36. Kapitel

Den Spieß umgedreht

Marla nahm zwischen dem Rest des neuen Jägerteams im Konferenzsaal Platz. Sie versuchte, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen, aber so ganz gelang es ihr nicht. Robert Pearson musterte sie verdächtig, zuvor hatte er einen Schwung Menschen in den Saal geführt. Die Mentoren standen vor dem Rednerpult und lächelten zu den neuen Huntern herab. Da der Beirat nicht wissen konnte, für welches Talent sich die Mitstreiter entschieden, hatte er einfach für jede Fähigkeit einen Lehrmeister besorgt.

»Mrs. Cole, Sie sehen heute wach aus«, sagte Robert und lächelte sie an. Der Unterton, der in diesem vermeintlich freundlichen Satz mitschwang, verhieß dennoch nichts Gutes.

Marla blickte zwar auf, sagte aber nichts. In drei Teufels Namen, sie durfte nicht auffallen.

»Wo ist Miss Graf?«, fragte Aldwyn laut.

Ratlose Gesichter.

»Kevin, gehen Sie bitte nachsehen, wo unsere Anführerin bleibt«, forderte Robert auf.

Kevin sprang auf und lief durch den Saal. Die Euphorie stand ihm ins Gesicht geschrieben, Feuer und Flamme, endlich loszulegen.

Was für ein naiver Trottel. Wertvolle Minuten verstrichen. Marla hoffte, dass sie bald ein Zeichen von Anna erhielt. Lange blieb es nicht mehr verborgen, dass sie nicht mehr verflucht war. Ihr Blick wanderte zu Jenny. Ihre Tochter spielte die Rolle sehr gut, vielleicht sogar besser als sie.

Kevin stürzte zurück in den Saal, sein Atem ging schnell. »Sie ist nicht da«, keuchte er. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben und sein Tatendrang war verflogen.

»Nicht da?«, fragte Aldwyn hellhörig.

Roberts selbstsichere Fassade bröckelte von seinem Gesicht.

»Nein Sir. Ich habe auch im Bad und im Speisesaal nachgesehen.«

»Weiß jemand, wo sich Miss Graf aufhält?«, fragte Robert und hielt den bohrenden Blick auf Marla gerichtet.

Er weiß, was los ist. Marla setzte ein dümmliches, zurückhaltendes Lächeln auf.

»Wir werden nicht ohne sie anfangen«, teilte der ältere der beiden Engländer mit.

»Wir gehen sie alle suchen«, delegierte Robert streng und sie kamen seiner Aufforderung unmittelbar nach.

Das neue Jägerteam wirkte nervös, denn in ihren Augen bewahrheitete sich das Schlimmste.

»Aldwyn, Sie und die Mentoren suchen im Wald, der Rest bleibt mit mir im Haus.«

Marla versuchte, sich davonzustehlen. Sie huschte hinter Jenny zum Ausgang, als Robert sie hart am Handgelenk schnappte und zurückhielt. Er funkelte sie zornig an.

»Wo ist sie?«, fragte er unverblümt.

Marla unterdrückte ein Grinsen. »Wer?«, fragte sie unschuldig.

»Glauben Sie nicht, ich wäre blind für das, was hier vor sich geht. Sie wurden von Ihrem Fluch befreit.«

»Mom?« Jenny blieb in der Tür stehen und schätzte ab, ob sie Marla helfen musste.

Marla besaß einen Plan B. Sie öffnete ihre linke Faust, die sorgsam ein Pulver umschlossen hielt, und blies es dem verdutzten Robert durch einen gezielten Atemzug ins Gesicht. Bella Donna, Tollkirsche. Die getrockneten Beeren wurden zerstanzt und exakt fünfundvierzig Minuten über der Flamme einer schwarzen Kerze geröstet. Pingelige Handarbeit. Das Tollkirschpulver besaß die Eigenschaft, einen Gegner binnen Sekunden in tiefen Schlaf zu befördern. Vorausgesetzt, eine Hexe blies es ihm aus der linken Hand ins Gesicht. Marla hielt die Luft an und beobachtete, was geschah. Konnte sie einem Engelsgleichen trotzen? Perplex blickte Robert sie an. Wieso glückte es nicht? Doch plötzlich erstarrte er in der Bewegung und sackte ohnmächtig auf dem Boden zusammen. Gott sei Dank! Diese Engelsmänner waren zäh.

»Jenny, hilf mir!«

Mit einem Satz sprang Jenny zu ihr.

»Es wird vielleicht nur Minuten dauern, bis er wieder zu sich kommt. Die Engel sind verdammt stark«, brachte Marla zähneknirschend hervor, während sie den schweren Körper anhob. Jenny schnappte sich die Beine.

»Was machen wir mit ihm?«

»Wir schaffen ihn in mein Schlafzimmer. Wir drehen den Spieß um. Haben sie ein paar Geiseln, besorgen wir uns auch eine.«

»Mom!«

»Nichts Mom! Wir müssen Anna Zeit verschaffen.«

»So meinte ich das nicht. Ich meinte, Mom? Wann bist du so cool geworden?«

»Ich bin froh, dass ich meine Hirnzellen wieder nutzen kann«, antwortete Marla und Jenny verzog ihr Gesicht zu einem typischen Grinsen.

Sie schleppten ihn die Treppe hinauf und verloren kein weiteres Wort. Sie benötigten ihre Luft, um den schweren Körper zu tragen. Robert Pearson hatte ein beachtliches Gewicht.

*

Die bewaffneten Menschen, vermutlich allesamt Talentierte, erschraken, als sie Sebastian erblickten. Sie rechneten mit einer Flucht, aber sicherlich mit keiner, die von einem Magier angeführt wurde. Unschlüssig hielten sie die Waffen weiter auf sie gerichtet, aber die Entschlossenheit in ihren Gesichtern schwand.

»Ich habe nicht vor, irgendeinem von Ihnen wehzutun. Aber ich werde auch nicht zögern, wenn es sein muss.« Sebastian klang ruhig und beherrscht.

»Verdammt, das hier sind Menschen. Menschen aus Fleisch und Blut wie ihr auch! Wie könnt ihr nur im Auftrag des Beirats handeln?«, versuchte Anna, an die Gegner zu appellieren. Bis vor wenigen Sekunden hatte sie geglaubt, überhaupt kein Wort rauszukriegen. Der erste Schreck wich aus den Gliedern.

»Ich sehe vor allen Dingen einen Magier«, gab einer der Männer zurück.

»Einen Magier, der bereit ist, dir dein verdammtes Herz herauszureißen. Du weißt, Waffen halten mich nicht auf«, antwortete Sebastian unbeeindruckt.

Eine Gänsehaut breitete sich auf Annas Körper aus. Die Berechnung in seiner Stimme beschleunigte ihren Puls.

»Wir sind notfalls bereit zu sterben.« Der offensichtliche Anführer der Gruppe hielt seinem Blick stand. Seine Augen blickten dunkel und leer.

»Sie stehen unter einem Bann«, flüsterte Sebastian so leise, dass Anna ihn kaum verstand.

»Tu ihnen nichts, es sind Menschen«, piepste sie.

»Soll ich uns lieber draufgehen lassen?«

Shit, er hatte recht. Irgendetwas mussten sie unternehmen und möglichst, bevor sich noch mehr bewaffnete Talente und Halbengel versammelten.

»Dann töte sie wenigstens nicht«, flehte sie ihn an.

Sebastian murmelte den Fluch so leise, dass sie es fast nicht bemerkt hätte.

Ihr Herz trommelte unruhig. Was würde er tun?

Die Männer schienen lediglich mit der Aufgabe beauftragt zu sein, sie an der Flucht zu hindern. Niemand kam in Versuchung, anzugreifen. Bestimmt begaben sich schon ein paar Beiratsmitglieder ins Kellergewölbe. Mittlerweile besaß sie genug Übung, zu sehen, wann ein Magierfluch Wirkung zeigte. Der fast unsichtbare Schleier glitt über die bewaffneten Männer hinweg. Sie packten sich ins Gesicht, rissen die Augen auf, fuhren mit den Händen darüber, als sie die Nebelschwade einholte.

»Was soll das?«, rief einer von ihnen ängstlich, die restlichen Worte gingen in der Panik unter, die unter den Wachen aufkeimte.

»Lauft«, brüllte Sebastian.

Er war die geborene Führungspersönlichkeit, denn niemand kam auf die Idee, erstarrt stehen zu bleiben. Sebastian stürzte die Treppe hinauf, die anderen folgten schnell. Hinter ihnen löste sich ein Schuss. Anna spähte über die Schulter zurück. Einer der Männer richtete die Waffe orientierungslos gegen die Wand. Wenn er jetzt abzog, würde die Kugel zurückprallen und ihn erledigen. Sie eilte Sebastian nach und hörte den zweiten Schuss.

»Was hast du getan?«, rief sie.

»Ich fürchte, die Welt hat jetzt ein paar Blinde mehr«, antwortete er, ohne das Tempo zu drosseln.

Sie erreichten die Treppe, die hoch ins Erdgeschoss führte. Sallys Mutter geriet ein paar Mal ins Stolpern, aber Mr. Cole zog sie entschlossen weiter. Die beiden Wachposten hingen immer noch von der Decke. Die roten Gesichter zeigten, dass ihnen das Blut in die Köpfe geschossen war.

Sie erreichten das Erdgeschoss. Sebastian bremste ab. Annas Herz raste, deshalb wunderte sie sich, als es noch einen Zahn zulegte. Angst und Eile stellten eine ungesunde Mischung dar.

Zwei Beiratsmitglieder versperrten ihnen den Weg, bäumten sich bedrohlich vor der Tür auf. Ihre Lippen bewegten sich unter den Worten eines Fluchs, den sie sprachen.

Bevor Anna schalten oder Sebastian reagieren konnte, spürte sie einen Luftzug hinter dem rechten Ohr. Ein Pfeil sauste an ihr vorbei und traf den älteren der Greise in die Brust. Er klappte wie ein Kartenhaus zusammen. Tot. Ihre Knie zitterten und es fiel ihr schwer, sich noch länger auf den Beinen zu halten. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn und sie kniff die Augen zusammen, um ein Schwindelgefühl loszuwerden.

Der zweite Engländer hielt inne und suchte die hinteren Reihen ab. Anna wagte nicht, sich abzuwenden, und einen Blick zu riskieren. Opa Cole kämpfte sich nach vorn durch.

»Ich erledige auch dich, du Arschloch. Besser ist, du gibst den Weg frei.«

Der Mann gehorchte und presste sich an die Holztür. Er rechnete sich keine Chancen aus. Klug von ihm.

»Geht vor. Mr. Cole, Sie übernehmen das Kommando. Ich komme sofort nach.«

Anna versuchte, einen Blick auf Sebastians Gesicht zu erhaschen. Sie wettete, dass seine Iris schwarz loderten. Sie wollte bei ihm bleiben, ihm beistehen, aber er stieß sie zur Eingangstür. Sie wusste, was er vorhatte, aber es tat ihr nicht leid. Mit jedem Toten fiel es leichter, Sebastians Vorgehensweise zu akzeptieren. Sie erschrak über ihre Gedanken und taumelte auf die Straße. Sebastian sprang Sekunden nach ihr in die Freiheit.

»Shit«, sagte er.

Passanten und Autofahrer warfen ihnen entsetzte Blicke zu. Wie konnten sie das vergessen? Eine blutbeschmierte Gruppe, mit ein paar Armbrüsten bewaffnet, fiel offensichtlich auf …

Sebastian stoppte einen Wagen. Er stellte sich einfach auf die Straße und das Auto kam zum Stehen. Die magische Druckwelle blockierte die Reifen, sie drehten kurz auf der Stelle durch. Er steckte den Kopf in die Beifahrertür und der Blick des Fahrers veränderte sich. Er stieg aus, fast überfuhr ihn ein überholendes Fahrzeug. Anna kreischte, aber es ging noch einmal gut.

»Können Sie fahren, Frau Graf?«

Ihre Mutter nickte und spurtete um das Auto herum.

»Anna, zeig deiner Mutter den Weg zum Wald. Wir treffen uns da. Nehmt das Mädchen mit. Mr. Cole und ich fahren mit Sallys Mutter.« Sebastians Befehlston spornte zur Eile an und ihre Mutter trat aufs Gas, bevor sie die Wagentür geschlossen hatte. Wann hatte sich ihre zögerliche Mutter so verändert?

Anna sah in den Rückspiegel. Sebastian hielt ein zweites Auto an und bezirzte den Fahrer. »Halt dich links und an der zweiten Ampel rechts«, versuchte sie, korrekte Angaben zu machen. Angst wand sich in der Magengrube, ihr Hirn arbeitete nur langsam. Hatte sie es sich richtig gemerkt? Nach wenigen Minuten erkannte sie das Restaurant.

»Park in fünfhundert Metern«, sagte sie und stieß erleichtert die Luft aus. Sie klang grauenhaft. Heiser, piepsig, kraftlos. Die trockene Kehle brannte und sehnte sich nach Wasser.
Ihre Mutter bremste hart ab. Sie sprangen zeitgleich aus dem Wagen, Anna zog Vanessas kleine Schwester hinterher. Das Mädchen hatte bislang kein Wort gesprochen.

Sie rannten über die Straße und in den Wald. Hinter ein paar Tannen blieben sie stehen und japsten nach Luft.

Ein Auto bremste scharf auf der Straße ab. Hoffentlich Sebastian mit dem Rest. Schritte spurteten über den Waldboden.

»Tempo!«

Sebastian! Schon tauchten sie vor ihnen auf. Ihr fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Kraftlos glitt die Armbrust zu Boden, die tauben Arme gaben nach. Ihre weichen Knie drohten, das Gewicht nicht länger zu tragen, und sie warf sich mit letzter Kraft Sebastian an den Hals. Er packte sie.

»Wir haben’s geschafft«, flüsterte Anna.

Sebastian stellte sie auf die Füße. Er wirkte distanziert. Sein Gesicht glich einer Eisskulptur. Glatt, ausdruckslos, kühl.

»Was ist?«

»Wir müssen noch die anderen holen. Ich schlage vor, wir arbeiten uns noch ein Stück tiefer in den Wald vor, ihr gönnt euch eine Pause, während ich zurück zum Jagdschloss gehe.«

»Ich lass dich nicht allein«, schoss aus ihr hinaus.

»Du stehst kurz vor einem Zusammenbruch und außerdem bin ich allein schneller. Ich hab nicht die Kraft, dich wieder zu tragen.«

Eine dicke Lüge. Sebastian sah nicht halb so erschöpft aus wie jeder andere von ihnen. Eine eisige Hand griff nach Annas Herz. Was war los mit ihm? »Aber wenn du allein gehst …«

»Ich diskutiere nicht mit dir. Frau Graf, sind Sie meiner Meinung?«

Er spielte die Mutterkarte aus.

»Ich weiß zwar nicht, worum es geht, ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was passiert ist, aber ich muss mich anschließen. Anna, du siehst fertig aus.«

Keine Frage, sie fühlte sich fertiger als fertig. Aber es kostete mehr Anstrengung, im Wald um seine Rückkehr zu bangen als ihn zu begleiten.

»Wir sollten erst mal ein Stück gehen«, sagte Sebastian tonlos.

Anna nahm die Armbrust wieder auf und folgte dem Rest zwischen den Kiefern hindurch tiefer in den Wald.

Nach fünfzehn Minuten blieb Sebastian stehen. »Das reicht.«

»Wird uns niemand suchen? Die Polizei oder so?«, fragte Anna. Die Fluchtaktion auf der belebten Hauptstraße konnte doch nicht unbemerkt geblieben sein.

»Nein, keine Sorge. Die Zeugen sagen schon das Richtige, ich hab dafür gesorgt.«

Sie nickte, obwohl ihre grauen Zellen nur langsam die Information verarbeiteten.

»Ich geh jetzt. Klär die anderen in Ruhe auf. Haltet eure Waffen bitte allzeit bereit. Falls ich nicht wiederkomme …«

Anna nahm seine Hand, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. »Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber du kommst gefälligst wieder. Verstanden? Ich liebe dich.«

Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Gesichtszüge und seine sanfte Miene arbeitete sich für den Bruchteil einer Sekunde an die Oberfläche. »Ich liebe dich auch«, flüsterte er. Er drückte ihre Hand und küsste die Stirn, ehe er in einem Mordstempo zwischen den Bäumen verschwand.