34. Kapitel
Schnell wie ein Pferd
Eisiges Blau brannte sich in Marlas Gedächtnis. Sie kannte diese Farbe, aber woher? Es erinnerte sie an vergangene Zeiten. An Zeiten, die nichts Gutes verhießen. Oder doch? Seltsame Wellen pulsierten durch ihren Körper und ihr Verstand erwachte mit jedem Herzschlag ein bisschen mehr. Das, was ihr Gehirn ihr versuchte mitzuteilen, war alles andere als erfreulich. Sie versuchte, den Schleier des Vergessens wieder über ihren Verstand zu ziehen, aber ihr Blick klärte sich sekündlich weiter.
Erschrocken sog sie Luft ein, ihr Puls erhöhte sich ums Dreifache. Vor ihr saß Sebastian und murmelte einen Gegenfluch. Ihre Gedanken fügten sich zusammen, alles ergab wieder einen Sinn. Sie hob die Hand und gab Sebastian eine schallende Ohrfeige.
Er schimpfte nicht, wehrte sich nicht. Er sah traurig aus und versuchte, trotzdem ein Grinsen aufzusetzen.
»Weiter, ich habe es mehr als verdient«, sagte er.
Marla wollte ein zweites Mal ausholen, doch Jenny stoppte ihre Hand. »Genug, Mama. Wir können uns später streiten. Sebastian ist hier, weil …«
»Ich kann mir denken, warum er hier ist. Ich erinnere mich an alles. Vor und während des Fluches«, antwortete sie bitter.
»Es tut mir leid«, flüsterte Sebastian.
»Ich hoffe, dir bleibt genug Zeit, das alles wiedergutzumachen, bevor dich dein Leichtsinn zur Strecke bringt.« Marla besah ihn mit strengem Blick.
»Mein Leichtsinn?«
»Was glaubst du, passiert, wenn dich hier jemand findet?«
»Du machst dir Sorgen um mich?« Sebastian zog die Augenbrauen hoch.
»Nein. Ich mache mir Sorgen, was wohl passiert, wenn du und dein bescheuerter Plan scheitern. Es ist doch dein Plan, die Geiseln zu befreien, oder?«
»Ich werde nicht scheitern.«
»Streng dich noch mehr an.« Ihr Blick fiel auf Jenny. Ihre Gefühle schäumten über und sie zog sie ganz nah an sich heran. Ihre Hände zitterten, kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie küsste ihr Gesicht. »Du dummes Kind. Du dummes, dummes Kind. Wie konntest du sie nur hierher begleiten?«
»Sie haben Opa, und ganz ehrlich? Ohne mich wäre Anna dermaßen am Arsch.«
»Solche Ausdrücke will ich nicht hören«, sagte sie, aber ihr Unterton verriet, wie wenig erbost sie darüber war, denn Jenny schmunzelte, als sie ihre Tochter sanft schüttelte. »Wie ist der Plan?«
»Anna und ich gehen die Geiseln befreien. Du und Jenny versucht, hier alles im Auge zu behalten. Vielleicht wäre es besser, du tust zunächst so, als wärst du, na ja …«, stotterte Sebastian.
»Noch verrückt?«, vollendete sie den Satz.
Sebastian nickte.
»Na, da ich tatsächlich inzwischen einige Übung im Verrücktsein habe, sollte das wohl kein Problem sein.«
Sebastians Gesicht verzog sich. Er fing ihren Blick auf. »Marla? Wird es jemals wieder gut zwischen uns werden?« Er senkte den Kopf und zog die Schultern hoch.
»Für den Fall, dass du überlebst, schuldest du mir zehn Jahre Abwasch«, sagte sie.
Sebastians lächelte. »Du bekommst zwanzig Jahre.«
*
Anna mutierte vom Hello-Kitty-Kämpfer zum Ninjakrieger. Die Auswahl an Kleidung, die der Beirat für sie getroffen hatte, eignete sich offensichtlich prima zum Kampf. Der schwarze, leichte Overall und die paar Rennfahrerstiefel standen ihr ausgezeichnet. Es hatte irgendwie etwas von Catwoman, nur der Schwanz fehlte natürlich.
Als sie ins Zimmer platzte, waren Marla, Jenny und ihr Halbgott in ein Gespräch vertieft. Es sah so aus, als hätte Marla ihm zumindest für den Augenblick einen Großteil verziehen.
»Da bist du ja.« Sebastian strahlte sie an.
»Ja, da bin ich. Wir sollten uns davon überzeugen, ob der Beirat noch im Haus ist.«
»Sie sind eben weggefahren«, antwortete Marla.
Anna durchlief eine Gefühlsattacke. Marlas Augen blickten klar. Sebastian hatte sie von dem Fluch befreit. Sie wollte gerade ansetzen, ihr zu sagen, wie froh es sie machte, da erstickte Marla die Worte im Keim.
»Wir haben später Zeit für Gefühlsduseleien. Ihr solltet los. Und wehe, ihr versagt.« Sie besah Sebastian mit einem strengen Blick. »Erstens will ich meine Anna lebendig wiedersehen und zweitens bin ich scharf auf zwanzig Jahre abwaschfrei.«
»Abwaschfrei?«, fragte Anna, aber Sebastian winkte ab.
»Wir sollten gehen«, sagte er.
»Okay, ich bin startklar.«
Sebastian warf ihr eine Jacke zu. »England ist kalt.«
Sie widersprach nicht, sondern wandte sich Marla zu. »Marla, sieh zu, dass niemand in den Kampf aufbricht, ehe du eine Nachricht von mir erhältst.«
»Wie erhalte ich eine Nachricht?«
Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, uns fällt schon etwas ein.«
»Das klingt nach einem hervorragenden Plan. Aber okay.«
»Da alles andere zu sehr nach Abschied klingen würde, sage ich nur: Bis dann.« Sebastian nickte den beiden zu.
»Bis dann«, antwortete Marla, aber Anna sah, dass sie mit Tränen zu kämpfen hatte.
Jenny versuchte erst gar nicht, sie zu unterdrücken.
Bevor Anna in einen Heulkrampf ausbrach, legte Sebastian ihre Hand in seine und umschloss sie. Er zog sie zur Tür hinaus auf den Flur. Die anderen saßen bestimmt beim Frühstück, denn der Korridor lag verlassen da. Gott sei Dank.
Sie fühlte sich ziemlich 007-mäßig, als sie sich lautlos hinter Sebastian über den Flur und die Steintreppe hinunterbewegte. Alle Sinne arbeiteten auf Hochtouren. Als Anna die Klinke hinunterdrückte, um die Haustür zu öffnen, erschrak sie. Verschlossen! Ein Anflug von Panik überkam sie. Weshalb hatten sie das nicht bedacht?
Sebastian warf ihr einen lässigen Blick zu. Er murmelte ein paar Worte und die Tür sprang auf, als wäre sie nicht ultraschwer und verriegelt.
Anna holte Luft und küsste ihn spontan auf den Mund. Sebastian grinste und schob sie durch den Ausgang, um sie draußen sofort hinter ein paar Bäume zu ziehen.
»Sie haben uns eingesperrt?«, fragte sie wütend, als sie sich außer Hörweite befanden.
»Klar, hast du gedacht, sie vertrauen euch?«
»Nein.«
»Siehst du.«
»Und jetzt? Weißt du, wo das Hauptquartier ist?«
»Natürlich, aber es sind ein paar Kilometer.«
»Wie kommen wir dahin?«
»Zu Fuß.«
»Zu Fuß?« Auch ohne zu erwähnen, dass sie kein sportliches Talent besaß, musste Sebastian wissen, dass es fast unmöglich war, so rechtzeitig anzukommen.
»Ich trag dich. Ich bin schnell.«
Sie erinnerte sich an das Busunglück. Ohne Schwierigkeiten hatte er sie getragen. »Okay, Fury, dann mal auf.« Eigentlich war ihr nicht nach Scherzen zumute, aber möglicherweise erlebte sie gerade ihre letzten Stunden. Sie wollte sie nicht damit vergeuden, hilflos herumzuschluchzen und in Verzweiflung auszubrechen. Sie gehörte schon immer zu denjenigen, die ihre Angst mit ein paar lockeren Sprüchen überspielten.
Sebastian schnaubte und scharrte mit dem Fuß, er ging ernsthaft auf das Spiel ein.
»Sei nicht albern, wir sind jetzt Weltretter.« Sie versuchte, gespielt erwachsen zu klingen, aber es half tatsächlich, die Furcht hinunterzuschlucken.
»Du hast mich Fury genannt.«
»Stimmt, aber Black Beauty wäre so viel passender.« Sie himmelte ihn mit schmachtendem Blick an.
Er küsste sie. »Los, auf.«
Anna sprang auf seinen Rücken. Seine Muskulatur spannte sich spürbar durch seine Jacke an, als sie auf seinem Rücken zu sitzen kam. Trotz der seltsamen Position fühlte es sich sicher an. Sie hatte beim Kampf gegen Kira gesehen, wie flink Sebastian sein konnte, aber es selbst zu erleben, berauschte sie. Der Vergleich mit den beiden Fernsehtieren lag gar nicht so fern, denn Sebastian lief schnell wie ein galoppierendes Pferd.
Der Wind blies ihr ins Gesicht, spielte mit ihrem Haar und ließ die Finger klamm werden. Sebastian bemerkte, dass sie fröstelte, und legte seine Hände schützend auf ihre. Plötzlich stolperte er über eine Wurzel und verlor beinahe das Gleichgewicht. Anna rutschte ein Stück nach vorn. Er blieb kurz stehen und sie nahmen sich eine Atemlänge Pause. Die Bäume über ihnen rauschten. In einigen Metern gingen die Laubbäume in Nadelbäume über. Sebastian schüttelte sich eine Haarsträhne aus der Stirn, bevor er weiterstürmte. Nach ewig langer Zeit, vielleicht einer Stunde, bremste er ab.
»Der Wald endet hier. Es wäre auffällig, wenn wir so weiterrasen. Vielleicht sollten wir ein Taxi nehmen?«
Sebastians Brustkorb hob und senkte sich schwer, er japste nach Luft. Schweißperlen rannen über sein erhitztes Gesicht und sein T-Shirt klebte an seinem Körper. Anna fühlte es durch die Jacke hindurch. Schnell sprang sie von seinem Rücken. »Geht’s dir gut?«
»Klar, aber renn du mal ’ne Stunde durch«, keuchte er.
Ich renne keine zehn Minuten und sehe schlimmer aus. »Machen wir fünf Minuten Pause«, antwortete sie.
Er nickte und schälte sich aus der Jacke. Als er auch noch sein T-Shirt über den Kopf zog, hielt sie die Luft an. Das letzte Mal, als sie ihn oben ohne gesehen hatte, war sie daraufhin benommen auf Marlas Terrasse gestolpert. Die Erinnerung an die sorglose Zeit zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen.
»Guck mich nicht so an.« Er grinste.
»Ich kann nicht wegsehen. Du bist, ich weiß nicht, ich kann’s nicht in Worte packen.«
»Dein«, sagte er.
»Dein?«
»Ich bin dein, ich gehöre dir. Nenn es, wie du willst.«
»Darf ich dich anfassen?«, fragte Anna und sah ihm in die Augen.
Er griff nach ihrer Hand und legte sie auf seine nass geschwitzte Brust.
»Himmel, wenn wir jetzt nicht die Welt retten müssten, würden mir hundert Dinge einfallen, die wir stattdessen tun könnten.«
»Müssen wir aber. Und in Schritt eins die Geiseln befreien, bevor der Beirat davon Wind kriegt, dass du durchgebrannt bist.«
Er schob ihre Hand von sich und schlüpfte zurück in sein Shirt. Er hatte sich genug abgekühlt, oder genug davon, dass sie ihn sabbernd anstarrte. Seine Nüchternheit war wichtig, denn eigentlich wusste Anna, dass ihnen die Zeit förmlich durch die Hände glitt. Auch wenn ihre Hormone etwas anderes sagten …
»Also?«
»Also, los.« Sie nickte.
Er nahm ihre Hand und sie betraten eine Straße. »Dort drüben ist ein Restaurant. Von da aus rufen wir ein Taxi.«
»Guter Plan«, antwortete Anna, froh darüber, dass sie überhaupt einen Plan verfolgten. Ohne ihn hätte sie es wohl nicht weiter als bis zur Eingangstür geschafft.
Gemeinsam marschierten sie vorwärts. Nach seiner atemberaubenden Geschwindigkeit fühlte sie sich fast wie eine Oma am Gehstock. Oder besser, wie eine Oma mit Beinprothese, Gehstock und Lungenentzündung.
Sie erreichten das kleine, italienische Restaurant. Woher kannte er sich so gut aus? Ihr fiel ein, dass er irgendwo in London gefangen gehalten worden war. Sie erinnerte sich an die Kampfbilder, die der Beirat gezeigt hatte. Seine Festnahme.
»War es schlimm in Gefangenschaft?« Ein sensibles Thema, aber sie sprach es trotzdem an.
»Ja, es war schlimm. Aber rückblickend betrachtet habe ich wohl einfach nur darauf gewartet, dass du geboren wirst.«
Sie lächelte ihn an, er sagte einfach immer das Richtige. Sie riefen schnell ein Taxi, und während sie auf dem Bordstein saßen, knetete Sebastian ihre Schultern. Keine drei Minuten später fuhr ein Wagen vor. Sebastian nannte die Adresse. Enttäuscht, dass er sich vorn beim Fahrer niedergelassen hatte, nagte Anna an ihrer Unterlippe und versuchte, die aufkommende Nervosität zu unterdrücken. Hoffentlich erwartete sie kein blaues Wunder.
Der Linksverkehr war gewöhnungsbedürftig und mehr als einmal rechnete sie mit einem Zusammenprall mit einem anderen Fahrzeug. Natürlich völliger Humbug. Auf der Fahrt zum Jagdschloss hatte sie das nicht wahrgenommen, vermutlich wegen des Regens und der Dunkelheit.
Es dauerte nur zwei Radiolieder, bis das Taxi stoppte. Sie erfuhr, weshalb Sebastian hatte vorn sitzen wollen. Mit einem Blick unterlag der Fahrer einem Fluch. Sebastian verwischte die Spuren, wobei sie hier wahrscheinlich trotzdem zu allererst nach ihnen suchen würden. Anna durchlief ein Schauder, als sie sah, wie leicht sich der Taxifahrer von ihrem Engel bezirzen ließ. Ob er mit ihrem Hirn auch schon rumgespielt hatte?
»Anna?« Sebastian hielt ihr bereits die Tür auf.
Sie wandte den Blick ab und kletterte aus dem Wagen. »Das war nicht besonders nett.«
»Es wäre auch nicht nett, gleich die Polizei am Hintern kleben zu haben, weil wir kein Bargeld dabeihaben. Ich wollte hier möglichst unauffällig reinspazieren.« Er deutete auf ein gelb gestrichenes Gebäude mit vielen Etagen. Von außen erschien es wie ein großer Bürokomplex, aber irgendetwas sagte Anna, dass es drinnen nicht im Entferntesten danach aussah. Die Eingangsstufen waren aus Marmor und der goldene Handlauf wirkte echt. Einem ungeschulten Auge wären die Dinge vermutlich nicht aufgefallen, aber ja … So stellte sie sich persönlich das Hauptquartier des Beirats vor.
»Bist du bereit?«, fragte er.
Anna wollte ihn fragen, wozu sie bereit sein sollte, wie sein Plan aussah, aber sie kam nicht mehr dazu. Er packte ihre Hand und schleifte sie mit schnellen Schritten hinter sich her. Bevor er die Klinke der imposanten Tür hinunterdrückte, überschwemmte sie eine Welle aus Panik. Die Kälte fraß sich durch ihre Kleidung hindurch in ihren bereits zitternden Körper. Das Gefühl war ihr nur allzu vertraut, denn es schrie: Du bist dabei, einen gewaltigen Fehler zu machen.