38. Kapitel

Kevins Fehler

Anna lag lang ausgestreckt auf dem Waldboden. Hohe Tannen umgaben und schützten sie. Ihr Herz hatte es noch nicht geschafft, sich zu beruhigen, aber immerhin atmete sie schon wieder, ohne dass die Lungenflügel förmlich verbrannten. Wie schnell ein Leben außer Kontrolle geraten konnte. Unglaublich. Obwohl sie mit der magischen Welt schon eine Weile vertraut war, immerhin hatte Eva sie schon vor Jahren eingeweiht, hatte Anna nicht damit gerechnet, dass sie so dominant ihr Leben regieren würde. Und das noch auf derart abscheuliche Art und Weise. Wenn sie noch einmal die Wahl hätte, sie würde ihren blutigen Finger nicht wieder auf ein Testament drücken.

Ihre Mutter saß neben ihr auf dem Boden. Ihre dunkelblauen Augen hatten den Glanz verloren, ihr Anblick war erschreckend. Nicht der Dreck, die Müdigkeit oder die Kraftlosigkeit versetzte Annas Herzen einen Stich, sondern die Gewissheit in ihrem Ausdruck, der sie wissen ließ, dass die Welt schlecht war.

»Ich verstehe immer noch nichts«, sagte ihre Mutter leise.

»Wie könntest du auch?«, antwortete sie und richtete sich auf.

»Erklär’s mir.«

Anna mochte nicht. Ihr fehlte die Kraft zum Erzählen, alles aufs Neue zu wiederholen. Die Motivation hatte sich verabschiedet, zusammen mit jedem erdenklichen Gefühl, das Hoffnung oder Glück gleichkam. Trotzdem rang sie sich dazu durch und gab die vergangenen Wochen in einer sehr verkürzten Version wieder.

Ihre Mutter hörte aufmerksam zu, streichelte ihr über den Kopf und durch das Gesicht. So vertraut gingen sie schon lange nicht mehr miteinander um. Traurig, dass sie erst durch das Erlebte wieder zueinanderfanden. Hätte es einer von ihnen nicht bis hierher geschafft, hätte der andere mit einer entsetzlichen Leere leben müssen.

Auch Mr. Cole folgte Annas Geschichte. Ihm erzählte sie nichts Neues, er hatte bereits eins und eins zusammengezählt.

»Du bist unglaublich stark, Anna«, flüsterte ihre Mutter.

»Was ist, wenn wir das Falsche tun?« Wenn sie es nicht schafften, die Fingerless aufzuhalten, starben viele Menschen.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«

Eine Weile sagten sie nichts, sondern saßen nur da. Anna fiel es schwer, auch nur einen Gedanken länger zu verfolgen. Ihre Konzentration ließ nach und langsam auch die Anspannung. Die dauernden Hochs und Tiefs ihrer Gefühlslage stimmten sie melancholisch. Es hatte mit Sebastian zu tun. Aber für einen winzigen Moment wollte sie sich einmal keine Sorgen machen. Er würde es schon schaffen, er schaffte es immer.

»Ist Sebastian dein Freund?«

Anna zuckte die Schultern. »Ich schätze, schon.«

»Er ist ein guter Junge.«

»Ich weiß. Aber das Problem ist, dass er das nicht weiß.«

»Dann musst du es ihm vor Augen führen.«

»Seid still!« Mr. Cole sprang auf und spannte die Armbrust.

Doch lediglich eine Windböe streifte die oberen Baumspitzen und ließ die Nadeln rascheln.

Trotzdem löste die Reaktion des alten Herrn etwas in ihr aus. Sie durften sich nicht in Sicherheit wiegen und gedankenlos herumsitzen. Noch immer war äußerste Vorsicht geboten. Anna stellte sich hin und befreite die Kleidung von Laub, Nadeln und Dreck. Bereit, für den sicherlich nicht letzten Part des Kampfes …

*

Eine Klinge traf Sebastians Rücken. Zorn loderte auf, wand sich in seinem Magen. Er atmete tief durch und drehte sich langsam zu dem Angreifer um. Die kleine Wunde verschloss sich. Magier besaßen stahlharte und gut heilende Haut.

Kevin!

Die zum Zerreißen gespannten Nerven hielten nicht länger stand. Er verlor die Kontrolle, seine Menschlichkeit verabschiedete sich. Blitzschnell flog seine Hand an Kevins Kehle. Mit roher Gewalt drückte er ihn an die Wand.

Er erinnerte sich an die Menschen, die ihm bereits zum Opfer gefallen waren. Nicht besonders viele und dennoch hatte ihm jeder Tod Genuss bereitet.

Ein Genuss, dem ein Magier nicht widerstehen konnte. Vanessa entfuhr ein Schrei. Marla sprang auf und versuchte, ihn mit aller Macht von Kevin wegzureißen. »Sebastian! Hör auf!«

Kevin schnappte vergeblich nach Luft, das Messer fiel ihm aus der Hand.

»Sebastian!« Jenny zog an seinem Arm.

Der Rest näherte sich nicht, verfolgte nur das gefährliche Schauspiel.

»Schluss«, rief Marla. Sie war genauso machtlos wie eine Ameise, die einen Eisbären bezwingen wollte.

»Sebastian, du tötest ihn! Du tötest Annas besten Freund!« Jenny weinte los und grub ihre Nägel in sein Fleisch.

Sebastian hielt inne. Die Worte brannten auf seiner Seele. Kevin glitt bewusstlos zu Boden. Magie und Wut schäumten durch Sebastians Venen. Er wollte töten, Kevin das Leben nehmen. Wie konnte der Mensch es wagen, ihn, den Retter, zu attackieren? So etwas sollte mit dem Tod bestraft werden. In seiner Welt wurde das bisher so gehandhabt. Der Teufel oder vielmehr der Engel in ihm sprach zischende Laute. Er wollte ihm nachgeben. Der dunklen Stimme folgte er schließlich seit einem Jahrhundert.

Es war ein Konflikt von überdimensionaler Größe. Er besaß zwei Persönlichkeiten, dessen wurde er sich schmerzlich bewusst. Beide lebten in ihm, mit Erinnerungen, Verhaltensweisen und Vorlieben. Doch sie standen in einem starken Kontrast zueinander. Eine Identitätsstörung, die ein Mensch nicht einmal annähernd verstehen konnte. Was hatte sich Gott dabei gedacht, als er mutierte Halbwesen auf die Welt losgelassen hatte? Wesen wie ihn.

Er hielt den Blick starr auf Kevin gerichtet, zum erneuten Angriff bereit. Zum Töten bereit. War er das wert? Er bekam die Möglichkeit, eine Entscheidung zu fällen, die seine Krise vielleicht für alle Zeit löste, für die er den Mut aber schon bald nicht mehr aufbringen würde.

Marla beugte sich über Kevin und eine feuchte Hand legte sich in seine. Er spähte hinunter. Jennys Hand.

»Ist gut, Sebastian. Nichts passiert«, sagte sie mit kindlicher Stimme. Furcht schwang mit.

Sebastian blickte in ihre verweinten Augen. Schmerz zerriss sein Herz. Hatte sie Angst vor ihm? Er schloss die Augen und drückte ihre Hand. Der Magierausch ebbte nicht ab, so sehr er sich auch bemühte, die Kontrolle zu erlangen. Deshalb lenkte er ihn in eine Bahn. Er durfte nicht töten, zumindest keinen Menschen.

»Noch mal gut gegangen«, sagte Marla. »Er lebt.«

Sebastian öffnete die Augen, als sich Marla über Pearson beugte und ihm ein Pulver ins Gesicht blies. Er würde seine Wut auf das Beiratsmitglied richten. Später.

»Dieser Kerl …«, schimpfte Ralph plötzlich los und wollte wütend auf Sebastian losgehen, doch Sally hielt ihn ängstlich zurück.

Ruhig, er ist ihr Vater, dachte Sebastian.

»Dieser Kerl wurde gerade fast von diesem Deppen niedergestochen. Suchen Sie die Schuld woanders«, zischte Jenny und auch Marla stellte sich solidarisch vor ihn.

»Wir haben später Zeit zum Streiten. Jetzt sollten wir möglichst schnell verschwinden. Dass Sebastian hier ist, zeigt wohl, dass Annas Plan geglückt ist. Ihr solltet euch bedanken«, schimpfte Marla.

»Sie hat meine Schwester?«, fragte Vanessa. Tränen liefen ihr über das Gesicht.

Sebastian atmete durch. »Wir haben alle. Es war ein paar Mal sehr knapp, aber Anna und die anderen warten im Wald. Wir sollten aufbrechen.« Er klang tonlos.

Vanessa fiel ihm um den Hals. »Danke! Ich danke euch!«

Sebastian taumelte perplex einen Schritt zurück.

Sally löste sich von Ralph und trat auf ihn zu. Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Danke«, sagte sie und berührte ihn sanft an der Schulter.

Seine Wut verrauchte, wich Entsetzen. Wie konnte er sich so gehen lassen? Er schüttelte sich. Seinen persönlichen Kampf musste er später ausfechten. Allein. »Können wir dann?«

»Wir haben Robert als Geisel genommen. Sollen wir ihn mitnehmen?«, fragte Marla.

Sebastian nickte. Fast hätte er eine Antwort gegeben, die sicherlich niemand hören wollte.

Ralph kniete sich stumm zu Kevin und versuchte, ihn über die Schulter zu hieven. Kevin schlug verwirrt die Lider auf. Würgemale zierten seinen Hals wie eine Kette.

»Geht’s dir gut, Kevin?«, fragte Ralph besorgt. Die Abneigung gegen Sebastian schwang deutlich hörbar in der Frage mit.

Kevin starrte Sebastian an, jeder Gesichtszug verriet Angst.

»Du wirst uns begleiten. Wenn ich dich zurücklasse, wird Anna mich steinigen«, sagte Sebastian. »Steh auf.«

Kevin kam der Aufforderung nach. Seinen Beinen fiel es sichtlich schwer, zu gehorchen. Sie verließen das Schlafzimmer.

Sebastian führte sie zur Haustür, den Schließzauber hatte er bereits beim Reingehen gebrochen. Er trug Robert Pearson über der Schulter, obwohl es ihm lieber gewesen wäre, sich des lästigen Fangs gleich zu entledigen. Er kam ohnehin nicht darum, musste es aber fern der anderen tun.

»Wir nehmen die Wagen.« Sebastian deutete auf die Limousinen, mit denen sie vom Flughafen hergereist waren.

»Ich fahre.« Marla begab sich bereits neben das zweite Fahrzeug, doch sie winkte Sebastian noch einmal zu sich heran. »Ich sollte Pearson neben mir sitzen haben. Niemand sonst kann ihn in Schach halten.«

Sebastian öffnete mit einem Spruch die Türen und ließ die Motoren mit magischer Hilfe aufheulen. Als er an Marla herantrat, um Robert Pearson auf den Nebensitz zu verfrachten, flüsterte Marla ihm ein paar Worte ins Ohr. Er nickte.

»Die Herren der Schöpfung fahren mit mir«, wies Sebastian an. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, denn es schien den beiden nicht zu passen.

Virginia, Sally und Vanessa kletterten auf die Rückbank von Marlas Wagen, Jenny zwängte sich noch daneben. Robert Pearsons Kopf lehnte an der Fensterscheibe der Beifahrertür. Wenn jemand sie so sah, waren sie geliefert.

»Beeilt euch«, herrschte Sebastian die Männer an, er vernahm Stimmen aus dem Waldstück hinter sich.

Ralph sprang in den Wagen und zog Kevin hinter sich her. Aber der hatte sich inzwischen wieder gefasst. Er wandte sich geschickt aus Ralphs Griff, befreite sich und stolperte rückwärts, bevor er in Windeseile auf das Waldstück zusteuerte.

»Kevin«, rief Ralph und sah ihm erschrocken hinterher.

»So ein Idiot.« Sebastian drückte das Gaspedal durch und die edle Limousine raste mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.

Marla folgte ihm im gleichen Tempo. Sebastian blickte in den Rückspiegel. Aldwyn Eltringham humpelte schnellen Schrittes aus dem Wald. Eine Menschenansammlung folgte ihm. Kevin gestikulierte wild und sprach aufgebracht auf ihn ein. Die Fassungslosigkeit stand dem Beiratsmitglied ins Gesicht geschrieben, seine Miene verzog sich zu einer ungläubigen Fratze.

Die Genugtuung des Anblicks, so war sich Sebastian sicher, würde er sein ganzes Leben nicht vergessen, wie lang es auch noch andauern mochte. Er lächelte in sich hinein und konzentrierte sich auf die Straße.