26. Kapitel

Lehrreiche Stunden

Anna tat kaum ein Auge zu und träumte wirres Zeug.

Von Aldwyn, der plötzlich Sebastian war, und sie sollte ihm mit einem Schwert den Kopf abschlagen.

Mit dem Bild vor Augen und heftig klopfendem Herzen erwachte sie und schlüpfte in frische Sachen.

Die Kleidung, die für sie auf dem Bett gelegen hatte, entsprach so gar nicht ihrem Style. Aber wer scherte sich schon darum, wie er aussah, wenn einem der Tod ins Gesicht lachte? Von ihr aus hätte auch ein Haufen Dreck ein paar Löcher zusammenhalten können, sie hätte es als T-Shirt akzeptiert.

Der Konferenzsaal schien der größte Raum des Hauses zu sein. Ein paar lieblos zusammengewürfelte Stühle standen vor klapprigen Tischen, mit Blick auf ein uraltes Rednerpult. Anna betrat als Letzte den Raum. Sie beschlich immer noch das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Immerhin saß Paps, erwacht aus seinem Dornröschenschlaf, an einem der Tische. Steif blickte er nach vorn. Weshalb sah er sie nicht an, kam nicht auf sie zugestürmt? Beeinflusste ihn immer noch etwas?

Robert Pearson stand hinter dem Rednerpult und sortierte Unterlagen. Er blickte auf und schenkte ihr ein Lächeln.

»Da wir jetzt vollzählig sind, können wir anfangen. Ja, es freut mich, dass Sie den Mut zu dieser Entscheidung hatten«, sprach er in breitem Akzent. »Ab heute sind Sie alle etwas Besonderes und dazu auserkoren, die Welt zu retten.«

Ihr Vater und Kevin tauschten stolze Blicke. Der Rest sah unglücklich aus. Das wirkte wie ein Sektentreffen.

»Zum ersten Mal, seit wir Jägerteams ausbilden, haben wir uns entschlossen, auch Frauen auszuerwählen. Vor der Emanzipation bleiben eben auch wir nicht verschont.« Roberts Lachen klang künstlich.

Fand er das etwa witzig? Anna hob die Hand.

»Bitte, Anna?«

»Über die Frauen lässt sich ja noch diskutieren. Aber ist es nicht unethisch von Ihnen, auch Kinder in das Selbstmordkommando aufzunehmen? Menschliche Kinder?«

Sein Lächeln erstarb, er wusste, dass sie von Jenny sprach.

»Sie ist eine Jägerin. Die Fingerless haben ihren Vater getötet. Das macht sie sogar zu einer ganz außergewöhnlichen Kämpferin.«

»Und was sagt ihre Mutter dazu? Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie das nur im Entferntesten zugelassen hätte.«

Marla hob den Kopf und wandte sich ihr zu. Ihr Anblick lieferte die Antwort. Sie stand nach wie vor unter Sebastians Fluch. Die Tatsache kam den alten Säcken wahrscheinlich gerade recht.

»Sie nutzen ihren Zustand aus? Was sie wirklich will, ist Ihnen egal?«, fragte sie und nagelte Robert mit einem Blick fest.

Repräsentierte der Beirat nicht das Gute auf dieser Welt? Das Gesetz? Anna verstand immer weniger. Warum schwiegen die anderen? Hatte man ihnen die Stimmbänder geraubt? So verrückt konnte nicht mal Sally sein, dass ihr nicht auffiel, dass die Engländer falsch handelten.

»Jetzt lassen Sie mich doch erst einmal alles in Ruhe erklären«, beschwichtigte Robert. »Beginnen wir von vorn. Seit dem tragischen Tod von Eva Ringer, Gott möge ihre Seele beschützen, wissen wir vom RFMB, das die Fingerless zurück sind. Wir konnten uns jedoch nicht einfach unvorbereitet in einen Kampf stürzen, so leid uns die Geschehnisse tun. Wir mussten erst ein Team auswählen, von dem wir glauben, dass es eine Chance hat.«

Anna ballte die Hand zu einer Faust. Flammender Zorn breitete sich aus. Sally behielt recht mit der Meinung, der Beirat bestünde aus einem Haufen alter Männer mit noch älteren Ansichten.

»Wir haben natürlich sofort gehandelt und unsere Späher ausgesandt. Wir hatten eine ungefähre Vorstellung, wen es treffen könnte. Die gute Sally hat uns schon vor langer Zeit darauf aufmerksam gemacht. Ihre Großmutter sprach nämlich eine Prophezeiung.« Er schenkte Sally einen warmherzigen Blick.

Sally sah ihm nicht in die Augen, sie schnaufte leise. Seltsam, noch vor Kurzem hatte sie doch gewünscht, die Gunst der Engländer zu erhaschen.

»Und für die, die es noch nicht wissen«, warf Anna lautstark ein, die Anwesenden wandten sich ihr zu, »der Beirat hält die Hälfte der Macht unserer Begabungen sicher unter Verschluss. Oder, Robert? Erzählen Sie uns von den Pergamenten.«

Robert Pearson lachte auf. »In der Tat, solche Gerüchte sind auch mir zu Ohren gekommen. Ich bin mir sicher, sie geben den Menschen die Hoffnung, stärker als die Magier zu sein. Leider sind und bleiben es, wie ich schon sagte, Gerüchte.« Das Gesicht des Engländers verzog sich zu einer Miene, die ganz unmissverständlich sagte, Anna sollte besser die Klappe halten.
Sie wühlte es nur noch weiter auf.

»Des Arztes Tochter, jung und rein, wird siegen über Angst und Schein. Anna mit dem blonden Haar, beschwört die Geister, macht sich rar. Die Kraft der Gabe, so steht es geschrieben, wird in der Nekromantie liegen«, rief sie durch den kleinen Saal.

»Gewiss, Miss Graf. So lautet die Prophezeiung. Sie spricht davon, dass Sie dazu berufen sind, die Fingerless aufzuhalten.«

»Erklären Sie das Wort Nekromantie, Robert.«

»Es bedeutet Totenbeschwörung und ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Sie gemeint sind.« Der Engländer lächelte herablassend.

»Nekromantie ist die Fähigkeit, einen Toten auferstehen zu lassen. Und diese Macht habe ich nicht. Nicht ohne das Wissen aus den verschollenen Pergamenten.«

»Jetzt hören Sie auf mit diesem Quatsch, Anna. Wir haben nicht so viel Zeit«, ließ Robert barsch verlauten. »Sally war weniger kompliziert, den Unterschied zwischen Realität und Märchen zu erkennen.«

Sally konzentrierte sich schwer darauf, sie nicht anzusehen. Sie war besessen von ihren Ansichten gewesen. Wer hatte ihr eine Gehirnwäsche verpasst? Es stank zum Himmel.

»Können wir jetzt fortfahren?«

Anna beschloss, vorläufig den Mund zu halten.

»Wir haben uns für die Mutigsten entschieden. Für Menschen und Begabte, die Anna in jedem Fall den Rücken stärken würden. Deshalb seid ihr hier. Es gilt, Wissen zu erlangen. Wissen, mit wem man sich anlegt, und wie man sie besiegen kann.« Robert nahm seine Brille ab und trat vom Rednerpult weg. Er kam an die Tische heran und ging durch die Reihen, während er weitersprach. »Gott sandte einen Boten auf die Erde, einen Engel. Er wählte Menschen aus und stattete sie mit unseren Talenten aus. Sie sollten die Welt retten. Dummerweise trieben die Nachkommen der Talentierten ein wirkliches Übel mit ihren Kräften. Von seither kann man die Gabe nur noch mittels eines Testamentes weitergeben. Der Engel blieb noch lange Zeit als Aufpasser auf der Erde. Wir, der RFMB, sind direkte Nachkommen des Erzengels. Doch unsere Seite spaltete sich in zwei Glieder. Es gibt uns, die Wächter und sie, die Abtrünnigen. Und deshalb müsst ihr verstehen, was es heißt, gegen sie anzutreten. Durch einen Magier fließt Engelsblut.«

Anna sog scharf die Luft ein. Magier waren Halbengel? Das machte die Lage wohl nicht gerade besser. Aber es bedeutete auch, dass sie mit dem Beirat auf Augenhöhe standen. Wieso schickten sie Menschen in den Kampf? Wie sollten sie das gewinnen können? Es gehörte zu ihren Aufgaben …

»Damit Sie die Familie, mit der wir es gerade zu tun haben, ein bisschen besser kennenlernen, wird mein Kollege Aldwyn«, der zweite Greis erhob sich, »Ihnen ein paar Informationen geben.« Robert nickte dem Alten zu und ließ sich neben ihrem Vater auf einen Stuhl sinken. Er warf ihr einen strengen Blick zu.

Aldwyn räusperte sich. »Die Familie Fingerless besteht aus vier Mitgliedern. Fast hätte sich ein weiterer Teil in die Familie eingeheiratet, aber unsere tapfere Anna«, er schenkte ihr ein Lächeln und zeigte seine gelben Zähne, »war bereits so frei, die Welt von ihr zu erlösen. Somit bleiben nur noch vier Magier, die es zu vernichten gilt.«

Annas Herz zog sich zusammen – aus zweierlei Gründen. Zum einen wurde ihr bewusst, dass sie getötet hatte. Auch wenn es ihr notwendig und gerecht erschien, hatte sie gemordet. Des Weiteren sprach er von vier Magiern. Sebastian also inbegriffen. Es interessierte den RFBM nicht, dass er anders war als der Rest seiner Familie. Sie wollte etwas sagen, schimpfen oder schreien, aber ihr verschlug es die Sprache. Mühsam blinzelte sie ein paar Tränen weg und biss sich auf die Unterlippe. Das musste warten. Es brachte Nachteile mit sich, Schwäche zu zeigen. Sie musste später mit den anderen sprechen. Ihre Wut offensichtlich zu machen, erschien unklug.

Aldwyn schaltete einen Projektor ein und das Bild eines Mannes prangte auf der großen Wand. Er schien um die Vierzig zu sein, vielleicht ein klein wenig älter. Er hatte dunkles Haar und seine Gesichtszüge wirkten kalt. Seine Augenfarbe jedoch kannte Anna nur zu gut. Es waren Sebastians Augen, wenn sie auch ungleich gefährlicher blickten.

»Das ist Jonathan Fingerless«, hörte sie den Alten erzählen. »Jonathan ist das Oberhaupt der Familie und absolut unberechenbar. Vermutungen lassen darauf schließen, dass er 1809 hier in England geboren wurde. Es gibt seltsamerweise keine Aufzeichnungen darüber. Sie müssen wissen, meine Damen und Herren, ein Magier altert sehr langsam. Aber auch uns Halbengeln ist das Leben begrenzt. Er müsste, vergleichbar mit einem Menschen, etwa im körperlichen Zustand eines Vierzigjährigen sein. Jonathan ist unfassbar schnell und er beherrscht die tödlichsten Flüche. Wenn er die Chance hat, zu handeln, wird sein Gegenüber nicht überleben. Falls Sie also auf ihn stoßen, gilt es, keine Zeit zu verlieren. Versuchen Sie, nicht allein zu sein, wenn Sie ihn antreffen.« Aldwyn blickte in die Runde und auf dem Diaprojektor erschienen ein Haufen Bilder, die augenblicklich Übelkeit aufsteigen ließen.

Sie zeigten Leichen, viel Blut und grausame Tatorte. Schnell wandte Anna den Blick ab.

»Jonathan hat in seiner Laufbahn 817 Menschen getötet. Zumindest ist das die Zahl, die wir kennen. Wie Sie sehen, haben die Fingerless ihren Namen zum Markenzeichen gemacht. Sie trennen ihren Opfern einen Finger ab und lassen uns damit wissen, dass der Mord ihre Handschrift trägt.« Aldwyn genehmigte sich einen Schluck Wasser, ehe der Diaprojektor abermals umsprang. »Hier sehen Sie Thea Fingerless.«

Die Schönheit der Frau raubte ihr den Atem. Kein Wunder, dass Sebastian so gut aussah. Sie wirkte jung, optisch schätzte Anna sie in die Dreißiger.

»Thea Fingerless, geborene Grey, erblickte im Jahre 1815 ebenfalls hier in London das Licht der Welt. Sie ist nicht weniger gefährlich als Jonathan, allerdings scheint sie vor Angriffen nervös zu werden. Bevor sie einen Fluch spricht, räuspert sie sich. Natürlich verrät sie sich damit. Das ändert allerdings nichts an ihrer Kraft und Schnelligkeit. Versuchen Sie sich, wenn Sie auf Thea treffen, möglichst links von ihr zu halten. Das ist ihre schwächere Seite, sie zielt dann schlecht. Thea hat 236 Menschenleben auf dem Gewissen.« Wieder folgte eine Reihe mit Bildern von Opfern. »Nun kommen wir zu dem älteren der beiden Söhne. Joshua Fingerless ist 1899 geboren. Er tritt eifrig in die Fußstapfen seines Vaters, denn er ist ein stark talentierter Magier. Er beherrscht die dunkelsten Künste.«

Das Bild zeigte einen jungen Mann, ebenfalls mit eisblauen Augen. Er besaß einen dunklen Lockenkopf und sah absolut ungefährlich aus. Der Vergleich mit Frodo lag nahe.

»Lassen Sie sich von seinem Äußeren nicht täuschen. Er mag aussehen wie der perfekte Schwiegersohn, aber er hat bereits 281 Menschen getötet und liegt damit sogar vor dem Rekord seiner Mutter.«

Anna blickte rechtzeitig zur Seite. Sie war es leid, die Leichenbilder anzustarren.

»Und somit kommen wir zum Letzten.«

Blut rauschte in ihren Kopf, sie wusste, wer folgte. Aldwyn stellte Sebastian vor und sagte ihnen, wie sie ihn töten konnten. Anna vergrub ihr Gesicht in den Händen, ihr Adrenalinspiegel stieg. Aldwyn hatte gesehen, dass er sie verteidigt hatte, aber es machte keinen Unterschied. Anna hatte ihr Leben umsonst riskiert, denn er war trotz allem verloren.

»Nein!«, rief sie laut und sah wieder auf. Sebastian lächelte von der Wand auf sie herab. Er trug sein charmantes Lächeln.

»Miss Graf, wir wissen, dass Sie eine Schwäche für den jungen Magier besitzen, aber …«, begann Robert Pearson.

»Nein«, wiederholte sie. Sie klang fest entschlossen und erhob sich vom Stuhl.

»Er hat Sie verwirrt, Miss Graf. Aber alles, was er getan hat, tat er, um an Ihre Gabe zu kommen.«

»Mögen Sie sich einreden, was immer Sie für richtig halten, aber …« Sie ließ den Blick durch die Runde schweifen. Die Gesichter der anderen wirkten verstört, nahezu ängstlich. Virginia schüttelte energisch den Kopf. »Aber Sie werden mich nicht zwingen können, das zu tun. Sie sind auf mich angewiesen, und wenn ich sage, dass Sebastian ein Tabu ist, dann ist er ein Tabu. Wir spielen nach meinen Regeln, oder wir spielen gar nicht.«

Robert Pearson lächelte kalt, sein Blick ging durch bis ins Mark. »Anna, glauben Sie, wir waren darauf nicht vorbereitet?«, fragte er mit gleichgültiger Stimme.

Sie funkelte ihn an.

»Aldwyn, es ist an der Zeit, Miss Graf aufzuklären, warum es besser ist, nach unseren Regeln zu spielen. Wären Sie so freundlich?«

Aldwyn hantierte am Projektor und was sie sah, jagte ihr einen eiskalten Schauder über den Rücken. Ihr schlimmster Albtraum bewahrheitete sich. Ein Albtraum, aus dem sie sich nicht befreien konnte. Die Last des Momentes, in dem sie auf das Bild starrte, wog so schwer, dass sie beinahe unter ihr zerbrach.

Ihr Leben war vorbei, aus und vorbei.

Denn wenn sie nicht zwischen zwei Menschen, die sie beide von Herzen liebte, entscheiden wollte, blieb als einziger Ausweg ihr eigener Tod.