die Chance, selbst einmal zum vermögenden Unternehmer zu werden, durchaus kein shot for nothing war, kein Spiel ohne Einsatz. Kafka war ›offener Gesellschafter‹, und das bedeutete, dass im Fall eines Konkurses nicht nur die vom Vater stammende Beteiligung verloren war, sondern dass er mit seinem gesamten privaten Vermögen haftete, mit seinen Ersparnissen also. Dieser Druck, so hatten die Eltern kalkuliert, musste doch wohl genügen, um den Sohn an seine Versprechungen und an seine wahren Interessen von Zeit zu Zeit zu erinnern.

Doch der Erinnerung bedurfte es nicht; wochen-, ja monatelang fühlte sich Kafka einer Flut von Selbstvorwürfen ausgesetzt, die ihm den Schlaf raubten, ohne eine praktische Lösung zu weisen. Blindlings, in einer Stunde der Torheit, hatte er sein Leben einem Zwang ausgeliefert, welcher der ›ewigen Wiederkunft des Gleichen‹ schon {28}verzweifelt ähnlich sah: vormittags Büro, nachmittags Fabrik, abends und am Wochenende Abrechnungen, Pläne und Entscheidungen – nicht zu vergessen das habituelle Klagen, das zum Geschäftemachen offenbar gehörte wie die Luft zum Atmen. Das war nicht nur, wie er viel zu spät begriff, das Ende des Schreibens, es war das Ende jeder Konzentration, jeder Selbstvergewisserung, es war, wie er in den letzten Tagen des verhängnisvollen Jahres notierte, die »gänzliche Vernichtung meiner Existenz«. [16]  Der Vater schimpfte ohne Unterlass, selbst der Schwager verfolgte ihn mit Blicken, die sehr nach Vorwürfen aussahen – es half alles nichts, Kafka war entschlossen, das Hamsterrad zu verlassen. Er verstehe nichts von der Fabrik, behauptete er. Es nütze niemandem, wenn er dort herumsitze. Man traute seinen Ohren kaum. Dann verebbten die Beschuldigungen. Und es breitete sich Schweigen aus am abendlichen Tisch der Familie.


Die Gründung der Asbestfabrik, der rasche Verlust der wirtschaftlichen Kontrolle und der schließliche Niedergang des Unternehmens zählen zu den folgenreichsten und quälendsten Episoden im Leben der Kafkas. Noch jahrelang dauerten die teils stummen, teils lautstarken Konflikte an, die genährt wurden durch immer neue Geldsorgen und durch die verzweifelten Skrupel des Sohnes, der sich, wohl zum ersten Mal überhaupt, einer geschlossenen Front von Anklägern gegenübersah. Er hatte zugeraten, er, der Einzige in der Familie, der von industrieller Technik einen Begriff hatte, und dieses voreilige Bescheidwissen, ein mikroskopisches Vergehen, wie ihm schien, zog nun die Höchststrafe nach sich. Dass er sich in eine so fremde, ferne, zutiefst gleichgültige Angelegenheit je hatte einmischen können – er verstand es nicht mehr, es war im Traum geschehen, in einem Albtraum, der nicht enden wollte.

Und er konnte nicht enden, solange Kafka den Spalt, der sich in seinem Denken zu öffnen begann, nicht zu deuten vermochte. Ja, er hasste das Büro, das Geschäft, die Fabrik. Doch alle diese Instanzen trugen den Zweck, den sie verfolgten, wie eine Fahne vor sich her. Niemand konnte diesen Zweck bezweifeln, niemand ihn leugnen, es waren schlechterdings sinnerfüllte Instanzen, die jedem Leben, das ihnen geweiht wurde, Zufriedenheit und Orientierung gaben. Die Eltern wussten immer, was sie wollten, und während Kafka die forcierte Betriebsamkeit, die damit einherging, mit klarstem Bewusstsein verabscheute, {29}glaubte er dennoch in schwachen Augenblicken eine höhere, sich selbst genügende Weisheit zu erkennen, die ihm unerreichbar blieb. Wovon sie lebten und wofür sie lebten: Bei den Eltern, den Geschwistern, den Verwandten und Kollegen war es ein und dasselbe. Während bei ihm das Wovon und Wofür, das Warum und Wozu, der Grund und der Zweck, Ursprung und Ziel, Anfang und Ende in einem unseligen, das ganze Leben zerreißenden Spagat auseinander traten.


»Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muss ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es.« [17]  Höchste Zeit, sich darauf zu besinnen. War spät am Abend endlich Ruhe eingekehrt, öffnete Kafka die intimen Fächer seines Schreibtischs und zog einige schwarze oder braune Oktavhefte heraus. Fror es gar zu sehr, trug er die Hefte, einen Federhalter und ein Fässchen mit schwarzer Tinte hinüber in die Wohnstube, wo die verlöschende Glut noch genügend Wärme gab und wo allein die unter ihrem Tuch sich rührenden Kanarienvögel und die auf der Anrichte thronende, schwere, von Verzierungen überladene Uhr die Stille unterbrachen. Hin und wieder war noch das gedämpfte Rumpeln des Lifts zu hören, doch nur selten kehrte jemand so spät nach Hause zurück, längst war ja die Haustür versperrt, und jeder, der noch hinaus oder herein wollte, musste beim Hausmeister läuten. Er war der Einzige, der einen Schlüssel besaß. Und das kostete sechs Heller.

Ließ Kafka in der warmen Stube den Blick umherwandern, so traf er unvermeidlich auf das Bücherregal: eine stumme Erinnerung daran, dass Schreiben mit Publizieren zu tun hatte und dass man nicht schreiben konnte, ohne zu lesen. Was dort aufgereiht war, gehörte fast ausnahmslos ihm; im eigenen Zimmer stand ja schon der Kleiderschrank, und Platz für einen zweiten ›Kasten‹ (wie er als Österreicher sagte) gab es dort nicht. Doch er war kein Sammler, viel Raum beanspruchte er nicht. Ein paar deutsche Klassiker standen da, Goethe, Kleist, Hebbel, Grillparzer, nichts davon vollständig, außerdem Flaubert, Dostojewski und Strindberg, Tagebücher und Lebensbeschreibungen ohne erkennbare Ordnung, einige philosophische und juristische Werke aus den Studienjahren, natürlich Reiseführer, vielleicht auch noch Jugendbücher und einige von ›Schaffsteins Grünen Bändchen‹ mit Abenteuern aus exotischen Gegenden. Und, nicht zu vergessen, vereinzelte {30}Bücher, die Freunde verfasst hatten, Geschenkexemplare mit Widmungen: »dem lieben Dr.Franz Kafka« oder »dem Franz«, je nachdem.

Kein Buchrücken aber trug seinen eigenen Namen. Es war seltsam. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er sich eingehüllt in diese Wachstuchhefte, nirgendwo war er mehr bei sich selbst als hier, wo die Sinne nichts mehr aufnahmen als die Spur der Tinte und das leise scharrende Geräusch der Feder. Von diesem farbigen, flüssigen, schwebenden Zustand ließ das starre Druckbild gar nichts mehr ahnen, es war eine Kopie, das Bild eines Bilds, und welche Bedeutung es eigentlich hatte, gedruckt zu werden, hatte sich Kafka immer nur mühsam und nachträglich klar gemacht. Das würde sich ändern. Bisher jedoch war nur selten einigen aufmerksamen Lesern ein Blick vergönnt auf diese ewig stockende Quelle, die ihm jedes Opfer wert schien, ohne dass er hätte sagen können, was hier eigentlich ›herauskam‹. Er schrieb, aber er ›verfasste‹ nicht, und er strich durch und vernichtete mehr, als er aufbewahrte. Nur wenige Prosastücke traten hervor aus einem unabsehbaren Gespinst von Notaten, doch weder die Kostproben, die im Hyperion erschienen waren, noch die spielerische BESCHREIBUNG EINES KAMPFES hatten die schwächste Resonanz gefunden. Die HOCHZEITSVORBEREITUNGEN AUF DEM LANDE, eine weitere Erzählung, die nach mehreren Anläufen mitten im Satz versickerte, ließen nicht einmal an eine fragmentarische ›Verwertung‹ denken, ganz zu schweigen von seinem jüngsten Fehlschlag, DIE STÄDTISCHE WELT, begonnen im Frühjahr 1911 und abgebrochen nach wenigen Seiten: eine Erzählung, in der ein polternder Vater auftritt, dessen Gestalt ein ganzes Fenster verdeckt, und ein windiger Sohn, ein Schwadroneur, der ein »Lotterleben« führt und seit zehn Jahren promoviert … nein, es wäre nur schwer zu ertragen gewesen, ausgerechnet jetzt, inmitten des Gezänks um die Asbestfabrik, sich in derartigen Phantasien des Untergangs zu ergehen.

Dies also war Kafkas »Arbeit«, dies waren die »Sachen«, die ihm – selbst im Geräusch des Tages – mehr bedeuteten als alles Lebendige. »Hier muss ich mich festhalten«, hatte er sich selbst beschworen, und dieses ›ich muss‹ sollte sich in seinem Leben noch unzählige Male wiederholen. Briefe an Redakteure schreiben, Fahnen lesen, über Druckfehler schimpfen, für ein paar Kronen Honorar danken, rezensieren und rezensiert werden, das alles war ein Spiel mit Regeln, die einmal {31}galten und dann wieder nicht, ein Spiel mit Gesichtern, die kamen und gingen. Das Muss war eine Selbstermächtigung, ein großer Trost – zugleich aber ein unheimliches, namenloses Gesetz, das sich in vager Gestalt aufzurichten begann und alles unter sich zu begraben drohte. »Ich habe immerfort eine Anrufung im Ohr«, hatte er nur drei Tage später notiert. »›Kämest Du unsichtbares Gericht!‹« – Der Ruf wurde erhört, bald schon.

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen
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