40. Kapitel
Brüder
In Deutschland hatte der Herbst Einzug gehalten. Sie hatten nur wenige Tage in England verbracht, aber das Wetter hatte sich verändert. Sie hätten genauso gut ein Jahr fort sein können, alles wirkte fremd. Eine dicke, graue Wand hatte sich an den Himmel geschoben, warf schwaches Licht auf die Erde. Die Sonne kämpfte mit den schwarzen Wolken und fand keinen Weg an ihnen vorbei. Die dunkle Masse würde wohl die nächste Zeit nicht weichen. In manchen Momenten auf ihrer Reise hatte sich Anna gefragt, ob sie die grauen Nebelschwaden vielleicht eingeatmet hatte. Denn auch in ihr hatte sich eine Wand ausgebreitet. Nebel, der betäubte, und sie sich kaum rühren ließ.
Als sie landeten, regnete es in Strömen. Immer noch sah sie überall Feinde, erwartete die Engländer hinter jeder Ecke. Vielleicht war sie auch inzwischen paranoid geworden, denn niemand hatte sich ihnen in den Weg gestellt. Aber wer konnte ihr die Sorgen verübeln?
Sebastian glaubte, dass der Beirat zunächst seine Wunden lecken würde. Drei Männer hatten sie verloren und ein Jägerteam dazu. So schnell würden sie nicht zurückschlagen.
Eines war leider glasklar, Sebastian hatte es richtig übel getroffen. Ein Haufen magischer und nichtmagischer Leute wollte seinen Kopf am Liebsten auf einem Silbertablett präsentiert bekommen. Unter anderem seine Familie.
Dass sie die Pergamente nicht hatten an sich bringen können, ärgerte Anna am meisten. Wenn es einen Wahrheitsgehalt an Prophezeiungen gab, und den musste es geben, dann hatten sie ohne die verschollenen Handschriften kaum eine Chance.
Sebastian sah das anders.
Er wollte nicht daran glauben, dass Anna der Schlüssel zum Ziel war. Es machte ihm Angst. Nicht, dass es Anna keine Angst gemacht hätte, aber manchmal musste man den Tatsachen ins Auge blicken.
Noch hatten sie sich keinen vernünftigen Plan zurechtgelegt. Zumindest aber kannte Sebastian einen Ort, an dem sie erst einmal sicher waren und in Ruhe ihre Vorgehensweise besprechen konnten. Pitschnass und bis auf die Haut durchgefroren, weil es mit zehn Grad verdammt kalt war, schaffte es Anna so gerade, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie wollte einfach nur schlafen. Sebastian hielt wieder ihre Hand, er hatte sie in den vergangenen zwei Tagen kaum losgelassen. Sie brauchte sie auch, krallte sich regelrecht an ihr fest.
Sie trauten sich nicht, den Weg durch die Stadt zu wählen. Wenn jemand nach ihnen suchte, dann wohl zuerst in Köln. Also schlichen sie durch Nebenstraßen. Ohne Gepäck, die Waffen hatten sie selbstverständlich nicht mit ins Flugzeug nehmen dürfen.
»Wir sind gleich da«, sagte Sebastian. Eine Regenperle tropfte von seiner Nasenspitze, bahnte sich einen Weg durch sein schönes Gesicht, bevor sie den Hals hinunterrann und sich zu den anderen in den Kragen sog.
Nach wenigen Minuten erreichten sie ein Mehrfamilienhaus. Ein grauer Kasten, an dem selbst die Gardinen trist wirkten.
»Wer wohnt hier?«, fragte Marla.
»Dany. Bei ihr habe ich übernachtet, nachdem der Beirat euch einkassiert hat.«
Die Beleuchtung im Treppenhaus ließ zu wünschen übrig. Die Birne der unteren Lampe zersprang, als Sebastian den Lichtschalter betätigte, und sie mussten sich bis zur Treppe vortasten. Es gab keine Fenster. Die ganze Gegend machte einen düsteren Eindruck, aber vielleicht konnte Anna nicht mehr objektiv urteilen. Schließlich war jetzt alles düster, oder?
Sebastian führte sie die Treppe hinauf, Dany wohnte im Dachgeschoss. Die Stufen ächzten bei jedem Schritt und sie machte sich Sorgen, dass sie unter der Last nachgeben könnten. Sebastian ging in Angriffshaltung, jeder Muskel an seinem trainierten Körper spannte sich an. Eine Vorsichtsmaßnahme, hoffte Anna.
»Erschreckt nicht, ich habe sie verflucht. Sie wird hier sein, denn ich habe ihr untersagt, das Haus zu verlassen.«
Anna war es leid, dauernd in ausdruckslose und orientierungslose Augen zu blicken. Seit sich ihre Familie und Freunde unter Sebastians Zauber verabschiedet hatten, erinnerte sie jeder Verfluchte an den Moment. Auf dem Weg hierher hatte sie eine Menge verfluchte Gesichter ertragen müssen. Wie sonst hätten sie sich bis hierher durchschlagen sollen?
Er steckte einen Schlüssel ins Schloss und begab sich in die Wohnung. »Wartet«, sagte er, als sich Anna an ihm vorbeischieben wollte. Er ging vor und checkte jeden Winkel, bevor sie das Zimmer betreten durften. »Alles klar, kein Feind da.«
Marla schloss die Haustür.
»Dany?«, rief Sebastian und huschte ins Wohnzimmer.
Keine Antwort. Annas sensible Sinne schlugen laut Alarm.
»Bleibt stehen«, herrschte Sebastian sie an.
Anna ignorierte seinen Befehl. Wenn hier eine Gefahr lauerte, spielte es keine Rolle, ob sie wartete. Die Fingerless und der Beirat töteten sie vor der Tür genauso sicher wie in der Wohnung.
In der nächsten Sekunde bereute Anna die Entscheidung. Ein weiteres Déjà-vu kratzte an ihrem Verstand, aber der gewohnte Schock blieb aus. Vielleicht gewöhnte man sich doch an den Anblick von Blut?
Eine korpulente Frau lag in einer riesigen Blutlache auf dem Fußboden. Das Elixier des Lebens hatte sich in einen alten Perserteppich gesogen. Annas inzwischen geschultes Auge glitt zu ihrer Hand, ihr fehlte ein Finger. Entsetzt starrte Sebastian die Leiche an.
»Ich glaube, die Nachricht ist für dich«, sagte Marla, die zum Wohnzimmertisch getreten war. Sie hielt einen Zettel in der Hand.
Sebastian las die Zeilen und Anna erhaschte einen Blick darauf.
Für den Fall, dass du ein Idiot bist und zurückkommst (was wir nicht glauben), solltest du eins wissen: Wir werden dich finden und wir werden dich töten. In Liebe, Josh
Sebastian schluckte schwer, er kämpfte mit sich. Sie berührte seinen Arm, aber er wandte sich sofort ab. »Wir sollten schnellstens verschwinden.«
Er schenkte Dany einen letzten Blick. Anna las Schuldgefühle in seinem Gesicht. Gefühle, die sie ihm nehmen konnte. Ein blutiger Pfad zeichnete seit Wochen ihren Weg. Wie sollte man da keine Schuld verspüren? Zudem war Schuld ein menschliches Gefühl. Oft genug hatte Sebastian auf der Reise bewiesen, dass der Magier in ihm vielleicht stärker hervorstach, als ihrer Ansicht nach nötig war, und Anna freute sich über jede Gefühlsregung, die die andere Seite von ihm entblößte.
Sebastian trat in den Flur und erlangte die Kontrolle seiner Gefühle zurück. Er atmete kurz durch und griff zur Klinke der Haustür.
»Alles in Ordnung?«, fragte Anna. Sie erwartete, dass er verneinte, aber er nickte.
»Das ist erst der Anfang, Anna. Wir sollten lernen, damit umzugehen.« Sebastian öffnete die Tür und wurde ohne Vorwarnung zurückgeschleudert. Er riss Anna mit sich und vergrub sie halb unter seinem Gewicht. Marla taumelte rückwärts und entkam stolpernd einem Sturz.
Sebastian sprang auf die Beine. Anna rappelte sich auf. Was war geschehen? Ihr Herz trommelte hysterisch, ihr Kopf dröhnte, weil sie am Boden aufgeschlagen war. Benommen nahm sie eine Gestalt in der Tür wahr. Ihr Blick klärte sich und der Schock fuhr in alle Glieder.
Josh Fingerless baute sich bedrohlich im Türrahmen auf. Sie kannte ihn nur von den Bildern der Engländer, trotzdem gab es keinen Zweifel. Die Fotos hatten es jedoch nicht geschafft, die Gefahr widerzuspiegeln, die von ihm ausging. Von wegen Schwiegermuttertraum. Jede Pore seines Körpers strahlte Zorn aus. Sein zierlicher Körper verblasste unter der Aura, die ihn umgab.
Sebastian erwartete einen Angriff. Er spannte sich an, bereitete sich darauf vor, zu reagieren. Oder zu agieren.
Josh beäugte sie belustigt. Er trug dieselbe Arroganz wie Kira in seinem Gesicht. »Bruderherz«, sagte er mit ironischem Grinsen auf den Lippen.
»Geh uns aus dem Weg, Josh«, zischte Sebastian. Er sträubte sich offensichtlich, seinem Bruder wehzutun.
»Niemand hätte gedacht, dass du so dumm sein wirst, zurückzukehren. Aber ich, ich wusste es besser.«
Marla griff nach Annas Jackenkragen. Sie hatte vor, zum Wohnzimmer zu gelangen, um die Wand zum Schutz zwischen sich und die Magier zu bringen.
Obwohl Josh Sebastian aus kalten Augen fixierte, entging es ihm nicht. Seine Attacke folgte unmittelbar.
Ein roter Blitz sauste auf sie zu, verfehlte Anna nur, weil Marla sie zu Boden stieß. Anna sog die Luft zwischen den Zähnen ein und stöhnte, als sie hart aufschlug. Sie kauerte sich zusammen, als sich ein wahres Farbenmeer über sie ergoss. Sebastian setzte zur Gegenwehr an. Blitze, Kugeln und Schwaden stoben durch den Gang. Flüche rasten über sie hinweg und wieder war es Marla, die für sie mitdachte und es schaffte, sie beide in Sicherheit zu bringen.
Nur knapp entkam Anna einem gelblichen Nebelwirbel, der ihr fast das Bein versengte. Außer Atem drückte sie sich an die Wohnzimmerwand. Marla lehnte neben ihr, die Augen geschlossen. Der hoffnungslose Anblick wirbelte die Verzweiflung auf. Sie riskierte einen Blick um die Ecke. Die kleine Dachgeschosswohnung flackerte bunt und hell auf, als hätte jemand ein Feuerwerk entzündet. Schwere Atem- und Kampfgeräusche drangen aus dem Gang. Anna biss sich wie so oft vor Angst auf die Unterlippe, bis sie blutete. Jeder Muskel in ihrem Körper schrie nach Flucht. Aber wie?
»Wir müssen hier raus«, sagte Marla, die wohl ähnlich dachte und sich offensichtlich gesammelt hatte.
»Wir können ihn doch nicht allein lassen«, wimmerte Anna und wusste, dass ihre Glieder ihr ohnehin nicht gehorchen würden.
»Wir können ihm nicht helfen und eine Chance hat er nur, wenn er nicht auch noch auf uns aufpassen muss.«
Ein blauer Fluch traf die Wohnzimmerschrankwand und sie kippte krachend zusammen. Das helle Holz begrub Danys leblosen Körper, Splitter regneten auf sie herab. Der ohrenbetäubende Lärm erweckte Tote.
»Komm«, zischte Marla energisch. Sie krabbelte zum Fenster und zog Anna hinter sich her. Marla öffnete das Fenster und deutete ihr an, vor ihr hinauszukriechen. Anna warf einen Blick zurück. Sie konnte Sebastian nicht helfen. Hoffentlich kam er mit dem Leben davon.
»Geh schon. Los!«
Annas Glieder wehrten sich krampfhaft, aber wenn sie alle draufgingen, siegten die Fingerless. Sie gab sich einen Ruck und schob den Kopf durch die Dachluke. Übelkeit keimte beim Blick in die Tiefe auf. Sie befanden sich im vierten Stock, mindestens zwölf Meter über dem Asphalt der schäbigen Straße. Wie sollten sie es lebend hinunterschaffen? Sie war kein Meister im Klettern, würde abstürzen und sich das Genick brechen.
Ein Blitz tauchte das Wohnzimmer in dunkles, violettes Licht. Plötzlich erinnerte sie sich an die Situation im Parkhaus. Sie hatte so etwas schon einmal geschafft. Der süße Moment, als Sebastian sie zum ersten Mal küsste, schoss ihr in den Kopf. Sie nahm all ihren Mut zusammen und griff nach dem oberen Fensterrahmen. Während sie sich die Dachluke hinaushangelte, schob Marla unerwartet kraftvoll nach. Mit einem Hops saß Anna auf den Dachpfannen. Marla kletterte hinterher und zog sie weiter aufs Dach. Ein dumpfer Knall drang nach draußen, etwas Schweres zerbarst im Haus. Die Scheibe riss.
»Wohin?«, hauchte Anna. Schwindel befiel sie und sie bemühte sich, nicht in die Tiefe zu blicken.
Der Regen hatte das Dach in eine Eisplatte verwandelt. Marla hielt inne und zog sich die Schuhe aus. Sie landeten schlitternd in der Dachrinne.
»Zieh sie auch aus. Auf Socken hast du besseren Halt!«
Vorsichtig schlüpfte Anna aus den Stiefeletten und ihre Strümpfe sogen sich mit Wasser voll.
Marla sprang auf die Füße. Wie eine Katze huschte sie über das Dach. Gelenkig. Drahtig. Ihr Überlebenswille stachelte sie wahrscheinlich an. Anna atmete tief durch und bewegte sich vorsichtig über die Ziegel hinterher. Schritt für Schritt, auf wackligen Beinen. Marla glitt um einen Schornstein herum.
»Bleib stehen, ich sehe nach, wo wir runterkommen«, rief sie heiser.
Anna gehorchte und ging in die Hocke. Das Letzte, was sie gebrauchen konnten, war, dass jemand sie sah und die Feuerwehr oder Polizei benachrichtigte. Aber das Spektakel in der Dachgeschosswohnung musste doch ohnehin jemand mitkriegen, oder?
Marla tastete sich langsam auf allen vieren bis zur Dachrinne vor. Einmal rutschte ihr Knie weg und Anna sog die kalte Luft zwischen den Zähnen ein. Ihr Herz gab es auf, vor Sorge ständig zu stottern. Möglicherweise würde es sonst irgendwann stehen bleiben.
Marla kauerte über der Dachrinne und blickte in die Tiefe. Als sie sich zu ihr umwandte, sprach ihr Gesichtsausdruck Bände. Langsam tastete sich Marla an der Kante entlang um das Haus herum.
»Keine Chance«, rief sie.
»Und jetzt?« Ihre Stimme klang fremd. Kindlich.
»Wir müssen springen.«
Anna glaubte, sich verhört zu haben. Sie schüttelte heftig den Kopf. Ihr Gleichgewichtssinn strafte sie mit einem Wanken. Springen? Halleluja, sie konnte sich einen schöneren Tod vorstellen. Marla machte sich zum Absprung bereit.
»Nein«, rief Anna, doch Marla drückte die Knie durch und sprang.
Annas Herzschlag setzte aus. Sie hörte einen hässlichen Aufprall, der sie bis ins Mark erschütterte … O Gott!