2. Kapitel
Legenden am Feuer
Anna pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Mensch, war das heiß. Die Augustsonne knallte vom Himmel und trotz der Meeresluft, die vom nahe liegenden Wasser herüberwehte, fühlte sie sich nahe am Ersticken. Sie saß mit ihrer Tante Eva auf der blau gestrichenen Veranda und konnte sich nur schwer konzentrieren.
»Anna? Ich versuche, dir etwas beizubringen, hörst du mir überhaupt zu?«
Tatsächlich war sie schon wieder abgelenkt gewesen, denn nicht nur die Temperaturen ließen sie dahinschmelzen. Der Nachbarsgärtner schnitt mit freiem Oberkörper die Hecke der alten Frau und Annas Hormone tanzten Samba.
»Eines Tages wirst du damit fertig werden müssen und dann bin ich nicht mehr da, um dir etwas zu erklären.«
Anna atmete tief durch und sah Eva in die Augen. Sie hoffte, dass dieser Tag noch in weiter Ferne liegen würde.
Eva war ein Medium.
Sie gehörte zu den etwa 60.000 begabten Menschen auf der Welt, die mit einem magischen Talent ausgestattet waren. Eva hatte sie in ihrem Testament als Erbin bedacht und Anna hatte es mit ihrem Blut unterschrieben. Eines Tages also würde die besondere Gabe der Geisterbeschwörung ihr gehören.
»Es ist unerträglich heiß. Können wir für heute nicht Schluss machen? Mein Kopf raucht schon. Ich hab bestimmt einen Sonnenstich.« Sie stöhnte und sah Eva aus großen Augen an. Normalerweise schlug Eva ihr nichts ab, wenn sie so blickte.
»Okay. Schluss für heute.« Eva prüfte den Sitz ihres Zopfes, bevor sie die Notizen zusammenklappte. Lediglich ein paar graue Strähnen verrieten, dass sie seit Langem nicht mehr in die Zwanziger gehörte. »Gehst du später zum Lagerfeuer?«
Das Lagerfeuer hatte mittlerweile Tradition. Jedes Jahr besuchte Anna ihre Tante an der Nordsee. Als sie noch klein war, gaben ihre Eltern sie immer zu ihr, um ein paar kinderlose Wochen verbringen zu können. Obwohl Anna längst kein Kind mehr war, kam sie immer noch sehr gern hierher. Seit sich ihre Eltern vor einigen Jahren hatten scheiden lassen, lebte sie bei ihrem Vater in Köln. Ihre Mutter war wegen eines neuen Jobs in die Schweiz gezogen und sie sahen sich nur noch an den Weihnachtstagen.
Anna reckte das Gesicht der Sonne entgegen. Sie genoss die Ruhe und die Idylle des harmonisch angelegten Gartens. Das Zusammenleben mit der neuen Freundin ihres Vaters entsprach nicht gerade einem Zuckerschlecken. Sally war nur ein paar Jahre älter als sie und Anna würde Ende des Jahres ihren achtzehnten Geburtstag feiern. Trotzdem versuchte Sally, ihr ständig Vorschriften zu machen, und führte sich dabei dreimal schlimmer auf als ihre richtige Mutter. Zudem war Sally eingebildet, oberflächlich und geldgeil. Welche Frau stand schon ernsthaft auf einen zwanzig Jahre älteren Mann? Der Sommer bei Eva bedeutete also immer die reinste Erholung.
»Ja, hatte ich vor. Oder hast du irgendetwas anderes geplant?«
»Nein, ich habe noch einen Auftrag zu erledigen. Geh du nur.«
Mit einem Auftrag meinte Eva eine Kontaktaufnahme ins Jenseits. Die meisten normalen Menschen wussten nichts von den besonderen Talenten, die Existenz der Begabungen galt als geheim. Das änderte aber nichts daran, dass Eva haufenweise Anfragen für Totenbeschwörungen bekam, meistens von Gleichgesinnten mit anderen Fähigkeiten.
»Was ist es diesmal? Wieder ein verzweifelter Ehemann, der nicht weiß, wo seine verstorbene Frau seine Lieblingskrawatte versteckt hat?« Anna grinste. So manch eine Bitte hörte sich ganz schön absurd an und sie betete in drei Teufels Namen, dass sie nicht mit derartigem Schwachsinn genervt werden würde, wenn sie mal nicht mehr lebte.
Eva legte die Stirn in Falten und kniff die Augenbrauen zusammen. Der Gesichtsausdruck verhieß meist nichts Gutes. »Nein, diesmal ist es etwas wirklich Trauriges. Eine Hexe bat mich darum, ihren Mann aufzuspüren. Er war ein Empath und zum Wandern in die Berge aufgebrochen, um sich von den Gefühlen der Menschen zu erholen. Nach ein paar Tagen verspürte sein Ziehsohn plötzlich sein Talent. Frank, so hieß der Mann, hatte ihn als Erben eingesetzt. Natürlich muss etwas Schlimmes passiert sein, aber niemand weiß was. Weder Frank noch sein Freund Bob wurden bisher gefunden und bei der Polizei gelten sie natürlich offiziell nur als vermisst.«
»Das klingt wirklich übel. Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Glück.« Anna glaubte, dass sie eines Tages kein gutes Medium abgeben würde, denn schon jetzt hemmte sie manchmal ihr Mitgefühl.
»Es ist der vierte Begabte, der diesen Monat einfach so verschwindet.« Eva rieb sich mit der Hand die Stirn, wie immer, wenn etwas sie nervös machte.
Anna wandte sich ab, um unter die Dusche zu springen. Wenn es um die Angelegenheiten der magischen Welt ging, hielt sie sich lieber raus. Sie hatte gerade erst mit dem Studium begonnen und Eva war ein wirklich guter Mentor. Aber sie hatte noch ewig Zeit, diese komplizierten Dinge zu lernen.
Sie stellte sich unter die kalt eingestellte Brause. Ihr erhitzter Körper überzog sich mit einer Gänsehaut, aber es tat gut. Mehrfach wusch sie sich mit ihrem Lieblingsshampoo die Haare, bis jede Pore ihres Körpers nach Erdbeeren duftete. Ihr wollte nicht einfallen, wann es das letzte Mal so heiß gewesen war. Die Erinnerungen an ihren einzigen Auslandsurlaub verblassten unter der Hitzewelle des Jahrhundertsommers.
Zehn Minuten später betrat Anna das Wohnzimmer. Sie rubbelte sich im Laufen die Haare trocken, auf einen Föhn konnte sie bei dem Wetter gut und gern verzichten. Eva baute einen Beschwörungskreis auf und blickte kurz zu ihr. Wozu das Kräuterzeugs und die Kerzen gut sein sollten, wusste sie noch nicht, aber vermutlich würde Eva sie noch früh genug mit diesem Wissen beglücken.
Ein Türklopfen riss sie aus den Gedanken.
»Gehst du bitte?«
Sie nickte Eva zu. »Das ist bestimmt Kevin, er wollte mich abholen. Also bis später.«
»Ja, bis später.«
Kevin wohnte in der Nachbarschaft. Na ja, in Wahrheit durfte man wohl alle 300 Einwohner des Nordseedörfchens als Nachbarn bezeichnen. Er und Anna waren Freunde, seit sie denken konnte und sie freute sich jedes Jahr, ihn zu treffen. Es gab nichts Romantisches an ihrer Freundschaft, dazu kannten sie sich schon viel zu lange und bisher war Anna sowieso noch nie ernsthaft verliebt gewesen. In wen auch? Aber sie musste gestehen, Kevin sah gut aus. Er wuchs zu einem jungen Mann heran und die hart trainierte Muskulatur stand ihm gut.
»Hey.« Seine rehbraunen Augen blickten wie immer ein bisschen verträumt durch die Gegend und seine Haare schienen keine Bürste zu kennen. Die Mädels aus dem Dorf standen mit großer Wahrscheinlichkeit Schlange bei ihm.
»Hi.« Anna lächelte und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
»Bereit für ein Gruselfeuer?«
Sie nickte.
Die sommerlichen Lagerfeuer hatten sie zu ihren privaten Gruselstunden auserkoren. Seit sie Kinder waren, erzählten sie sich im Flammenschein die abenteuerlichsten Geschichten, um sich Angst einzujagen. Als sie klein waren, hatte das super funktioniert, und auch jetzt noch besaß es einen gewissen Charme.
Weil sich an der Feuerstelle aber am Wochenende immer das halbe Dorf versammelte, wuchsen ihre Gruselstunden schnell zur Gemeinschaftsrunde an.
Nun erzählten sogar die älteren Semester ein paar mystische Legenden am Feuer.
»Und, wie war dein Jahr?« Die übliche Kevinfrage nach einem Jahr der Abwesenheit.
»Nicht besonders außergewöhnlich. Ich könnte durchaus eine Spur mehr Action in meinem Leben vertragen. Die 12. Klasse hatte es echt in sich und die meiste Zeit saß ich Zuhause und habe gelernt. Und bei dir?«
»Ich habe einen Ausbildungsplatz gefunden, nur ein paar Kilometer entfernt. Nächsten Monat geht’s los.«
»Super!« Anna lächelte. Es war schwer, in der Gegend Arbeit zu finden, wenn er nicht gerade auf einem Fischkutter anheuern oder in die Gastronomie einsteigen wollte. »Als Mechatroniker?«
Kevin hegte eine Leidenschaft für Autos. Leider besaßen die wenigsten Dorfbewohner eins, sodass es sich kaum rentiert hätte, in der Nähe eine Werkstatt aufzumachen.
»Ja, ich kann’s selbst noch nicht glauben. Ich sah mich auch schon am Hafen.«
Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinander her. Der Norden zeigte sich um diese Jahreszeit von seiner schönsten Seite, die Landschaft bestach mit satten Farben. Gelbe Felder gingen in knallgrüne Wiesen über und Anna roch bereits das Meer. Sie atmete tief ein und fühlte sich unbeschreiblich frei. Zu Hause in Köln, wo Haus an Haus stand und alles bebaut war, die Hektik einem die Luft zum Atmen nahm, und die Menschen auf der Flucht vor sich selbst zu sein schienen, vermisste sie dieses Gefühl oft.
»Deine neue Frisur gefällt mir übrigens.« Kevin starrte sie an.
Ein unbehagliches Gefühl, das sich nicht näher beschreiben ließ, befiel sie. Wieso tat er das? Sie hatte sich die taillenlangen, blonden Haare bis zum Kinn abschneiden lassen, hauptsächlich, um sich von Paps‘ Freundin zu distanzieren. Dieselbe Frisur zu haben wäre schließlich einem Freundschaftsbekenntnis gleichgekommen. Trotzdem irritierte sie Kevins Aussage, normalerweise machten sie einander keine Komplimente. Kevins Gesicht errötete und er wandte schnell den Blick ab.
Anna versuchte, die unangenehme Situation zu umgehen und die Stimmung wieder aufzulockern. Sie setzte ein Lächeln auf. »Wie geht es deiner Familie?«
»Wirst du gleich sehen, sie sind schon alle da und zünden das Feuer an.«
Tatsächlich hatte sich bereits der Großteil des Dorfes am Deich versammelt. Das Meer rauschte und glänzte in einem strahlenden Blau. Normalerweise besaß die See einen Grünstich und verschmolz nicht mit dem Horizont. Heute aber schimmerte sie atemberaubend schön, die leichten Wellen tanzten förmlich. Annas Härchen an den Armen richteten sich auf, als sie plötzlich große Lust überkam, eine Runde mit den Fischen zu schwimmen.
Die Dorfbewohner bauten fleißig Stühle und Tische auf, das Knistern des Feuers vermischte sich mit heiterem Gelächter und erfüllte die Abendluft.
Als Kevins Mutter Anna entdeckte, kam sie lächelnd auf sie zu. »Anna, lass dich anschauen!« Sie zog sie herzlich in die Arme. »Dünn bist du geworden.«
Eigentlich hatte Anna im vergangenen Jahr ein paar Pfund zugenommen, aber sie verkniff sich die Antwort. In ihren Augen litt Anna schon immer an Magersucht wie alle Großstadtmädchen.
»Nehmt euch was zu trinken.« Eine Nachbarin deutete auf den Campingtisch, er stand voll mit Bier und Wein. »Ihr gehört doch jetzt schon zu den Großen«, fügte die füllige Dame mit einem Zwinkern in den Augen hinzu.
Kevin griff nach einem Bier und hielt Anna die geöffnete Flasche hin.
Sie trank für gewöhnlich keinen Alkohol und bitteres Bier mochte sie nicht. Aber hier an der See lebte es sich eben anders. Sie nahm ihm die Flasche ab und trank einen großen Schluck, allerdings nicht, ohne sich innerlich zu schütteln.
Die Hitze ließ sich so nah am Wasser schon besser ertragen. Außerdem ging die Sonne langsam unter. Der orangefarbene Ball küsste die Wasseroberfläche und eine frischere Brise wehte ihnen um die Nase. Der Geruch von Salzwasser erfüllte sie, ummantelte Kleidung und Sinne.
»Hi Kevin.« Ein rothaariges Mädchen gesellte sich zu ihnen, sie war etwa im gleichen Alter. Anna hatte sie schon öfter gesehen, erinnerte sich aber nicht an ihren Namen. Ihre großen, grünen Augen blitzten aufgeregt in Kevins Richtung.
»Hi«, antwortete er knapp, griff unerwartet Annas Hand und zog sie eilig auf die andere Seite der Feuerstelle. Seine verschwitzte Hand in ihrer fühlte sich seltsam an. Was war das bloß? Vorsichtig löste sie sich von ihm.
»Sorry, aber du musstest mich retten. Tina ist so unglaublich nervig und spielt schon seit Wochen mein Anhängsel.«
Anna lachte auf, daher wehte also der Wind. Lag sie also gar nicht so verkehrt mit der Annahme, die Mädels hier hätten ein Auge auf ihn geworfen.
Willy trat auf sie zu und begrüßte sie mit Handschlag. »Ihr könnt euch setzen und eine Wurst nehmen.«
Der alte Mann hatte sich mal wieder zum Wurstchef ernannt, er glaubte, ihm gebührte der Posten wegen seines Namens. Er tat das jedes Jahr und inzwischen störte es niemanden mehr. In den vergangenen Jahren hatte es deswegen ab und zu Streit gegeben, weil er nicht immer fair verteilte. Die typischen Probleme einer kleinen Dorfgemeinde.
Knapp hundert Leute hatten sich inzwischen am Deich versammelt, Jung bis Alt unterhielt sich amüsiert.
»Wo ist Eva?«
»Sie hat zu tun«, antwortete Anna in die Runde, ohne zu wissen, wer die Frage gestellt hatte.
Die Würstchen in die Flammen haltend, und mit einem Bier ausgestattet, saßen und standen sie am Feuer. Einige hatten sich am Wasser niedergelassen. Die Atmosphäre war entspannt, in jeder Ecke wurde gewitzelt und gequatscht. Kevin berichtete ausführlich von der Taufe seiner kleinen Schwester, als Anna bemerkte, dass es bereits dunkelte. Im Norden schienen sich die Uhren schneller zu drehen, es kam ihr vor, als wären die Tage viel kürzer. Vielleicht lebte man aber auch einfach nur intensiver, Anna wusste es nicht.
Sie ließ den Blick in die Runde schweifen. Viele Gesichter wirkten im Schein der Flammen erhitzt, glühten rotbäckig vom Alkohol und der Wärme des Feuers. Die kleine Feo war sogar eingeschlafen, Kevins Vater hielt sie fest im Arm.
»Es ist Zeit für eine Legende.«
Anna erkannte den älteren Mann, der sich aufgerichtet hatte. Als Kinder hatten Kevin und sie ihm oft die Erdbeeren aus dem Garten geklaut. Er schimpfte immer wie ein Rohrspatz. Der Alte setzte sich ein Stück näher ans Feuer und räusperte sich. Das Gemurmel erstarb. Die, die nicht zuhören wollten, verabschiedeten sich und schlenderten ans Wasser. Als er weitersprach, klang seine Stimme noch kehliger, als sie es ohnehin schon tat.
»Vor vielen Jahren hat sich in unserem Dorf eine Geschichte zugetragen, an deren Wahrheitsgehalt wir heute noch manchmal erinnert werden.
Er lebte nicht weit von der Kirche entfernt, der Landvermesser mit seiner Familie. Einen kräftigen Jungen hatte er herangezogen, mit starken Armen und einem intelligenten Kopf. Er sollte eines Tages in die Fußstapfen des Vaters treten. Doch Ansel, so hieß der Knabe, hatte bei Weitem andere Vorlieben. Er interessierte sich nicht für die Landvermesserei und war mehr dem Wasser oder auch den Tieren zugetan. Und somit wurde er als junger Mann zum Knecht vom Deichbauer ernannt. Er sollte sich auf dessen Hof um das liebe Vieh kümmern. Aber Ansel verbrachte den Tag lieber am Meer, folgte den Gezeiten, anstatt im Stall nach dem Rechten zu sehen. Er beobachtete des Deichbauers Handwerk und hatte ein paar Ideen, die er ihm abends im Stall zuteilwerden ließ. Tief in ihm erwachte der Wunsch, einen Deich zu bauen. Und so kam es, wie es eines Tages kommen musste. Die Stelle des Deichbauers wurde neu vergeben. Ansel scheute keine Mühe, um das Dorf von seinem Können zu überzeugen. Die Söhne des alten Deichbauers spuckten Gift und Galle, so erbost waren sie, wollten sie doch diese Arbeit verrichten. Ansel siegte und bekam den Job. Die Brüder wanderten daraufhin wütend zur Dorfhexe. Die Hexe sprach gekonnt einen Fluch und wurde reichlich von den Brüdern dafür entlohnt. Von nun an sollte Ansel kein Glück mehr widerfahren und seine kommenden Jahre durch Unheil verübelt sein. Die Monate vergingen, ohne dass etwas passierte. Ansel baute einen stabilen Deich, der hielt. Doch der Fluch wirkte dennoch und bescherte ihm ein geistig behindertes Kind. Die Bewohner unseres Dorfes fürchteten sich vor dem kleinen Mädchen, die Mutter versteckte sie deshalb oft im Haus. Ansel aber ließ sich nicht beirren und ging fleißig seiner Arbeit nach. All seine Liebe steckte er in den neuen Deich, der alte war so gut wie vergessen. So kam es auch diesmal, wie es kommen musste. Der vernachlässigte, alte Deich brach bei einer großen Sturmflut. Die Wassermassen strömten ins Dorf und nur mit Mühe konnten die Männer die meisten Bewohner retten. Ansels Gemahlin litt schreckliche Furcht, wohl wissend, dass ihr Mann gerade in den Fluten kämpfte. Also packte sie das kleine Mädchen und ging los, um nach dem Rechten zu sehen. Die Flutwellen erfassten die Frau und sie und das Kind wurden weit in die See getrieben. Niemand eilte ihnen zu Hilfe, und als Ansel seine Familie ertrinken sah, trieb er seinen Schimmel hinterher ins Meer. Das Pferd sträubte sich keine Minute und galoppierte mutig in die aufschäumenden Wellen. Die ganze Familie ertrank in der Flut und auch der tapfere Gaul überlebte nicht.
Der älteste Sohn trat nun verspätet sein Erbe an. Er bekam die Stelle als Deichbauer und verrichtete seine Arbeit, aber sein Gewissen plagte ihn. War der Fluch schuld an der Tragödie?
Schon bald gingen in der Dorfschenke die Gerüchte umher, man habe Ansel am Wasser gesehen. Er reite mit seinem Schimmel die Deiche ab und das gespenstische Hufgetrappel sei bis zur Kirche zu hören. Der neue Deichbauer wollte das natürlich nicht wahrhaben und bestellte eines Abends die Dörfler zum Meer, um zu beweisen, dass es den Geist nicht gab und er der einzige Deichwächter wäre. Doch nur Minuten vergingen, bis der Erste das unheimliche Hufgetrappel hörte. Die Menschen liefen in Panik davon. Der neue Deichbauer aber blieb, er traute seinen Ohren nicht. Aus dem Nichts erschien Ansel in Form eines Geistes und sein edler Schimmel trat fest zu. Der Huftritt schleuderte den Deichbauer ins weite Meer und ihm wurde Ansels Schicksal zuteil. Er ertrank in dem wütenden Gewässer.
Diese Geschichte nennen wir die Rache des Schimmelreiters und seither hören wir auch jetzt noch manchmal das Hufgetrappel des mutigen Pferdes. Manche sehen sogar den Geist von Ansel die Deiche abreiten.«
Es war mucksmäuschenstill. Alle blickten nachdenklich in die Flammen. Die Worte des alten Mannes klangen nach, und obwohl sich Anna inzwischen etwas schläfrig fühlte, hatte ihr die Geschichte eine Gänsehaut auf die Arme gezaubert. Das war das Schönste an diesen Abenden. Wie unglaubwürdig die Legenden auch sein mochten, das Feuer, die Dunkelheit und das Rauschen des Meeres ließen sie dennoch schaurig erscheinen. Es waren die Momente, in denen sich Anna kaum zu atmen traute, aus Angst, sie könnte die Stimmung verderben.
Kevin fing ihren Blick auf und lächelte. Als der Erste aufstand, um etwas zu trinken zu holen, brach der Zauber. Jeder begann zu diskutieren, um seine Meinung über den Wahrheitsgehalt der nördlichen Mär lautstark kundzutun.
»Das ist das Beste am Sommer, oder?«, fragte Kevin.
Anna nickte. »Auf jeden Fall.« Lustig, dass sie fast dasselbe gedacht hatte. Das geschah oft und war wohl ein Grund dafür, weshalb sie sich angefreundet hatten.
Vom Alkohol leicht angeheitert, begann Kevin über die Geschichte zu rätseln und sie stimmte locker ein. Erst als Kevin aufstand, um sich ein Bier zu holen, bemerkte sie, wie weit der Uhrzeiger schon zur Mitternacht vorgerückt war.