3. Kapitel

Tödliches Wissen

Eva versuchte, sich zu konzentrieren. In der Regel hatte sie keine Probleme, in die Welt des Jenseits zu tauchen. Sie beherrschte ihre Gabe perfekt, sie war ein starkes Medium. Allerdings schaffte sie es diesmal nicht, die innere Unruhe zu unterdrücken. Der vierte Begabte, der diesen Monat einfach so verschwand … Ihr Bauchgefühl sagte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, und auf ihr Bauchgefühl konnte sie sich bisher immer verlassen.

Eva schloss die Augen, das Flackern der Kerzen nahm sie nur am Rande wahr. Die Stimme ihrer Gabe sang normalerweise laut und deutlich, es fiel ihr nicht schwer, ihr zu folgen. Heute musste sie tiefer in sich gehen, um die Melodie zu hören. »Frank, bist du hier? Ich muss mit dir sprechen.« Ihr geistiges Auge betrat mit den ersten Worten die Schattenwelt.

In dem wohlig warmen Dunkel erkannte sie nur die nahe Umgebung, bevor sich die Ewigkeit in der Schwärze verlor. Trotzdem kam Eva gern hierher, die Schatten hatten etwas Beruhigendes an sich. Sie flüchtete aus der Welt. Einige Seelen durchquerten ihr Blickfeld, es handelte sich um die Schatten derer, die sich noch im Übergang befanden.

»Frank? Bitte komm zu mir, folge dem Licht!«

Eva traf die Toten immer in der Schattenzone. Einen Geist in ihre Welt zu rufen, konnte mitunter böse enden, denn so manche Seele versuchte, Besitz von einem Medium zu ergreifen. Auf der Seite des Jenseits wiederum konnte Eva verloren gehen.

»Frank, bitte komm her. Du brauchst dich nicht zu fürchten!«

Ein kleines Licht erschien in der Ferne – eine Seele. Bei neunundneunzig von einhundert Versuchen erreichte Eva den richtigen Geist. Noch konnte sie dem Licht keine Gestalt zuschreiben, sie stand zu weit entfernt.

»Du bist auf dem richtigen Weg, Frank. Folge meiner Stimme und dem Gesang meines Herzens.«

Das Licht näherte sich und Eva erkannte menschliche Umrisse. »Frank, folge dem Kerzenschein. Du siehst ihn schon, ich erleuchte dir den Weg zu mir.«

Schattenwesen durchquerten erneut ihr Blickfeld und Eva verlor die Lichtgestalt aus den Augen. Allerdings kühlte die Umgebung deutlich ab, wie immer, wenn eine verstorbene Seele die Grenze überschritten hatte. »Du hast es fast geschafft. Tritt näher, damit ich dich sehen kann.«

Der Mann erschien aus dem Nichts und Eva erschrak im ersten Moment. So nah hatte sie ihn noch nicht vermutet. Aber sie erkannte das Gesicht des Geistes. Es gehörte dem Mann vom Foto, das ihr die Hexe gegeben hatte. In seinem Blick las sie Angst und Verwirrung. Er schien nicht zu wissen, was vor sich ging, vielleicht ahnte er noch nicht einmal, dass er tot war.

»Bist du Frank Cole?« Den Namen des Verstorbenen zu nennen half dem Geist, sich zu orientieren.

Frank nickte und wirkte unsicher. Fragend blickte er sie an.

»Mein Name ist Eva und deine Frau Marla schickt mich zu dir. Hab keine Angst.«

Bei der Erwähnung seiner Frau veränderte sich der Blick des Toten.

»Marla?« Seine Stimme klang warmherzig, aber sein Gesicht wirkte unsagbar traurig.

»Ja, Marla. Sie macht sich große Sorgen. Niemand weiß, was passiert ist.«

Einen Moment schien der Geist um Fassung zu ringen, Tränen schlichen sich in seine Augen. Er erinnerte sich, aber der Rückblick schmerzte.

Eva beobachtete das oft, niemand dachte gern an seinen Tod zurück.

»Geht es Marla gut?«

»Ja, aber sie findet keine Ruhe. Sie will wissen, was geschehen ist? Bisher hat niemand deinen Körper gefunden und bei der Polizei giltst du lediglich als vermisst. Dein Ziehsohn verspürte deine Gabe und …«

Zornig erhob Frank seine Stimme. »Sebastian ist ein Erbschleicher!« Wut umspielte seine Gesichtszüge.

Eva zuckte zusammen. Lange Zeit hatte sie den Ausdruck nicht mehr gehört. »Ein Erbschleicher? Bist du dir sicher?« Sie legte Ruhe in ihre Frage, obwohl sie lieber geschrien hätte. Aber ein aufgebrachter Geist war nicht nur nutzlos, sondern auch gefährlich.

»Sicherer kann man nicht sein. Sebastian ist ein Magier und er hat sich mein Vertrauen erschlichen. Er hat mich getötet!« Franks Stimme bebte, aber er versuchte, sich zurückzuhalten. Er war vertraut mit der magischen Welt und kannte die Grundsätze der Kontaktaufnahme.

»Glaubst du, dieser Sebastian ist ein Trittbrettfahrer?«

Der Verstorbene schüttelte fassungslos den Kopf. Es fiel ihm schwer, die Kontrolle zu bewahren. Die Enttäuschung sah sie ihm ebenso an wie seine Angst. »Er wird auch Marla töten. Es sind die Fingerless, sie sind zurück.«

Evas Herz begann zu rasen. Das Blut schlug heiß-kalte Wellen durch ihren Körper. Die Fingerless sollten zurückgekehrt sein? Die mächtige Magierfamilie wurde vor Jahren vom Rechtssystem weggesperrt, weil sie einen Haufen Morde begangen hatten und skrupellos nach Talenten jagten.

»Wenn es die Fingerless sind, muss ich es dem Beirat berichten.«

»Er wird Marla töten.« Frank schluchzte, er konnte sich nicht mehr lange kontrollieren.

»Ich werde tun, was ich kann, um deine Frau zu beschützen.« Sie griff nach der Hand des Geistes und versuchte, ihn zu beruhigen. Traurig sah sie ihn an, es gab nichts, was sie für ihn tun konnte. »Geh zurück, Frank. Finde deinen Frieden. Marla wird nicht wollen, dass du zu einem Rachegeist wirst. Du musst zurückgehen.«

Unschlüssig blickte der Verstorbene sie an, aber ihre Worte trugen Früchte. Frank gab ihre Hand frei und widerstand der Versuchung, Besitz von ihr zu ergreifen. In den Schatten besaß er ohnehin keine Macht, also nickte er ihr zu. »Ich wünsche dir Glück, Eva. Du wirst es gebrauchen können, wenn du dich mit den Fingerless anlegst.« Von der einen auf die andere Sekunde verblasste das Licht um Franks Gestalt und der Geist verschwand rasend schnell in Richtung der Ewigkeit.

Eva atmete tief durch. Sie musste sich einen Moment sammeln und ihre Gedanken ordnen.

Mühsam öffnete sie die Augen, um aus der Geisterwelt aufzutauchen. Ihre Lider wogen einen Zentner. Ihr ungutes Bauchgefühl hatte sich also bestätigt, etwas Schlimmes bahnte sich an. Eva musste den Beirat informieren. Sofort. Der RFBM war der Rechtsbeirat für besondere Menschen und für die Einhaltung der Gesetze der magischen Welt zuständig. Schon einmal hatten sie sich den Erbschleichern gestellt und die Familie Fingerless dingfest gemacht. Wie konnten sie nach all den Jahren entkommen?

Eva griff zum Telefon und wählte mit zittrigen Fingern eine Londoner Nummer. Robert, der Vorsitzende des Beirats, war seit langer Zeit ein guter Freund. Leider neigte er zum Bagatellisieren und nahm nichts ernst, was er nicht mit eigenen Augen gesehen hatte.

»Ja?«

»Robert? Hier ist Eva.« Ihre Stimme klang brüchig. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.

»Eva Ringer. Wie schön, mal wieder von dir zu hören. Wie geht es dir?« Der englische Akzent des Mannes trat deutlich hervor.

»Um ehrlich zu sein, nicht so gut. Ich glaube, wir haben ein Problem.«

»Was bedrückt dein Herz?«

»Die Fingerless sind zurückgekehrt.« Einen Augenblick glaubte Eva, keine Antwort zu erhalten, denn am anderen Ende der Leitung blieb es stumm. »Robert?«

Nichts. Robert antwortete nicht, oder vielleicht doch, aber die Leitung war plötzlich tot.

Eva seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass die Leitung mitten im Telefongespräch den Geist aufgab. So langsam, meinte sie, könnten sich die Telefongesellschaften etwas für derartige Probleme einfallen lassen. Aber warum musste sie auch in dieses Kaff ziehen? Eva beugte sich unter den Schreibtisch und überprüfte die Telefonsteckdose. Als sie sich wieder aufrichtete, gefror ihr das Blut in den Adern. Sie stand mit dem Rücken zur Tür, aber sie sah den länglichen Schatten, den die Gestalt von dort aus an die Wand warf.

»Guten Abend, Eva Ringer.«

Ein Schauder durchlief Evas Körper und sie hielt kurz die Luft an. Sie ahnte, wem die Stimme gehörte.

»Du darfst dich herumdrehen, wenn ich mit dir spreche.«

Evas Knie waren weich und drohten, nachzugeben, die Angst schnürte ihr die Kehle zu.

»Bitte, sieh mich an.« Die Worte klangen wie ein Befehl.

Panik vernebelte Evas Sinne und sie konnte sich nicht dazu durchringen, sich umzudrehen. In hockender Position suchte sie den Schutz des Schreibtisches. Gott sei Dank war Anna nicht da.

»Sieh mich an«, donnerte der Magier. Enorme Kräfte rissen ihr die Beine weg. Eva knallte auf die Knie und in der nächsten Sekunde schlitterte sie über den Boden rasant auf den Mann zu. Seine bloße Willenskraft reichte aus, um ihren Körper gefügig zu machen. Die Haut an Knien und Händen brannte wie Feuer. Hart krachte Eva mit der Flanke gegen den Türrahmen, der Schmerz ging durch bis ins Mark. Ihr Kopf schwirrte und ihr Herz schlug, als wollte es ihr aus der Brust springen.

»Steh auf«, knurrte der Magier.

Diesmal ließ sich Eva nicht zweimal bitten. Sie stützte sich an der Wand ab und versuchte, die Beine durchzudrücken. Ein qualvoller Stich durchfuhr ihre rechte Seite, bestimmt hatte sie sich ein paar Rippen gebrochen. Mit geschlossenen Augen drehte sie sich um. Sie wollte ihn nicht ansehen, auch wenn sie sich nicht davor drücken konnte.

»Weißt du, wen du vor dir hast?«

Vorsichtig hob Eva die Lider und blickte dem Magier ins Gesicht. Sie kannte es, hatte es als Kind in zigfachen Zeitungsartikeln gesehen. Es mutete unnatürlich schön an. Trotz all der Jahre hatte es sich nicht verändert, der Magier war kein bisschen gealtert. Die Augen des Mannes bereiteten noch heute vielen Begabten große Furcht. Es waren die Augen aus den Albträumen, die Augen, die niemand von ihnen jemals vergessen hatte. Jonathan Fingerless, ein Mörder. Seine Familie hatte über tausend Talente gestohlen und genauso viele Menschen getötet, wenn nicht mehr.

Eva fasste sich ein Herz.

Sie wusste, was geschehen würde. Er würde auch sie umbringen. Aber sie würde nicht als wehrloses, wimmerndes Opfer sterben. Die Genugtuung wollte sie ihm nicht geben, auch wenn sie keine Chance hatte, mit dem Leben davonzukommen. »Ich habe Abschaum vor mir.« Eva hielt dem Blick des Magiers stand.

Jonathan Fingerless lachte auf. »Abschaum? Ich muss gestehen, man hat mich schon schlimmer genannt.«

»Sie werden euch kriegen, Jonathan. Dich und deine Sippschaft. Sie werden euch jagen und dahin zurückverbannen, wo ihr hingehört.«

»Ihr Menschen seid Narren, Eva. Ihr glaubt, ihr könnt euch mit uns messen? Das ist absolut lächerlich.«

»Wir haben euch schon einmal besiegt. Der Beirat wird nicht tatenlos zusehen, wie ihr unsereins abschlachtet.«

»Euer Beirat ist ein Witz! Sie schicken euch in den Kampf und haben selbst keinen Mumm in den Knochen. Wir halten uns nicht an eure Gesetze. Und wenn ihr uns schon einmal besiegt hättet, dann sag mir, teure Eva, wie kann es sein, dass ich hier vor dir stehe?«

Wut stieg in Eva auf, verwandelte Angst in Zorn. »Wenn ihr so stark seid, wozu braucht ihr dann unsere Gaben? Ihr fürchtet euch doch vor uns!«

Der Magier zog eine Augenbraue hoch. »Vielleicht könntet ihr uns gefährlich werden. Aber solange ihr euch an die Gesetze haltet, habt ihr nicht den Hauch einer Chance. Du bist dumm, Eva, und zugleich mutig. Ich werde es deshalb schnell tun, denn ich habe eine Leidenschaft für Mut. Du weißt, dein Wissen ist tödlich, ich kann dich nicht verschonen.«

Eva fürchtete sich nicht vor dem Tod. Er war Bestandteil ihres Lebens, Schatten und Jenseits ein Teil von ihr. Das Sterben allerdings konnte grausam werden. Sorge und Traurigkeit fraßen sich in ihr Herz. Was sollte aus Anna werden? Sie war noch nicht so weit.

»Schließ die Augen, es wird nicht wehtun.«

Eva gehorchte dem Magier. Was brachte es, sich zu wehren? Sie hatte die Chance, ohne Schmerzen zu sterben, und sie musste sie ergreifen. Jonathan Fingerless machte so ein Angebot bestimmt nicht oft. Falls er Wort hielt.

Der Fluch traf sie überraschend schnell und der Lähmungszauber breitete sich aus. Unfähig, sich zu bewegen, stand sie starr vor Jonathan. Sie schickte in Gedanken ein kurzes Gebet in den Himmel, dass er Anna verschonen würde, und spürte noch, wie der Magier eine kalte Klinge über ihre Halsschlagader zog.