25. Kapitel
Jäger im Jagdschloss
Das große Naturschutzgebiet Sydenham Hill Wood erstreckte sich mit vielen Hektar Land oberhalb Londons. Früher einmal hatte der Wald zusammen mit dem Dulwich Wood den größten Teil des Great North Wood gebildet, allerdings trennte der Bau der Eisenbahnstrecke die Wälder seit langer Zeit.
Anna hatte nie sonderlich gut aufgepasst, wenn es in der Schule um die Geschichte von England ging, und konnte sich nur schwach an das erinnern, was Aldwyn ihr gerade wie ein Fremdenführer vorbrabbelte. Eigentlich bespuckte er mehr seinen Bart, als dass er sprach.
Eines der Gebäude, die dem Rechtsbeirat für besondere Menschen gehörten, lag im Stadtteil Southwark und befand sich gleich vor dem alten Waldgebiet. Angestrengt blickte sie durch die Scheibe des Wagens nach draußen. Es schien sich nicht um ein Vorurteil zu handeln, dass es in England immer regnete. Die Luft war kühl, Anna fröstelte in der Sommerkleidung. Dank der Dunkelheit, die sich inzwischen über das Firmament zog und die Regenwolken verdeckte, erkannte sie kaum etwas.
Am Flughafen hatte Robert Pearson sie in verschiedene Wagen gesetzt, die meisten zu zweit oder dritt zusammen. Anna hatte das Vergnügen, dass ihr Aldwyn Gesellschaft leistete. Sie konnte sich kaum etwas Langweiligeres vorstellen. Natürlich verhinderten die Engländer so, dass sie den anderen Fragen stellte. »Was zum Teufel tun wir alle hier?«, unterbrach sie Aldwyns geschichtliches Geschwätz.
»Miss Graf, ich bin nicht befugt, Ihnen das zu verraten. Mr. Pearson hat den ausdrücklichen Wunsch geäußert, es Ihnen selbst zu sagen«, antwortete der Greis. Und Greis traf es vermutlich wie den Nagel auf den Kopf. Wenn er ihre Rettung darstellte, dann Halleluja!
Die restlichen Minuten fuhren sie schweigend weiter, die anderen Fahrzeuge bildeten hinter ihnen eine Kolonne. Inmitten von Nichts kam der Wagen endlich zum Stehen. Der Fahrer eilte um die schwarze Limousine herum, um ihnen die Türen zu öffnen. Das Haus des RFMB besaß riesige Ausmaße. Anna fragte sich, wie es hier mitten im Wald einfach stehen durfte, und ob es nicht verboten war, ein Naturschutzgebiet zu bebauen? Aber es sah alt aus und hatte Ähnlichkeit mit einem Jagdschloss.
Nein, es ist ein Jagdschloss, verbesserte sie sich. Als hätte Aldwyn ihre Gedanken gelesen, erklärte er: »Es ist magisch geschützt und normale Menschen können das Haus nicht sehen. Es sei denn natürlich, wir gestatten es ihnen.«
Anna schritt neben ihm auf den Eingang zu.
»Fast 400 Quadratmeter Wohnfläche, ohne den Konferenzraum«, hörte sie ihn weiterplappern, während er sich mühsam auf seinen Stock gestützt vorwärts bewegte.
Himmel, wo hatte man den nur ausgegraben?
Im Inneren glich das Schlösschen einer Burg. Die grauen Steine, die auch die Außenfassade zierten, schmückten die Wände. Der Vergleich mit einem Gefängnis oder Kerkerverlies schoss ihr in den Kopf. Im hinteren Teil des Raumes, den sie sofort betraten, weil es keinen Flur gab, prasselte ein Feuer.
»Ihr Zimmer befindet sich oben links«, bemerkte der Alte. »Frische Kleidung haben wir Ihnen aufs Bett gelegt. Wir waren so frei, Ihnen eine Auswahl zukommen zu lassen.«
Der Rest trat ein. Ihr Vater schwebte schlafend neben dem Vorsitzenden her. Sie schüttelte den Kopf bei seinem Anblick und fing Kevins Blick auf.
»Wir müssen reden«, zischte sie ihm zu. Wenn einer bereit war, ihr zu erklären, was hier vor sich ging, dann eindeutig ihr Freund aus dem Norden.
Robert Pearson schloss die mächtige Eingangstür. »Falls einer von Ihnen Hunger verspürt, in der Küche gibt es genug zu essen. Ansonsten bin ich dafür, dass wir alle erst einmal schlafen gehen, der Tag war ausgesprochen lang. Morgen um acht treffen wir uns im Konferenzraum.« Er deutete auf eine Tür zu seiner Linken. »Dann besprechen wir alles, was besprochen werden sollte. Jeder von Ihnen hat ein eigenes Zimmer, alle in der ersten Etage vorzufinden. Allerdings gibt es nur zwei Bäder dort oben. Ich wünsche eine erholsame Nacht.« Er neigte den Kopf.
Auch Robert schien betagt zu sein, aber immerhin jünger als Aldwyn. Satte Grausträhnen durchzogen sein Haar, das Gesicht besaß aber noch mehr Falten. Wie er das geschafft hatte, blieb ein Rätsel.
Sie wandte den Blick ab und betrat die aus kalt wirkenden Steinen errichtete Treppe. An den Zimmertüren hafteten Namen und Fotos. Wo hatten sie die Bilder her? Ihr Zimmer lag glücklicherweise gleich neben Kevins, aber sie zog ihn sofort mit in ihres.
»Was geht hier vor?«, fragte sie, als die Tür ins Schloss fiel.
»Lass uns setzen.« Er deutete auf das Bett.
Er ließ sie nicht im Regen stehen, sie konnte sich immer auf ihn verlassen. Das spärlich ausgestattete Zimmer besaß nur ein Fenster, beinahe an der Decke. Das schwach gelbe Licht stammte von einer winzigen Lampe. Sie setzten sich auf das Bett mit dem dunklen Holzrahmen. Es ächzte unter der Last.
»Schieß los.«
»Wir sollen es dir eigentlich nicht sagen. Sie sind sich sicher, du regst dich auf. Sie nennen dich ein impulsives Weibsbild.«
»Was?« Anna unterdrückte ein Lachen. Der Unterton in seiner Stimme gefiel ihr trotzdem nicht.
»Wir wurden alle auserwählt, denn sie wissen schon lange, dass diese Magierfamilie zurück ist. Sie schickten Späher.«
»Was?«
»Menschen, die ein Auge auf uns werfen sollten, um zu sehen, ob wir uns eignen.«
»Wofür denn eignen, Kevin? Sprich in ganzen Sätzen.«
»Wir sind die neuen Jäger, Anna. Sie nennen uns Hunter. Wir sollen gemeinsam die Fingerless erledigen.«
»Was?« Die Engländer verdonnerten normale Menschen, auf die Fingerless Jagd zu machen? Die meisten besaßen kein Talent. Und sie stellte sich auch etwas Schöneres vor.
»Sie werden uns Talente geben«, antwortete Kevin, der wohl an ihrem Gesichtsausdruck erriet, über was sie gerade nachdachte.
»Aber wie kommen sie ausgerechnet auf euch? Wieso bist du hier?«
»Ich habe recherchiert, Anna. Gleich, nachdem diese Marla bei uns am Wasser auftauchte, und du mich weggeschickt hast. Am Tag von Evas Beerdigung. Ich konnte nicht glauben, über was ihr zwei euch da unterhalten habt. Magische Talente, Leute, die mit Toten reden. Das klang für mich ehrlich nach einem Märchen.«
»Und dann?«
»Ich habe herausgefunden, dass die Geschichten stimmen. Aber was ich sonst noch alles erfahren hab, hat mir überhaupt nicht gefallen. Es gibt Geschichten über Magier, Dämonen und sonst was für Monster. Zur Hölle … Es klang einfach gefährlich und ich wollte eigentlich nur noch eines; dich beschützen. Dann kamen die Männer. Sie sagten, ich hätte Mut und sie haben mich gefragt, ob ich dabei sein möchte, um dir zu helfen. Also, klar. Da bin ich, natürlich helfe ich dir.«
»Kevin, du bist so dumm. Wieso bist du nicht zu Hause geblieben? Das hier ist kein Spiel!« Eine Welle aus Zorn rauschte durch ihren Körper. Der Beirat klingelte einfach bei normalen Menschen und verkaufte ihnen mit falschem Engländercharme, sie hätten Mut und seien Jäger?
»Anna, ich würde dich immer beschützen«, sagte er leise.
»Haben sie sonst noch was gesagt?«, fragte sie, um schnell das Thema zu wechseln. Das seltsame Glänzen in seinen Augen entging ihr nicht.
»Sie sagten, du wirst uns anführen, weil eine Prophezeiung es so bestimmt.«
»Sie ist also wahr …« Sally hatte recht? Sie sollte die Fingerless aufhalten? Ihre eigene Familie und ihre Freunde in eine Schlacht führen, in der die meisten ihr Leben ließen? Sallys Geschichte vom letzten Team drängte sich in ihr Gedächtnis. Aber der Beirat konnte sie mal gehörig. Dieses Spiel spielte sie nicht mit.
»Anna, du musst keine Angst haben.«
Kevin deutete ihre Miene falsch, doch plötzlich fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Sie fürchtete nicht, sich den Fingerless zu stellen. Ihr Leben war ohnehin nicht mehr wichtig. Was ihr wirklich Angst machte, war nur eine Frage. Die Frage, die vielleicht alles entscheiden würde. Verlangte der Beirat etwa von ihr, Sebastian zu töten?