16. Kapitel

Ouija-Brett

Wenn Eva sie im Leben eines gelehrt hatte, dann, Prioritäten zu setzen. Sie hatte immer gesagt: »Anna, unterscheide im Detail und wähle mit Bedacht, was Vorrang hat.«

So aufschlussreich das Gespräch mit Sally auch gewesen war, sie musste noch eine Aufgabe erledigen. Schritt für Schritt. Man konnte den König nicht enthaupten, solange man keine geeignete Waffe besaß. Zudem verging ihr die Lust, sich mit möglichen Legenden auseinanderzusetzen. Von dem Flattern in der Magengegend mal ganz zu schweigen. Was sollte sie tun, wenn sie stimmten?

Erst am späten Abend besuchte sie den alten Resthof. Sally loszuwerden hatte sich schwierig gestaltet.

Marla schien das ganz gelegen zu kommen. Sie wirkte nervös, als sie die Tür öffnete.

»Konntest du das Brett besorgen?«, fragte Anna, während sie leise in die Küche gingen.

»Ja, konnte ich«, flüsterte Marla. »Aber ich habe Sebastian gerade erst erreicht, er ist den ganzen Tag nicht ans Telefon gegangen. Bis er hier ist, sollte hoffentlich auch Jenny eingeschlafen sein. Sie ist eben erst zu Bett gegangen.«

Anna konnte verstehen, dass Marla ihre Tochter nicht dabeihaben wollte. So abgeklärt Jenny manchmal auch sein mochte, sie war noch ein Kind und Marla hatte jedes Recht dieser Welt, sie zu schützen.

Annas Nerven lagen auch blank. Sie hatte sich auf der Fahrt hierher mehr als einmal gefragt, ob sie eigentlich das Richtige tat. Die Erinnerung an Evas ängstliche Stimme verdrängte alle Zweifel erneut. Sie musste ihr helfen und vielleicht noch unzähligen anderen.

Sie setzten sich an den Tisch. Kaum später hörten sie Schritte im Hausflur. Sebastian sah blass aus, er senkte den Kopf. Seine Arme hingen kraftlos hinunter und seine Körperhaltung glich einem Gummimännchen.

»Hi«, sagte Anna und versuchte, seinen Blick aufzufangen.

»Das ist eine total bescheuerte Idee, Anna.«

Was für eine nette Begrüßung. Marla schnaufte nur. Natürlich gab sie ihm recht.

»Es ist unsere einzige Chance!« Anna blickte ihnen abwechselnd ins Gesicht.

Sebastian starrte ins Leere. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen. In dieser Angelegenheit durfte sie keine Rücksicht nehmen.

»Ich hab noch eine Frage an euch. Habt ihr jemals von einem Gerücht gehört, dass von verschollenen Pergamenten handelt, die uns ungleich stärker machen sollen?«

Marla schüttelte ratlos den Kopf, aber Sebastians Augen blitzten auf. Es verschlug ihm offensichtlich die Sprache und er fixierte sie mit wachsamem Blick.

»Woher hast du die Geschichte?«, fragte Marla.

Anna strich sich das Haar hinter die Ohren. Sie mochte sich nicht länger mit der Geschichte auseinandersetzen. Sie sparte sich ihre Konzentration lieber für das Ouija-Brett auf, zudem sträubte sich etwas in ihr, von der Prophezeiung zu berichten. Wenn sie es laut aussprechen würde, würde es die Sache noch realer machen. Der Schreck saß ihr noch tief in den Gliedern.

»Wollen wir anfangen?«, fragte sie und blickte in die Runde.

Marla atmete schwer ein und aus, nickte zögerlich. Sebastian verharrte still an seinem Platz, den Blick auf die Tischkante gerichtet. Was war nur los mit ihm? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihn Angst lähmte. Er war sicher kein Feigling. Sie beschloss, ihn später danach zu fragen, im Augenblick ging Eva vor.

Marla griff nach einer Holzkiste. Sie erschien verhältnismäßig klein, wenn sie den Inhalt bedachte.

»Wir werden hier am Küchentisch bleiben. Sebastian? Kannst du bitte noch nachsehen, ob Jenny eingeschlafen ist? Wir können sie hierbei nicht gebrauchen.«

Er verschwand wortlos aus der Küche. Marla öffnete die alte Kiste und Anna hielt die Luft an. So also sah ein Ouija-Brett aus. Das Holz wirkte antik, sie tippte auf Mahagoni. Die altertümliche Schrift ließ auf das neunzehnte Jahrhundert schließen.

»Der Mann aus dem Laden sagte, alle sollen den Stein berühren. Wir dienen ihm als Kraftspender«, erklärte sie. Sie legte einen großen, pechschwarzen Edelstein auf die Mitte des Brettes. Den Rand zierten Buchstaben und Zahlen. Wenn alles richtig lief, würde der Stein von Buchstabe zu Buchstabe gleiten, bis sich ein Wort oder Satz bildete.

»Du brauchst nicht viel zu tun. Deine einzige Aufgabe ist es, die Frage zu stellen. Der Onyx«, sie deutete auf den Edelstein, »wird deine Gabe in sich aufnehmen und für den Moment verwalten. Du wirst ihm sagen, wen er aufzusuchen hat.«

»Okay«, sagte Anna fest. Sie schauspielerte gut, denn ein beklommenes Gefühl breitete sich aus und schnürte ihr Herz zusammen. Hoffentlich machte sie alles richtig.

»Du darfst den Stein unter keinen Umständen loslassen. Keiner von uns darf das. Sobald wir loslassen und der Stein den Kontakt verliert, wird deine Gabe zurück in deinen Körper fließen. Womöglich öffnet das aber ein Dimensionstor.«

»Ein Dimensionstor? Für was?«

»Dämonen«, warf Sebastian kühl ein. Er setzte sich auf seinen Stuhl. »Jenny schläft.« Er griff hinter sich zum Lichtschalter.

Die Teelichter tauchten die Küche in gespenstisches Licht und warfen flackernde Schatten auf die Gesichter.

Anna legte als Erste ihren Finger auf den Rundstein. Marla zögerte eine Sekunde. Anna nickte ihr zu. Sie tat das Richtige.

»Sebastian?«

»Tut mir leid. Ich kann das nicht«, flüsterte er. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, seine Augen glänzten. Er sprang auf und stürmte aus der Küche. Die Tür krachte laut ins Schloss.

Anna und Marla tauschten einen Blick. Wieso verhielt er sich so seltsam?

»Du musst das nicht tun, Anna. Wir finden einen anderen Weg«, beschwichtigte Marla.

Ihre Finger ruhten nach wie vor auf dem schwarzen Stein. »Für Eva. Und für Frank, oder?«, fragte Anna. Sie ließ nicht zu, dass die Zweifel sie übermannten.

»Für Eva und Frank«, antwortete Marla leise.

Anna bemühte sich, die Gedanken an Sebastian abzuschütteln, und konzentrierte sich auf das Brett. »Finde meine Tante, Eva Ringer«, sprach sie dem Onyx zu. Sie kam sich tierisch albern vor. Wer sprach schon mit Steinen?

Marlas Hand zitterte, der Stein vibrierte mit, bis er zitterte.

»Muss ich wirklich nichts tun?« Der Stein rührte sich keinen Millimeter. Der leise Verdacht beschlich sie, dass Marla es durch falsche Informationen absichtlich verhinderte.

»Denk an Eva, sonst nichts.«

Anna beobachtete den Stein. Besaß sie vielleicht nicht genug Kraft? Sie wollte etwas Ähnliches fragen, da befielen sie feinste Stiche, als ob jemand mit einer Nadel auf ihren Körper einstäche. Langsam arbeiteten sich die Pikser über ihre Beine zum Oberkörper herauf, um über den Hals in die Hände zu gleiten. Zuerst dachte sie, die Gliedmaßen schliefen ein, aber dann sah sie es. Winzige, bunte Fünkchen tanzten über ihren Körper und rieselten den Arm hinab durch den Finger in den pechschwarzen Edelstein. Sie hörte Marla keuchen, schaffte es aber nicht, den Blick abzuwenden. Magie, mit dem bloßen Auge sichtbar … So wunderschön.

Der Onyx begann, innerlich zu glühen, ein sattes Farbenmeer verwandelte den Stein in etwas Außergewöhnliches. Das Licht, das von ihm ausging, erhellte die Küche stärker als die Kerzen.

Plötzlich fühlte sie sich ungeheuer kraftlos. Mit dem Talent schwand die Energie. Sie schaffte es kaum, den Arm weiter aufrecht zu halten und legte ihn vorsichtshalber auf dem Tisch ab. Es half niemandem, wenn sie losließ.

Endlich hörten die Funken auf zu stieben, der Edelstein lag in seinem natürlichen Schwarz vor ihnen. Er fühlte sich sehr warm an. Marla nickte ihr zu und sie atmete tief durch.

»Eva Ringer?« Sie klang erschöpft.

Der Stein funkelte, verharrte aber reglos auf seinem Platz. »Du musst sie etwas fragen. Aber konzentriere dich auf das Wichtigste. Sehr lange wird der Stein dein Talent nicht beherrschen können.«

Annas Kehle fühlte sich trocken und staubig an, ein dicker Kloß in ihrem Hals ließ sie schwer schlucken. Sie war nicht halb so tough, wie sie vorgab. »Eva, ich bin’s, Anna. Was ist mit dir geschehen?«

Der Onyx glühte heiß auf, fast gab sie sich dem Impuls hin, den Finger von ihm zu ziehen. Marla sah sie streng an.

Der Stein begann, sich langsam vorwärts zu bewegen. Zunächst fuhr er orientierungslos über das Holzbrett. Es wirkte, als müsste er überlegen. Als er sich entschlossen hatte, sauste er mit enormer Geschwindigkeit auf den Buchstaben T zu. Von da an ging alles ganz schnell, sie hatte Schwierigkeiten ihm zu folgen. Er flog zum O, zum E, über das D zum L und verharrte eine Weile auf dem I. Etwas langsamer ruckelte der Onyx zum C und H, um dann zu den Buchstaben E und S zu gleiten. Kurz leuchtete der Stein auf und begab sich weiter auf die Reise. Er schoss plötzlich los zum W, von dort zum I, zockelte zurück zum S. Die letzten Buchstaben, die der Edelstein ansteuerte, schienen das E und das N zu sein. Sie mussten halb raten, er besaß ein ungeheures Tempo.

»Tödliches Wissen«, sagte Marla.

Anna versuchte noch, das Chaos in ihrem Schädel zu lichten. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. Sie musste sich schwer zusammenreißen, um die nächste Frage zu stellen. Ihre Schläfen pochten. »Was willst du uns damit sagen, Eva? Was ist das tödliche Wissen?«, hauchte Anna. Sie fühlte sich inzwischen so kraftlos, dass sie zu anderer Lautstärke nicht fähig war.

Wieder orientierte sich der Stein zuerst, bevor er erneut versuchte, eine Antwort zu liefern. Diesmal geschah es sehr, sehr langsam. Hatte sich der Onyx verausgabt? Er sah aus, als würde ihm die Puste ausgehen. Konnte ein Stein überhaupt so aussehen? Er kroch förmlich zum F und schob sich zum I. Den Buchstaben N erreichte er im Schneckentempo. Als er beim G ankam, fühlte er sich verdächtig kühl an.

»Komm schon«, hörte sich Anna sagen. Gespannt starrten sie auf das Brett.

Angespornt von ihren Worten gab der Stein noch einmal alles. Blitzschnell raste er zum E, hinüber zum R, streifte das L, um über einen Abstecher zum S zu gelangen.

Anna versuchte, das Gesehene zu einem Wort zu verarbeiten, da hörte sie einen Schrei. Zuerst glaubte sie, der Stein hätte geschrien, aber Marla sprang auf. Ihr Stuhl kippte nach hinten. Lautstark fiel er zu Boden.

Erschrocken riss Anna den Finger von dem Onyx.

»Neeeiiin!«

Marlas Kreischen ging ihr durch bis ins Mark. Zu spät. Die bunten Fünkchen wehten ihr entgegen, fanden ihren Weg zurück in den Körper. Das Licht flackerte und erlosch, als der Onyx seine natürliche Schwärze annahm. Die Kerzenflammen schossen in die Höhe, bevor sie spärlich zusammenschrumpften und das Zimmer in eine Grauzone verwandelten.

Plötzlich bildete sich schwarzer Rauch im Zimmer. Fäden und Schwaden zogen sich bedrohlich durch die Küche, Annas Alarmglocken läuteten auf Hochtouren. Die Gefahr erkannte sogar ein Blinder, jedes einzelne Haar an ihrem Körper richtete sich auf. Der Rauch ummantelte sie und betäubte den Verstand. Sie versuchte krampfhaft, ihn nicht einzuatmen.

»Ein Dämon«, flüsterte Marla.

Die schwarze Wolke bildete eine Wand und verdichtete sich. Annas Herz raste. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie das dunkle Gebilde. Nach und nach formte der Rauch eine Gestalt, etwas Rotes stach aus dem Dunkel hervor.

Anna schüttelte die Panik ab. Wenn sie überleben wollten, mussten sie fliehen! Sie wollte nach Marla greifen, um sie mit aus der Küche zu ziehen, aber Marla packte sie und zog sie hinter sich.

»Bleib hinter mir!«

Das Wesen besaß nichts Menschliches. Die Augen glühten rot und die Umrisse verzogen sich unscharf. Es anzusehen trieb Tränen in die Augen, es gehörte nicht in diese Welt. Die Bewegungen des Dämons wirkten verzerrt. Marla holte ein Leinensäckchen aus ihrer Tasche.

»Was ist das?«, fragte Anna, darauf bedacht, hinter ihr zu bleiben. Sie wusste nicht, ob sie das Monster oder das Beutelchen meinte.

Marla sprach eine Formel. Es klang nach Latein oder Italienisch, sie verstand kein Wort. Sie warf dem Dämon ein grünliches Pulver entgegen. »Dare me fortitudo!« Sie wiederholte die Worte immer wieder. Das Rauchwesen stand mittlerweile komplett von Staub umhüllt vor ihnen.

»Ich schaffe es nicht. Er ist zu stark!« Marlas Stimme bebte vor Angst.

Das Untier schlug mit Nebelarmen nach ihnen. Fast berührte er Marla. Anna las Endgültigkeit in seinem Blick. Sie würden sterben.

Marla gab auf. Sie verstummte, das leere Säckchen fiel zu Boden. Wieso hatte sie sich nicht auf ihren Instinkt verlassen und die Flucht ergriffen?

Mit einem lauten Knall flog die Tür aus den Angeln. »Raus! Raus mit euch!«

Der Dämon wirbelte herum, als Sebastian die Küche stürmte. Die abscheulichen Augen fixierten nun ihn. Völlig unbeeindruckt packte er Anna am Handgelenk und zog sie zur Tür. Marla blieb wie angewurzelt stehen, Anna riss sie mit.

»Holt Jenny und verschwindet! Ich regle das hier!«

»Aber …« Sie wollte ihn nicht allein zurücklassen, doch Marla ließ ihr keine Wahl und zog sie mit unerwarteter Kraft in den Flur.

*

Sebastian trat dem Dämon gegenüber.

»Wie kannst du es wagen, Magier?« Das Wesen krächzte unnatürlich.

Sebastian hielt dem Blick stand. »Ich werde dich töten.«

Das Monster lachte auf. »Du magst aussehen wie ein Mensch, aber du bist es nicht. Ihr gehört auf unsere Seite, auch wenn ihr euch in der Welt der Menschen tummelt. Wieso solltest du mich töten?«

»Weil ihr niemand zu nahe kommen wird, solange ich lebe.«

»Eine Menschenfrau? Sie kann nicht wissen, wer du bist, sonst hätte sie dich nicht beschützen wollen. Das geht niemals gut aus, Magier. Verschone mich und wechsle auf die dir bestimmte Seite.«

Sebastian kanalisierte seine Kräfte. Ein Stich durchfuhr dennoch sein Herz, denn er wusste, die Kreatur hatte recht. Magie rauschte durch seine Adern und er explodierte innerlich. Er genoss es, seine Stärke auszuleben.

Die Kraft des Fluches traf den Dämon ohne Vorwarnung. Er blieb chancenlos, wehrte sich nicht. Die Rauchschwaden stoben auseinander und zogen durch das Zimmer, lösten sich auf. Ein Kinderspiel.

Berauscht von der Macht, die einen Magier durchfuhr, wenn er ein Leben nahm, versuchte Sebastian krampfhaft, die Kontrolle zurückzuerlangen. Vergebens. Die Magie tobte durch den Körper, ließ sein Herz kraftvoll schneller schlagen. Seine Natur drängte sich in den Vordergrund, schob die Menschlichkeit zur Seite. Er verlor den Zweikampf, den er mit sich ausgefochten hatte, und eilte auf leichten Füßen aus dem Zimmer. Das Hochgefühl ließ ihn auf Wolken schweben.

Er sah die Frauen auf der Straße stehen, doch seine Beine trugen ihn weiter.

Anna rief panisch seinen Namen, doch es gab nichts, was ihn aufhalten konnte. Erfüllt von dem, was einen Magier ausmachte, rannte Sebastian davon, das Ziel ganz klar vor Augen. Denn er wollte nur noch eins, dem Drang nachgeben, zu töten.