15. Kapitel

Prophezeit

Die Pflichten des Lebens kamen Anna vor wie Fesseln. Sie hatten sie auf ein Neues gefangen genommen und in den Knast befördert. Den Schulknast.

»Anna?« Ihr Kursleiter in Bio winkte sie nach der Stunde zu sich nach vorn.

Lustlos packte sie ihre Sachen in die Tasche und trat zum Lehrerpult vor. Vanessa stand ungeduldig im Türrahmen. Sicher platzte sie vor Ungeduld, weil sie wissen wollte, wer der mysteriöse Typ gestern gewesen war, der Anna vom Unterricht abgehalten hatte.

»Du warst gestern nicht in der Schule, hast du eine Entschuldigung?« Herr Brinkmann zog seine Brille von der Nase, was ihn deutlich jünger erscheinen ließ. Er hatte ein paar Jahre auf den Malediven verbracht und mit anderen Biologen irgendwelche seltenen Seegräser erforscht. Wann immer es ihm möglich war, gab er die Geschichten zum Besten. Die Sonne des Landes hatte seine Haut um Jahre altern lassen. Das tiefbraune Gesicht trug viele Falten, obwohl er nicht älter als fünfzig sein konnte.

»Ich habe kein Attest«, antwortete Anna kleinlaut und setzte ein zögerliches Lächeln auf.

»So etwas sollte in deinem Abschlussjahr nicht vorkommen. Gerade nicht am ersten Schultag.«

»Ich weiß, aber ich hatte keinen besonders guten Sommer. Ich fühlte mich überfordert.«

Wie gern sie doch in diesem Moment etwas anderes sagen wollte. Etwas, das deutlich machte, dass er sich seinen Bio-LK doch in die Haare schmieren sollte, und dass es wichtigere Dinge im Leben gab als Seegräser. Aber die Wahrheit war: Nicht die magische Welt hatte Anna vom Unterricht ferngehalten, sondern die Hormone.

»Ich habe von deinem Trauerfall gehört und ich habe Nachsicht mit dir. Es tut mir leid, was passiert ist, Anna. Aber das Leben geht weiter und du solltest dich auf dein Abi konzentrieren.«

»Eigentlich spiele ich mit dem Gedanken, abzubrechen«, hörte sie sich sagen. Mit diesem Gedanken befasste sie sich zwar erst ein paar Sekunden, aber er stimmte. Wer brauchte schon ein Abitur, um die Welt zu retten, oder zumindest ein paar Menschen?

»Abbrechen? Nun, noch bist du nicht volljährig. Ich denke, da haben deine Eltern auch noch ein Wörtchen mitzureden. So eine Dummheit.« Herr Brinkmann legte einen noch strengeren Tonfall an den Tag, aber er wirkte nicht echt.

Anna zuckte die Achseln und wandte sich ab, um das Klassenzimmer zu verlassen. Es würde immer verständnislose Menschen geben, die ihr Leben damit gestalteten, ihre Nase in irgendwelche Bücher zu stecken. Diese Menschen gehörten bestimmt nicht zu der Sorte, auf die Anna jemals hören wollte.

»Keinen guten Sommer? Schule abbrechen? Jetzt will ich’s aber genau wissen!« Vanessa mühte sich ab, mit Anna Schritt zu halten.

»Ich will nicht drüber reden.«

»Anna Graf! Ich bin deine Freundin.« Abrupt blieb sie stehen. »Ich gehe keinen Meter weiter, bis du mir erzählt hast, was eigentlich los ist.«

»Dann bleib doch da stehen«, rief Anna ihr zu und lief über den Flur zum nächsten Kursraum. Als Nächstes stand Englisch an, o Schreck!

Der Rest des Tages verging sehr langsam, die Zeiger auf der großen Uhr schienen zwischenzeitlich stehen zu bleiben. Mehr als einmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, einfach abzuhauen und sich für die Ouija-Brett-Geschichte auszuruhen. Ein paar Mal erwischte ein Lehrer sie beim Träumen und in Deutsch merkte sie, dass sie nicht einmal wusste, über welches Gedicht sie sprachen.

Als endlich der Schlussgong läutete, sprang sie auf.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, direkt zu Marla zu fahren, aber Sally machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Anna traute ihren Augen nicht, als sie Sally vor dem Schultor stehen sah. Sie hatte auf eine ganz andere Mitfahrgelegenheit gehofft.

»Was willst du denn hier?«

Sallys gebleichte Zähne blitzten unter dem künstlichen Lächeln hervor. »Da du dich ja so sehr auf die Hochzeit freust, hat dein Vater mich dazu verdonnert, mit dir shoppen zu gehen.«

»Und du glaubst, dazu hätte ich Lust?« Anna schmiss den Kopf in den Nacken und drängte sich an ihr vorbei.

Sally hielt sie am Arm zurück. »Du wirst mich begleiten.«

Sie riss sich los und schnaufte. Was bildete sich die Barbie ein? »Du kannst mich nicht dazu zwingen!«

»Was glaubst du, passiert, wenn dein Vater von deinem Geheimnis erfährt? Schickt er dich zum Therapeuten oder wird er meinen Rat befolgen und dich einweisen lassen?«

Annas Herz setzte aus. »Was meinst du?«

Selbstgefällig verzog Sally das Gesicht. »Glaubst du, ich bin blöd? Du trägst ein Salzkreuz um den Hals, in deinem Zimmer ist es ständig eiskalt und nachts schreist du das Haus zusammen.«

»Was willst du?«

»Ich will, dass du nett zu mir bist und in den Wagen steigst. Wir müssen reden.«

»Woher weißt du über die Dinge Bescheid?«

»Ich erzähle es dir unterwegs. Also?« Herausfordernd blickte Sally sie an.

Anna verdrehte die Augen und stieg in das Cabriolet, ein Geschenk von meinem Vater. Sie hatte mit allem gerechnet, aber damit? Sally wusste Bescheid über die magische Welt. Wie war das denn möglich? Eine naive Barbiepuppe ohne blassen Schimmer? Zunächst fuhren sie schweigsam Richtung Innenstadt.

»Du willst wissen, woher ich Bescheid weiß?«

Anna nickte.

»Meine Großmutter hatte eine Gabe.«

Ihr stockte der Atem. Sallys Grandma war eine von ihnen?

»Sie war eine Seherin. Ich habe sie nie kennengelernt, sie starb sehr früh.«

»Wie konntest du dann erkennen, dass ich ein Medium bin?«

»Meine Mutter hat viel darüber gesprochen. Damals, als sie noch bei Verstand war. Meine Oma lernte sie an, sie hatte sie als Erbin eingesetzt.«

»Also besitzt deine Mutter jetzt die Gabe.«

Traurig schüttelte Sally den Kopf. Zum ersten Mal wirkte sie nicht affektiert. »Nein. Zu der Zeit war es gefährlich, ein Talent zu besitzen. Es waren schlimme Jahre. Erbschleicher marschierten durch die Länder und töteten die Begabten. Niemand war vor ihnen sicher. Eine mächtige Magierfamilie schlich sich in das Vertrauen der Talentierten und mordete, sobald das Testament auf sie überschrieben war. Meine Großmutter bekam Angst, sie wollte ihre Tochter schützen. Also beschloss sie, ihr Testament zu ändern.«

»Wer hat die Gabe bekommen?«

»Sie vermachte ihr Talent ihrem besten Freund Jonathan. Aber Jonathan war nicht der, der er zu sein vorgab. Er war ein Magier und tötete meine Oma, gleich nachdem sie ihren Finger auf das Pergament gedrückt hatte.«

»Wieso erzählst du mir das?« Sallys Geschichte erweckte ihr Mitleid, und wenn sie eins nicht wollte, dann Mitgefühl für Sally.

Es entstand eine Pause. Die Ampel sprang auf Rot und Anna beobachtete die Menschen, die über die Straße eilten. Ganze Trauben machten sich auf den Weg in die Fußgängerzone, um die warmen Tage des Spätsommers auszunutzen und vielleicht ein Eis zu naschen.

»Weil sie dich hat kommen sehen, Anna. Bevor meine Großmutter starb, sprach sie eine Prophezeiung.«

»Eine Prophezeiung? Über mich?« Anna glaubte, sich verhört zu haben. Sally hatte eindeutig einen an der Waffel.

Aber die Blondine nickte.

»Des Arztes Tochter, jung und rein, wird siegen über Angst und Schein. Anna mit dem blonden Haar,
beschwört die Geister, macht sich rar. Die Kraft der Gabe, so steht es geschrieben, wird in der Nekromantie liegen.«

Anna schüttelte sich. Die Worte hatten ihr einen Schauder über den Rücken gejagt. Wieso musste das Leben eigentlich immer noch einen draufsetzen? »Was soll das bedeuten?«

»Die Magier wurden damals gefangen genommen, der Beirat machte sie dingfest. Aber das kann noch nicht das Ende der Geschichte sein. Meine Großmutter war sich sicher, dass du dazu berufen bist, sie zu töten.«

»Ich? Du verwechselst mich. Unmöglich kann ich gemeint sein. Ich beherrsche das Talent nicht, und außerdem, Nekromantie …? Was soll das sein?«

»Es gibt ein Gerücht über verschollene Pergamente.«

»Sally, das klingt alles nach einer Verschwörungstheorie. Gerüchte und Prophezeiungen …«

»Ich habe recherchiert. Mein ganzes Leben verbringe ich schon damit, die Geschichte zu erforschen. Ich weiß, du kannst mich nicht ausstehen. Ich hätte auch lieber eine nette Weltretterin vorgefunden, anstatt dich. Aber es ist, wie es ist. Ich habe mich nicht mit Absicht in deinen Vater verliebt. Es geschah, als ich nach dir suchte. Aber mein eigentliches Ziel habe ich nicht aus den Augen verloren. Ich wusste nur nicht, wie ich anfangen sollte, dir verbohrter Ziege das alles zu erklären. Zumal du die Gabe noch nicht hattest.«

Eine Welle aus Wut raste durch ihren Körper.

»Anna, das Ziel! Unsere Disharmonie tut hier nichts zur Sache. Es muss ein Fünkchen Wahrheit an all dem sein. Meine Großmutter wurde ermordet, meine Mutter ist wegen der Suche bereits in einer Nervenheilanstalt gelandet und ich bin auch besessen von diesem Gedanken. Es kann nicht alles umsonst gewesen sein, mein ganzes Leben …«

Plötzlich tat Sally ihr leid. Sie schaffte es nicht, sich länger gegen das Gefühl zu sträuben. Ein Leben lang jagte sie schon dem Gedanken nach, Anna zu finden? Kurzerhand beschloss sie, sie anzuhören. »Wie lautet das Gerücht?«

»Es gibt Geschichten, die besagen, dass der Beirat einen Haufen wertvoller Pergamente unter Verschluss hält. Pergamente, die offenbaren, dass eure Gaben viel stärker sind als angenommen. So soll zum Beispiel ein Medium nicht nur in der Lage sein, Kontakt ins Jenseits aufzunehmen. In den Pergamenten soll geschrieben stehen, wie man einen Toten auferstehen lässt.«

»Okay, stopp! Willst du mir sagen, der Beirat beraubt uns um die Hälfte unserer Kräfte? Wieso sollte er das tun?« Sie wagte es nicht, auf die Geschichte der Zombies einzugehen. Ihr Körper erzitterte unter der Vorstellung.

»Weil es ihrer Ansicht nach gefährlich ist, den Menschen mehr Macht zu geben.«

»Das klingt alles sehr nach einer Legende. Sally, vielleicht hast du dich da in etwas verrannt?«

Sally schüttelte den Kopf. »Es fügt sich zusammen, Stein auf Stein. Wir haben Waffen gegen die Magier, nur nicht das Wissen, sie einzusetzen. Sie einfach wegzusperren kann nicht die Lösung sein. Einige Magierfamilien weilen noch unter uns und es ist bloß eine Frage der Zeit, bis sie wieder einen Angriff starten.«

»Ich muss das erst mal verdauen.« Wie so vieles in letzter Zeit.

Sally lenkte den Wagen in eine Parkbucht. »Richtig, und deshalb gehen wir jetzt shoppen. Ich brauch noch so viel Zeug für die Hochzeit und außerdem wollte ich dich noch etwas fragen.« Sie klimperte mit den geschminkten Wimpern.

»Frag.« Im Geiste verzog sie das Gesicht. Es machte sie wütend, wenn Sally es auf die Tour versuchte.

»Ich habe keinen Trauzeugen und wollte dich fragen, ob du mir die Ehre erweist.«

»Ich?« Na, Halleluja! Sie und Sallys Trauzeugin? Machte ihr Wissen sie jetzt automatisch zu Freundinnen?

»Nicht, dass ich sonderlich scharf darauf wäre, aber ich glaube, meine Mutter würde sich freuen, wenn das Mädchen, von dem sie besessen war, ihren Platz einnimmt«, antwortete Sally und ihr Tonfall klang wieder typisch schnippisch.

Anna grinste sie an. Klar, ihrer Mutter zuliebe. Als ob Sally nur eine Sekunde an jemand anderen dachte als an sich. Aber vielleicht war das der aufrichtigste Versuch, nach ihrer Freundschaft zu fragen, den sie je unternommen hatte. Möglicherweise steckte unter all dem Schmuck, Make-up und Glitzer doch ein kleines Organ namens Herz. Also gab sie sich einen Ruck.

»Na schön, wenn’s sein muss.«

Sally klatschte in die Hände. »Super!«

»Wann heiratet ihr überhaupt?«

»Ralph hat dir nichts gesagt?«

Paps hatte es mit keinem Wort erwähnt, allerdings hatte sie ihn in den vergangenen Tagen selten zu Gesicht bekommen.

»An diesem Samstag.«

»In vier Tagen?« Nett, dass sie es überhaupt erzählten …

»Ja, wir haben einen kurzfristigen Termin bekommen.«

Anna schluckte schwer. Das Leben lief in letzter Zeit eindeutig an ihr vorbei. Es besaß nicht mal den Anstand, fröhlich zu winken.

*

»Eine Gabe mit einem Fluch zu belegen, ist Angelegenheit einer Hexe. Wir sind nicht in der Lage dazu. Es ist menschliche Magie.« Thea Fingerless sah ihn ratlos an.

»Es gibt rein gar nichts, was du tun kannst?«, fragte Sebastian.

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, solange niemand von uns ein entsprechendes Talent besitzt.«

Sebastian seufzte, enttäuscht und erleichtert zugleich. Er wollte die Gefühle im Grunde gar nicht verlieren, denn es bedeutete, Anna zu verlieren.

Jonathan schaltete sich ein. »Besorg das Talent der Hexe. Du konntest ihren Mann um den Finger wickeln und sie ist doch bloß ein sentimentales Weibsstück. Was kann so schwer daran sein?«

Eine eisige Hand griff nach Sebastians Herz. Er sollte Marla töten? Er hatte es bei Frank schon nicht gekonnt, Kira hatte die Aufgabe zu gern übernommen. »Ich brauche noch ein paar Tage.«

»Dann geh und hol dir schon mal den Gestaltwandler. Ein bisschen Blut wird dich schon daran erinnern, wer du bist.«

Mit weichen Knien verließ Sebastian die Küche. Die nächsten Tage konnten nur der blanke Horror werden.