23. Kapitel
Arena
Im Leben trat man an viele Abgründe, einer schwärzer als der andere. Es waren tiefe, dunkle Löcher und es gab zwei Möglichkeiten, mit ihnen fertig zu werden: Entweder man sprang, oder man fiel. In der Regel gehörte Anna zu den Springern, denn sie war mutig und wusste, dass es auf der anderen Seite Licht gab. Heute hatte sie keine Chance, noch nicht einmal die Möglichkeit, darüber nachzudenken. Denn sie fiel. Ohne Vorwarnung, und ohne dass sie von dem Loch überhaupt etwas gewusst hatte.
Anna starrte zu Sebastian hinüber. Sie verstand das Gehörte und begriff es, trotzdem durfte es nicht wahr sein.
»Wieso?«, fragte sie mit Tränen in den Augen. Sie hörte die eigenen Worte nicht, so laut schlug ihr Herz.
»Bitte, hab doch keine Angst«, antwortete Sebastian sanft. Sein Gesicht verwandelte sich zurück. Die lieblichen Züge, die sie so übertrieben liebte, tauchten unter der Fassade auf. Er trat ein Stück näher an sie heran, ein leiser Aufschrei entfuhr ihr.
»Komm mir bloß nicht zu nah!«
»Ich könnte dir nie etwas tun.«
An seinem Blick erkannte sie, dass er die Wahrheit sagte und doch änderte das nichts. »Geh weg«, schluchzte sie.
»Anna, dein Bein. Es sieht schlimm aus.« Er deutete auf ihren Unterschenkel und der Schmerz trat zurück in ihr Bewusstsein. Martinshörner erklangen in der Ferne und erinnerten sie an das, was geschehen war. »Sie sind alle tot, oder?«, fragte sie. Ihre Stimme begleitete ein Weinkrampf. »Alle, sie sind einfach alle tot!«
Sebastian nickte. Er beugte sich zu ihr herunter. Behutsam streckte er seine Hand aus und zog sie vorsichtig an sich.
Anna gab auf, sie besaß nicht die Kraft, sich länger zu sträuben. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und weinte. Der Tod dieser Menschen, Sebastians Verrat, ihre Verzweiflung und ihr Schmerz … Für alles ließ sie Tränen. Sebastian schwieg. Es gab kein Wort, das die Realität wieder in Ordnung brachte.
»Ich muss mir dein Bein ansehen«, sagte er und löste sich von ihr. »Die Rettungskräfte werden uns hier nicht finden.«
Anna hob den Kopf und blickte sich um. Sie befanden sich in einem Stück Forst neben der Autobahn. Wenige Meter von ihnen entfernt ging es tief hinunter in die Todesschlucht der Businsassen. Noch immer waberten Rauchschwaden umher, auf der Autobahn erkannte sie mehrere Blaulichter.
»Anna, ich muss dein Bein nachsehen, okay?«, wiederholte er.
Sie nickte zaghaft.
Sebastian schob das Hosenbein hoch oder vielmehr die Fetzen, die davon übrig waren. Sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte ein Stöhnen. Schon oft hatte sie sich verletzt, aber dieser Schmerz ließ sich mit nichts vergleichen. Sie kniff die Augen zusammen, andernfalls würde sie das Bewusstsein verlieren.
»Du musst ins Krankenhaus. Meinst du, du kannst aufstehen, wenn ich dir helfe?«
Bedacht darauf, ihr Bein nicht anzusehen, zuckte sie die Schultern. Allein vor der Vorstellung graute es ihr. Aber was blieb ihr übrig? Sie versuchte es. Mühsam zog sie sich am Stamm hoch. Sebastian griff ihr stützend unter die Arme, doch sie schaffte es nicht. Der stechende Schmerz ließ sie in sich zusammensacken.
»Ich werde Hilfe holen«, sagte er.
»Nein!« Sie schüttelte wild den Kopf. Sie wollte nicht allein zurückbleiben.
»Anna, es kann Stunden dauern, bis man uns hier findet.«
»Geh nicht. Bitte lass mich nicht allein«, flehte sie. Ein neuer Heulkrampf meldete sich an.
»Ist ja gut, ich lass dich nicht allein. Aber du brauchst Hilfe. Hast du dein Handy dabei?«
Anna suchte den Waldboden ab. Sie hatte das Handy in der Handtasche verstaut. »Nein. Es ist in der Tasche im Bus.«
Sebastians Blick glitt in die Ferne. »Sobald die Hilfskräfte in der Schlucht sind, werde ich laufen. Es dauert höchstens fünf Minuten«, sagte er.
Sie atmete auf, rang sich zu einem Nicken durch, und lehnte den Kopf zurück an seine Schulter. »Erklär es mir.« Allmählich verebbte die Panik, ihr Verstand forderte Antworten. Wieso hatte er sie gerettet?
»Was soll ich erklären?« Er wusste, was sie meinte.
»Alles. Erklär es mir, du bist es mir mehr als schuldig.«
»Ich kann es nicht erklären. Es ist, wie es ist.«
»Warum hast du mich gerettet? Du bist ein Fingerless. Warum spielt ihr uns überhaupt irgendwelche Freundschaften vor? Ihr könntet uns auch gleich erledigen. Ach, ich weiß viel zu viel und …« Anna löste sich von ihm und sah in seine eisblauen Augen. Die Situation änderte nichts, sie verfiel ihm sofort. Sie sollte sich schämen.
»Ich weiß es nicht.«
»Es ist die Empathengabe, oder? Sag mir, dass es das Talent ist.« Was sollte sie tun, wenn es anders war?
»Meine Gabe wurde mit einem Spruch belegt.«
Sie schluckte schwer. »Sie wurde belegt? Was ist es dann? Erkläre es mir Sebastian, ich will es verstehen.«
»Eigentlich kann es nicht sein, dass …« Er schüttelte den Kopf.
Anna betete, dass er es nicht aussprach. Wie sehr sie sich danach sehnte – er durfte es nicht sagen.
»Anna, ich bin in dich verliebt. Mein Vater verlangt, dass wir euch Freundschaft vorspielen, nur dass ich es längst nicht mehr spiele. Ich …«
»Ich will das nicht«, brach es aus ihr hinaus. Und es stimmte. Das machte die Lage nur noch schwerer, als sie ohnehin schon war. Sie hatte geglaubt, einen Engel gefunden zu haben, aber in Wahrheit war er ein Raubvogel. Wieso sah sie es erst jetzt? Wieso?
»Ich weiß. Ich wollte das auch nicht«, antwortete Sebastian leise. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel.
»Und jetzt?« Er musste eine Antwort darauf haben, denn sie war ratlos. Die Last auf ihren Schultern wog unheimlich schwer.
»Und jetzt werden wir meiner Familie Einhalt gebieten. Du musst den Beirat informieren.«
»Ich soll dich verraten?« Das Absurdeste, was jemals einer von ihr verlangt hatte. Er hatte ihr gerade eine Liebeserklärung gemacht. Er, der Junge, für den sie mehr empfand als für sonst jemanden auf dieser Welt.
»Wir sind gefährlich. Eine Abnormität der Natur.«
»Was ist mit Marla?«, überging sie seine Worte. Er, eine Abnormität der Natur? Er war das Göttlichste, was die Welt je erschaffen hatte. Aber ihm das zu sagen war das Letzte, was sie jetzt wollte.
Sebastian zuckte zusammen. »Anna, ich musste mich entscheiden. Ich konnte nicht euch beiden helfen.«
»Was? Wie entscheiden?«
Der Ausdruck in seinen Augen erklärte alles. »Mein Vater wird schon da gewesen sein. Er und Kira …«
»Nein!« Sebastians Vater hatte Marla getötet?
»Na, wenn das nicht süß ist?« Die kalte Frauenstimme gehörte zu der Gestalt, die hinter dem Baum hervortrat. Kira trug ihr honigsüßes Lächeln und fixierte sie aus ihren dunklen Augen. »Das ungleiche Paar, vereint und lebendig.«
Sebastian reagierte blitzschnell. Mit einem Satz sprang er auf die Füße und stellte sich schützend vor Anna. »Du wirst sie nicht anrühren, Kira.«
»Und wer will mich aufhalten?« Sie lachte ironisch.
»Ich werde dich töten, wenn du es versuchst.«
Sie zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief. »Du? Du willst mich töten? Abgesehen von der Verliebtheit, die du deiner Angebeteten gerade gebeichtet hast, ist das das Komischste, was du jemals gesagt hast.«
»Das ist deine letzte Chance, zu gehen«, antwortete Sebastian fest. Er meinte, was er sagte, daran gab es keinen Zweifel.
»Du bist doch gar nicht in der Lage, jemandem auch nur ein Haar zu krümmen. Du bist fast ein Mensch.« In das letzte Wort legte die Magierin einen besonderen Ekel. »Dir fehlt nicht nur der Schneid, du hast auch nicht die Kraft dazu, mich zu besiegen.«
Annas Herz zog sich zusammen. Sie hieß den Tod willkommen, aber der Gedanke daran, dass Sebastian gegen dieses Monster antrat und starb … »Sebastian! Lass sie, sie wird dich töten«, wimmerte sie.
»Du hörst sie. Dein kleiner Engel hat Angst um dich. Ist das nicht rührend?«
Sebastian nutzte das Überraschungsmoment und griff an. Mit atemberaubender Schnelligkeit stürmte er vor und riss die verdutzte Kira zu Boden. Anna erkannte, wie viel Kraft er besaß.
Kira stöhnte auf, bevor sie gezielt zutrat. Sie schleuderte Sebastian gegen den nächsten Baum. Anna wünschte, die Augen schließen zu können. Sie wollte das nicht mit ansehen. Aber ihr Körper gehorchte nicht. Sie musste wie erstarrt beobachten, was geschah.
Der kleine Wald mutierte zu einer Arena.
Sebastian berappelte sich, noch im Aufsprung entfuhr ihm ein Fluch. Der schwache, grüne Lichtstrahl ließ sich nur schwer erkennen. Aber er traf und zauberte Kira einen klaffenden Riss quer über die linke Körperhälfte. Er blutete stark.
Kira setzte zur Gegenwehr an. Eine gelbe Rauchschwade wirbelte zu Sebastian herüber, raubte ihm buchstäblich den Atem, doch er schaffte es, ihn abzuschütteln. Eine bläuliche Rauchwolke riss Kira in die Luft. Sebastian sprang auf sie, sie würgte.
»Sebastian, Vorsicht«, kreischte Anna. Ein Wunder, dass ihre Stimme gehorchte.
Ein Ast fing Feuer, Kyra spielte ihre gestohlene Pyrogabe aus. Sebastian rollte sich zur Seite. Kira sprang auf, bevor der brennende Ast zu Boden fiel. Das Lächeln erstarb auf ihren Lippen, ihr Gesicht verzog sich zu einer gefährlichen Fratze. Sebastian warf Anna einen Blick zu, Kira nutzte die Gunst des Augenblicks. Sebastian erstarrte unter einem Fluch.
»Das war alles, Honey?«, fragte Kira und schnaubte.
Die selbstgefällige Miene der Magierin ließ Anna das Blut in den Adern gefrieren. Das war’s, sie würde ihn töten.
Der rötliche Todesfluch bewegte sich langsam mit kreisenden Bewegungen auf ihn zu. Anna las das Entsetzen in seinen eisblauen Augen.
Da geschah es mit ihr. Wenn man versuchte, zu beschützen, was man am meisten liebte, wuchs man über sich hinaus. Sie wurde zum Krieger, zur Amazone. Anna wusste nicht, wie es passierte. Vielleicht war es Schicksal, vielleicht einfach nur Glück. Plötzlich sah sie ihn vor sich liegen; den Außenspiegel des Busses. Wie konnte er so weit fortgeschleudert werden? Vielleicht war ja doch alles vorherbestimmt? Hob man den Blick, so verschwanden die Grenzen und einen hielten ohnehin nur die, die man sich setzte. Sie vergaß den Schmerz in ihrem Bein, ignorierte die Angst in ihren Knochen. Sie sprang auf die Füße und schnappte sich den Spiegel.
Sebastians Augen weiteten sich, als er sah, was sie vorhatte. Höchstens ein Atemzug trennte ihn noch von dem tödlichen Fluch.
Mit letzter Kraft warf sich Anna vor ihn, bereit, für ihn zu sterben. Der Fluch traf genau auf die blanke Front. Er prallte ab und rauschte dieses Mal schnell wie ein Wirbelwind zurück auf Kira zu. Sie sackte leblos am Boden zusammen.
»Du hast mich vergessen, Honey«, keuchte Anna.
Sebastian fiel auf die Knie, befreit von dem Lähmungszauber.
Anna japste nach Luft und legte sich erschöpft und mit geschlossenen Lidern auf den Waldboden.
»Du hast mir das Leben gerettet«, hörte sie ihren Halbgott sagen.
»Unentschieden.« Sie grinste, obwohl sie viel lieber geweint hätte.