28. Kapitel

Brief aus der Vergangenheit

Anna vernahm Gemurmel aus dem Flur. Die Zimmertür öffnete sich und ihr Vater blickte um die Ecke. Er sah fix und fertig aus. Wenn sie nur halb so kaputt aussah, dürfte sie nicht mehr auf den Beinen stehen. Wie schaffte er das?

»Darf ich?«, fragte er.

Sie nickte und rutschte zur Seite. Er setzte ein missratenes Lächeln auf und nahm das stille Angebot an. »Anna, wieso hast du mir nichts von alldem erzählt?«, begann er das Gespräch. Er klang fremd, ängstlich und fast so, als drohte er jede Sekunde am nächsten Wort zu ersticken. Aber solche Situationen spornten Paps‘ Kämpferego zum Glück an.

»Weil du mich vermutlich in die nächste Nervenklinik hättest einliefern lassen.« Sie legte die Stirn in Falten. Wer glaubte schon Geschichten, die den Erzählungen der Brüder Grimm alle Ehre machten? Ihr Verhältnis half der Lage nicht, die vergangenen Monate waren sie sich aus dem Weg gegangen. Sie wollte ihm nicht ihr Herz ausschütten, ihr Vater wusste das.

»Du musst dir keine Sorgen machen. Sie werden deiner Mutter nichts tun. Alles, was wir müssen, ist zusammenhalten und diese Magier ausschalten.«

»Ich will nicht auf ihrer Seite spielen. Wir können uns doch nicht erpressen lassen! Es muss eine andere Möglichkeit geben.«

»Anna, sei nicht dumm. Sie haben nicht nur Sylvia. Sie haben auch Sallys Mutter und noch andere Menschen. Es wäre das Klügste, wir bringen die Sache schnell hinter uns.«

»Und du glaubst, das wäre ein Kinderspiel? Ich kann und ich werde nicht zwischen den Leben anderer entscheiden oder wählen. Wenn das die Lösung ist, hätte ich gern das Problem zurück.«

»Du meinst diesen Magier? Lass dich doch nicht von diesem Mann blenden! Er kann nicht mehr wert sein als deine Mutter.«

»Ich meine nicht Sebastian«, antwortete sie. Natürlich spielte er eine entscheidende Rolle, aber es gab auch noch die anderen. In einem Krieg würden viele ihr Leben lassen. Sollte sie, um ihre Mutter zu retten, zum Beispiel die kleine Jenny opfern? Sonnenklar, dass ihre Chancen schlecht standen. »Nicht alle werden diese Sache überleben, Paps. So sieht es aus. Ich führe kein Selbstmordkommando an.«

»Darüber haben Kevin und ich schon gesprochen. Wir werden die Hauptaufgaben übernehmen. Wir wollen auch nicht, dass einer von euch Frauen in Gefahr gerät.«

Anna schnaubte. Der Beirat leistete gute Arbeit. Sie hielten sich für tapfere Ritter … Ihr lächerliches Heldentum ging in der aussichtslosen Lage unter. In dieser Hinsicht ließen sich wohl fast alle Männer gern einen Floh ins Ohr setzen.

»Tu nichts Unüberlegtes, ja?« Er versuchte, ruhig zu klingen, aber ein seltsamer Unterton begleitete den Satz.

Anna schüttelte den Kopf. Was brachte es, ihn jetzt auch noch verrückt zu machen? Es reichte, dass sie kurz vor dem Durchdrehen stand.

Er drückte sie kurz und verschwand aus dem Zimmer. Jede Umarmung erinnerte sie neuerdings an einen Abschied. Jede dieser Gesten fühlte sich verdammt danach an. Vermutlich waren sie es auch, Abschiede. Niemand wusste, was die nächste Stunde bringen konnte. Anna blieb allein zurück, als er die Tür schloss. Könnte sie doch bloß Sebastian erreichen. Wenn er Marlas Fluch aufhob, hätte sie eine Verbündete. Die Hexe stellte sich bestimmt auf ihre Seite, allein wegen Jenny. Aber sie konnte Sebastian nicht erreichen, sie besaß nicht einmal mehr ein Telefon. Zudem konnte der schwarze Engel nicht immer die Lösung aller Probleme sein … Nein, das konnte er nicht.

*

Sebastian verhielt sich leichtsinnig. Möglicherweise observierten die Fingerless oder der Beirat das Haus. Sein Mangel an Verantwortungsbewusstsein diesbezüglich würde ihn eines Tages vielleicht das Leben kosten. Er verscheuchte die Vorstellung und öffnete mit ein paar leichten Worten die Haustür. Zielsicher steuerte er auf die Dachbodenleiter zu. Er hatte mal wieder mehr Glück als Verstand. Der Knoten in seiner Brust zog die Luftröhre straff zusammen. Er zitterte am ganzen Körper und versuchte, die aufkeimenden Tränen hinunterzuschlucken. Die Truhe stand geöffnet in der hinteren Speicherecke. Mit nervösen Händen kramte er in der Kiste, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich suchte. Es musste etwas da sein, ein Anhaltspunkt, wenigstens ein Denkanstoß. Profimäßig bemühte er sich, nüchtern an die Sache heranzugehen und Angst, Trauer und Besorgnis zumindest für eine Weile aus seinem Kopf zu verbannen. Es gelang nicht besonders. Es gab keinen Schalter für die Gefühle, eine harte Lektion.

Einige Zeitungsartikel handelten von seiner Familie. Mit schwerem Herzen las er sie durch, doch kein Jäger wurde namentlich genannt.

Ein kleines, in Leder gebundenes Tagebuch stach ihm ins Auge. Mit Bedacht nahm er es und durchblätterte die vergilbten Seiten. Das Buch gehörte Marlas Großmutter. Marla hatte die Gabe vor vielen Jahren von ihr geerbt. Er schlug die Seiten bis zu einem Datum um, das zum Zeitpunkt der ersten Jagd passte. Er las viele uninteressante Dinge. Marlas Großmutter schilderte von einer Windpockeninfektion, die in der Stadt die Runde machte. Es schien nichts über die Magier und die Hunter vermerkt zu sein. Keine Zeile deutete darauf hin, dass die Begabten vor Jahrzehnten von größeren Sorgen als Kinderkrankheiten gequält worden waren. Enttäuscht wollte Sebastian das Buch zurücklegen, da fiel aus dem hinteren Teil des Einbands ein Brief heraus.

Eine Alice Smith hatte ihn an Elisabeth Cole adressiert.

Sebastian faltete das Papier auseinander und – Bingo!

Genau danach hatte er gesucht.

21.06.1948

Liebe Beth,

es ist einfach schrecklich. Diese Magierfamilie hat Betty ermordet. Aber endlich unternimmt der Beirat etwas. Trotzdem zerspringt mein Herz vor Angst, denn sie haben Charles mit in das Team aufgenommen, das diese grausamen Wesen stoppen soll. Seit Charles fort ist, ist plötzlich auch Tiffany verschwunden. Unser kleines Mädchen hängt doch so sehr an ihrem Vater. Ich hoffe, dass sie sich bloß irgendwo versteckt. Ich mag nicht daran denken, dass ihr vielleicht etwas zugestoßen sein könnte. Hoffentlich geht es euch gut. Bitte vernichte diesen Brief, denn das Wissen gilt noch immer als tödlich.


Alice

Sebastian schwelgte in Erinnerungen. Plötzlich sah er den längst verblassten Moment wieder glasklar vor sich. Es überraschte ihn, dass er das Szenario bisher verdrängt hatte.

Am 20.07.1948 hatte der Beirat sie gestoppt. Ein warmer Sommertag, mit endlos blauem Himmel. Kinder spielten in den zertrümmerten Straßen der Nachkriegszeit und begannen, wieder sorgenfrei zu leben. Die abgehärteten Menschen schockte nichts mehr. Seine Familie hatte bereits den Großteil der Jäger erledigt, aber der Rest kämpfte mit eisernem Willen. Ein junger Mann, höchstens dreißig und ausgestattet mit einer Telekinese-Gabe, nahm ihn gefangen. Die Angriffe der Männer kamen überraschend und Sebastian schaffte es nicht, ihnen auszuweichen. Für ein Menschengespann schlugen sich die zwei Jäger gut, sie besaßen enorme Kräfte. Der überlegene Jäger lachte triumphierend und rief seinem Kriegsgenossen heiter zu. »Ich habe einen Bastard. Charles, komm her und hilf mir!«

Sebastian sah Charles nicht kommen, denn der andere hatte ihm einen Sack über den Kopf gestülpt. Natürlich total überflüssig. Eine Hexenformel lähmte ihn bereits, wer auch immer sie gesprochen hatte. Aber der Name Charles grub sich tief in sein Gedächtnis, sein Peiniger hatte ihn in jedem Fall verwendet. Vielleicht bestand also Hoffnung, dass dieser Charles noch lebte.

Sebastian steckte den Brief in die Tasche. Ob er bei Marlas Telefonnummern einen Vermerk zu diesem Namen fand? Gott spielte sicher nicht auf seiner Seite, dennoch schickte er ein Gebet in den Himmel. Hoffentlich hörte er Anna zuliebe zu.

Sebastian betrat das Wohnzimmer und blätterte in dem Notizblock. Sein Herz zog sich zusammen, als er Marlas Handschrift erkannte. Sie verwendete kein sonderlich gut geführtes System, krickelte alles auf beliebige Seiten. Er nagte auf seiner Unterlippe, als er den Namen erspähte. Die verwischte Telefonnummer stand dicht daneben. Zum Glück konnte er sie entziffern. Vermutlich stammte die Notiz aus längst vergangener Zeit. Er hoffte, dort noch jemanden zu erreichen. Die Vorwahl deutete auf Schottland hin.

Er ging zum Schreibtisch am Fenster, fuhr den Laptop hoch und gab die Telefonnummer in eine Suchmaschine ein. Viele Suchergebnisse nannten nur eine einzige Antwort, ein Seniorenpark in Edinburgh. Er wählte die Nummer. Es meldete sich eine freundliche Stimme einer Krankenschwester. Er erkundigte sich höflich nach dem alten Jäger.

»Ja, Mr. Smith lebt bei uns, allerdings geht es ihm nicht be…«

Schnell legte Sebastian auf. Er lebte noch! Aber das, was er mit dem Mann zu besprechen hatte, konnte er nicht am Telefon tun.

Er atmete tief durch und schluckte die aufkeimende Übelkeit hinunter. Ihm blieb keine Wahl, er musste die winzige Chance ergreifen. Hoffentlich lieferte ihm der Mann Antworten. Er verschob die Grübeleien auf später und stürmte aus dem alten Haus. Er musste sofort nach Schottland.