10. Kapitel

Komplimente von Halbgöttern

Marla reichte ihr eine dampfende Tasse. »Wie fühlst du dich?«

Anna versuchte, ihre Gefühle in Worte zu packen, aber es gelang ihr nicht. »Ausgelaugt«, antwortete sie deshalb wahrheitsgemäß. Es umschrieb ihr Empfinden teilweise. »Ist es immer so anstrengend?«

»Ja, das ist es. Wenn ich mich mit meiner Hexerei verausgabe, brauche ich erst mal einen halben Tag Schlaf.« Sie lachte.

»Wieso war es bei Evas Erscheinung anders? Ich habe mich nicht so erschöpft gefühlt.« Ihre Kehle brannte und ihre Stimme klang kehlig.

»Eva kennt dein Talent. Sie weiß genau, wie sie deine Begabung hervorlocken kann, ohne dass du nur einen Handschlag dafür tun musst. Es ist etwas völlig anderes.«

Aus dem Flur schallte ein fröhliches Lachen, Sebastian und Jenny kamen aus dem Kino zurück.

»Hi«, brachte Jenny unter einem Lachanfall hervor.

»Na, ihr scheint ja Spaß gehabt zu haben.« Marla nahm ihr die Tasche ab.

Sebastian betrat die Küche. »Ihr seid schon fertig?« Sein Blick blieb an ihr hängen.

Auch heute ließen seine eisblauen Augen Schmetterlinge in ihrem Bauch tanzen, und sie fand keine Worte, um zu antworten. Sie hasste das, eigentlich gehörte sie zu den schlagfertigen Menschen.

»Fix und fertig, oder Anna?« Marla stellte zwei weitere Tassen auf den Tisch.

»Ja, ich bin groggy. Ich sehne mich einfach nur nach meinem Bett.« Sie errötete, als sie darüber nachdachte, dass sie vielleicht genauso aussah. Na ja, Sebastian spielte ohnehin in einer anderen Liga, da machte es kaum einen Unterschied, ob sie müde wirkte oder sich herausputzte.

»Soll ich dich fahren?« Erwartungsvoll nagelte sein Blick sie fest.

Ein zweites Mal abzulehnen wäre unhöflich, außerdem lief sie Gefahr, in der S-Bahn einzuschlafen. »Okay«, antwortete sie leise und ärgerte sich über ihren piepsigen Tonfall. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er gleich aufbrechen wollte. Eilig verabschiedete sie sich von Marla und Jenny, als er zum Ausgang deutete, und atmete tief durch, bevor sie ihm über den Flur folgte. Wenn sie die nächste halbe Stunde überleben wollte, musste sie sich endlich am Riemen reißen. Es konnte nicht angehen, dass sie sich immer unmöglich verhielt, sobald der Schönling den Raum betrat.

Als sie zur selben Zeit zur Klinke griffen, berührten sich ihre Hände. Ein elektrisierender Schlag durchzuckte ihren Körper. Langsam gewöhnte sie sich daran. Das Milchtütenerlebnis schummelte sich zwischen ihre Gedanken. Diesmal hielt sie ihre Hand an Ort und Stelle, einmal musste sie da durch.
Sebastian grinste und ließ sie die Tür öffnen.

Die Ledersitze seines Sportwagens waren bequem und weich, Anna versank in den Polstern. Sie widerstand der Verlockung, die Augen zu schließen.

»Und, wie war deine erste Todeserfahrung?«

»Na ja, unheimlich. Aber auch interessant. Ich würde es glatt noch mal tun, wenn ich nicht so entsetzlich müde wäre.«

Ein Lächeln umspielte seine Lippen und Grübchen bildeten sich auf seiner Wange, Anna sah es in den Augenwinkeln.

»Bist du zu müde, um noch etwas zu essen? Ich hab totalen Kohldampf.«

»Sag du es mir, du bist der Empath.« Juhu, sie hatte sie wieder! Ihre Schlagfertigkeit kehrte zurück. Die Frage lautete, wie lange sie bleiben würde? Der Gedanke, mit ihm noch einen Abstecher zu machen, bereitete ihr Übelkeit und irgendwie auch ganz und gar nicht.

Sein Lächeln verwandelte sich in ein leises Auflachen und er lenkte den Wagen an der nächsten Kreuzung in eine andere Richtung. Den Rest der Fahrt konzentrierte sich Anna darauf, nicht die Beherrschung zu verlieren. Müdigkeit wich Nervosität, es fiel ihr schwer, die Beine stillzuhalten. Wie durch ein Wunder überlebte sie die nächsten Minuten.

»Erzähl mir was von dir.«

Sie hatten sich einen Hotdog besorgt und saßen nun auf der Bank vor dem Imbiss. »Von mir? Was willst du wissen? Mein Leben ist langweilig.«

»Keine Ahnung, irgendwas. Beginn, wo du willst.« Seine Augen leuchteten im schwachen Licht der Straßenlaterne. Die Sterne des zauberhaften Abends funkelten nicht weniger schön am Himmel.

Annas Härchen am Arm richteten sich auf, aber sie hielt seinem Blick stand. Sein bezauberndes Gesicht fesselte sie und sie musterte ihn. Es gab nichts, was an ihm nicht gelungen war. Eine gerade Nase und eine makellose Haut umspielten die besondere Farbe seiner Augen. Die Brauen waren symmetrisch gewachsen und ein paar Grübchen, die nicht sonderlich oft zum Einsatz kamen, zierten seinen perfekten Mund.

Anna schüttelte den Kopf. »Frag was, mir fällt nichts ein.« Was sollte ihn schon an ihr interessieren?

»Hast du einen Freund?«

Halleluja, gleich mit der ersten Frage fiel er mit der Tür ins Haus. Feinfühligkeit schien nicht seine Stärke zu sein, obwohl seine Gabe anderes vermuten ließ.

Sie verneinte zögerlich. Ihr Herz begann schon wieder, fest gegen ihren Rippenbogen zu klopfen.

»Du kommst aus Köln?«

»Ich lebe schon mein ganzes Leben hier. Woher kommst du?«

»Ich bin Engländer, aber in Deutschland geboren. Im Moment lebe ich hier in der Gegend. Wie alt bist du?«

»Siebzehn, werde aber bald achtzehn.« Sie musste es hinzufügen, es klang erwachsener. »Und du?«

Er zögerte einen Moment, fast, als müsste er sich die richtige Antwort noch zurechtlegen. »Ich bin zwanzig geworden, aber ich fühle mich wie hunderteins.«

Anna lachte auf. »Heute fühle ich mich wie hundertzwölf.« Herzhaft biss sie in ihr Brötchen.

»Hast dich gut gehalten.«

»Da solltest du erst mal die Freundin meines Vaters sehen.« Sie wusste nicht, wie sie ausgerechnet auf Sally kam, vermutlich wurmte sie das Gespräch von heute Morgen immer noch.

»Deine Eltern sind nicht mehr zusammen?«

Anna schüttelte den Kopf. »Meine Mutter wohnt in der Schweiz. Sie haben sich scheiden lassen, als ihr Vater diese Barbiepuppe kennenlernte.«

»Du magst sie nicht.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Niemand mag sie. Obwohl, du würdest sie wahrscheinlich gern haben, du bist ein Mann.«

»Und in deiner Welt denken alle Männer mit ihren Genitalien?«

Anna senkte den Blick. Ihr fiel kein passender Kontra ein.

»Ich hab dich aber gern«, fügte er schließlich hinzu.

Prompt verschluckte sie sich an ihrem Hotdog. Sebastian klopfte ihr sorgsam auf den Rücken. »Können wir das Thema wechseln?«, fragte sie, obwohl ihr Herz einen Salto nach dem anderen schlug. Es durchlief sie heiß, kalt, schwindelig, alles zur selben Zeit.

»Wieso? Ist es dir unangenehm, wenn ich so etwas sage?«

»Ja, das ist es. Ich bekomme in der Regel keine Komplimente von Halbgöttern.«

»Von Halbgöttern?« Sebastian lachte los.

Anna schlug die freie Hand vors Gesicht und wünschte sich, im Erdboden zu versinken. Musste sie denn dauernd sagen, was ihr durch das Hirn schoss? Das Talent brachte sie noch um Kopf und Kragen, die Totenbeschwörerei war ein Witz dagegen.

Sebastian beruhigte sich wieder von seinem Lachanfall. »Okay, dann zurück zum anderen Thema. Wieso kannst du die Freundin deines Vaters nicht leiden?«

Anna schluckte den letzten Bissen hinunter. »Na ja, sie hat die Ehe meiner Eltern zerstört und ist ein geldgeiles Miststück. Sie ist bloß halb so alt wie mein Vater.«

»Und du denkst, wegen des Altersunterschiedes hat die Beziehung nichts mit Liebe zu tun?« Er stellte die Frage, als meinte er nicht Sally und ihren Vater.

»Nein, aber sie ist einfach schrecklich. Ich kann es nicht erklären und jetzt wird er sie auch noch heiraten. Sie hat es mir heute Morgen erzählt. Eigentlich war der Tag da schon gelaufen.«

»Ich finde, er endet ganz gut. Ich sitze schließlich neben dir.« Sebastian grinste.

Seine selbstgefällige und irgendwie arrogante Art ging ihr so langsam auf den Wecker. Ständig fühlte sie sich klein. Die Idee, dass er es wirklich nett gemeint haben könnte, verfestigte sich nicht.

»Noch ist er nicht zu Ende. Mich erwartet noch eine Diskussion, wie ich Sally nur so verletzen konnte …«

»Wieso? Was hast du ihr getan? Mit einer Gabel die Augen ausgestochen?«

»Ich habe ihr in Rage erzählt, was ich von ihr halte und ich schätze, das kam nicht sonderlich gut an.«

»Ich begleite dich, dann wird es halb so schlimm.«

Die Vorstellung, Sebastian mit nach Hause zu nehmen, bereitete ihr eine Gänsehaut. Sie lud nie Besuch ein und Jungs kamen überhaupt nicht infrage. Die Reaktion ihres Vaters auf diesen Umstand würde es noch interessanter machen.

»Okay, dann auf!«

Kopfschüttelnd erhob sich Sebastian und spurtete zum Wagen. Mit der Antwort hatte er anscheinend nicht gerechnet. Gentlemanlike öffnete er ihr die Beifahrertür und sie sank erneut in die Polster.

Sebastian schien eine Leidenschaft fürs Autofahren zu haben, denn auf der Bahn spielte er mit seinem Gaspedal. Männer! Genervt verdrehte Anna heimlich die Augen.

Sie parkten am Straßenrand. In der Küche brannte noch Licht. Vermutlich lag sie also richtig in der Annahme, man erwartete ihre Rückkehr, um ihr eine Standpauke zu halten. Sicher zog Sally wieder eine perfekte Show ab.

Anna schloss die Haustür auf und schaltete die Flurbeleuchtung ein. »Paps? Sally? Ich bin zu Hause!«

Natürlich erhielt sie keine Antwort. Für gewöhnlich kündigte sie auch nicht an, wenn sie nach Hause kam. Sebastian folgte ihr über den Korridor. Durch die offene Küchentür vernahmen sie hektisches Geplapper.

»Hi.« Anna hob die Hand zum Gruß.

Sally sah schrecklich aus, ihre Augen waren verquollen. Drama-Queen …

»Anna, bitte komm rein. Wir müssen uns unterhalten.«

»Ich habe Besuch mitgebracht, es ist etwas ungünstig.« Sie hielt den Atem an, als Sebastian die Küche betrat.

»Guten Abend. Ich wollte nicht stören, sondern nur Anna sicher zu Hause absetzen.« Er reichte ihrem Vater die Hand und bot sie Sally freundlicherweise auch an. Sein Gesichtsausdruck blieb beim Anblick der Blondine neutral.

Ein Stein fiel Anna vom Herzen.

»Sebastian«, fügte er hinzu, bevor er ihr heimlich zuzwinkerte.

Anstand hat er ja, schoss es ihr durch den Kopf und sie unterdrückte ein Grinsen.

Sally verfiel seinem Charme wie vermutet sofort. Verlegen wischte sie sich die Krokodilstränen aus dem Gesicht. Paps wirkte eher überrumpelt, es hatte ihm die Sprache verschlagen.

Sebastian überging die Situation. »Glückwunsch übrigens, zur Verlobung. Anna hat mir von dem freudigen Ereignis berichtet.«

»Vielen Dank.« Ihr Vater warf Sally einen undefinierbaren Blick zu, ihr Affentheater geriet böse ins Schwanken.

»Anna und ich haben schon überlegt, wie romantisch der Tag wird. Sie ist wirklich froh, dass Sie eine so bezaubernde Lebenspartnerin gefunden haben.« Er lächelte Sally an, doch der verging schlagartig das Grinsen.

Spätestens jetzt hätte ihrem Vater ein Licht aufgehen müssen, aber Sebastian sprach die Worte so überzeugend aus, dass sogar Anna einen Moment an ihre Wahrheit glaubte.

»Begleiten Sie meine Tochter?«

»Wenn ich eingeladen bin?« Seine Augen blitzten schelmisch auf.

»Natürlich, sehr gern sogar. Anna bringt sonst nie einen Freund mit nach Hause.«

Anna sah, dass Sebastian ein Lachen unterdrückte. So konnte man sich auch eine Einladung ergaunern.

»Es ist spät.« Sally hatte ihre Sprache wiedergefunden und warf einen säuerlichen Blick auf die Uhr.

»Ja, ich sollte auch gehen. Gute Nacht.« Sebastian wandte sich ab und Anna begleitete ihn zur Haustür.

Paps flötete noch ein fröhliches »Gute Nacht« hinter ihnen her.

Anna folgte Sebastian nach draußen. »Das war leicht unverschämt von dir.« Sie versuchte, ihr Gesicht grimmig zu verziehen, was schwerfiel unter dem Hochgefühl.

»Wieso? Die verheulte Freundin deines Vaters kassiert ein paar Worte für die affektierte Show und du bist sauber aus dem Schneider. Ich dachte, das wolltest du?«

»Schon, ich bin fein raus. Aber du bist zur Hochzeit eingeladen, als mein Begleiter.«

Die Fältchen um seine Augen gruben sich in Position. »Ich konnte fühlen, was in ihr vorgeht. Sie hasst dich mindestens so sehr wie du sie. Einer wird auf dich aufpassen müssen, sonst begeht sie noch einen Mord.«

»Und seit wann bist du mein persönlicher Schutzengel?«

»Halbgott trifft’s eher.« Er lachte mit einem Zwinkern in den Augen und verschwand blitzschnell zum Wagen.

Anna blieb keine Zeit zum Kontern, aber ihr Hirn fühlte sich ohnehin seltsam leer an. Hätte sie ihn bloß nie Halbgott genannt, jetzt würde er sie sicherlich noch ewig damit aufziehen. Aber das komische Gefühl beschlich sie, dass dieser Ausdruck der Wahrheit verdächtig nahe kam.