29. Kapitel
Dicke Luft
Als Anna den Speisesaal zum Mittagessen betrat, verstummten die Gespräche an der Tafel. Sicher hatten sie von ihr gesprochen. Na ja, nach ihrem super Abgang war das wahrscheinlich nicht verwunderlich.
Kein Beiratsmitglied ließ sich blicken, sie musste die Gunst der Stunde nutzen. Sie setzte sich neben Kevin, mit der Absicht, ihn für sich zu gewinnen. Ihre Freunde waren nicht auf den Kopf gefallen, bestimmt durchschauten sie das miese Spiel der Engländer ebenfalls.
»Und, wie lautet euer Plan?«, fragte sie in die Runde.
»Konkret haben wir das noch nicht besprochen, aber Robert meinte …«, begann Kevin.
»Ihr wollt also wirklich bei der Sache mitmachen? Ihr wollt euch von Leuten führen lassen, die euch erpressen?«, entfuhr es ihr barsch.
Plötzlich beschäftigte sich jeder eine Spur zu sehr mit dem Essen. Sie blickten angestrengt auf ihre Teller.
Sally rang sich schließlich zu einer Antwort durch. »Anna, sie haben meine Mutter. Und nicht nur sie. Jeder von uns versucht, in bester Absicht zu handeln, damit niemandem ein Haar gekrümmt wird. Zudem ist das nicht das Einzige von Bedeutung. Der Beirat hat recht. Jemand muss die Magier aufhalten und du bist dazu berufen. Glaubst du, wir lassen dich allein?«
»Ihr lasst niemanden im Stich, denn ich habe nicht vor, ihre Marionette zu spielen.«
»Das ist mal wieder typisch!« Vanessa funkelte sie an. Ihre bisherige Unsicherheit war verflogen. »Du denkst nur an dich! Ich bin nicht hier, um dir zu helfen, sondern um meine kleine Schwester zu retten. Die hat man nämlich entführt und das nur, weil du dich in so einen Widerling verlieben musstest!«
»Was hat denn Sebastian damit zu tun?«
»Glaubst du, wenn du ihnen freiwillig helfen würdest, dann würden sie ein Druckmittel brauchen? Bestimmt nicht.«
Anna konnte nicht glauben, dass sie das Ganze auf diese Weise betrachtete. Sie allein trug die Schuld? Sah Vanessa denn nicht, wie boshaft die Engländer waren und dass sie versuchten, einen Keil zwischen sie zu treiben? Die Blicke der anderen zeigten, dass sie Vanessa beipflichteten. Sebastian hielt als Sündenbock her, eine einfache Methode, den Gefühlen Herr zu werden.
»Dann wärst du also auch hier, wenn man deine Schwester nicht hätte?«, fragte sie bitter.
»Natürlich nicht.«
»Siehst du. Sie brauchen ein Team und hätten dich trotzdem erpressen müssen. Egal, wie ich mich verhalte.«
»Schwachsinn.« Vanessa stierte sie wütend an.
So viel Hass hatte sie ihrer Freundin kaum zugetraut. »Ist sonst noch jemand der Meinung, ich wäre an allem schuld?«, fragte Anna sicherheitshalber. Ihre Stimme überschlug sich bei den Worten.
»Nein, aber wir sind uns alle einig, dass du endlich die Augen aufmachen musst. Versuch nicht, den Magier zu retten, er ist es nicht wert. Er hat dich bezirzt und du solltest das endlich erkennen. Du musst dich zusammenreißen und mit uns kämpfen«, antwortete Kevin und sprach offenbar für den ganzen Rest.
Ihr Vater warf ihr einen langen Blick zu, pflichtete ihm aber bei.
»Um es anders auszudrücken, Anna …« Virginia, Marlas Schwiegermutter, erhob ihre sonst freundliche Stimme. »Solltest du der Meinung sein, querschießen zu müssen, bekommst du es mit uns zu tun.«
Anna schluckte schwer. Sie beugten sich dem Beirat und suchten die Schuld woanders. Rosige Aussichten. Allein standen die Chancen schlecht, sich gegen die Engländer zu wehren.
»Um dieses Magierschwein Sebastian kümmere ich mich persönlich. Er spielt nicht ungestraft mit deinen Gefühlen«, sagte Kevin. Sie hielt ihren Blick an die Decke gerichtet und vermied es, ihn anzusehen.
Marla verfolgte das Gespräch mit ausdrucksloser Miene, Sebastians Fluch saß nach wie vor. So ein verdammter Bockmist! Vermutlich hielt sie besser die Klappe. Sie konnte die Spannungen am Esstisch fast greifen, die Luft flackerte voll überhitzter Anspannung. Jede weitere Diskussion bewirkte nur das Gegenteil von dem, was sie eigentlich wollte.
Der Beirat hatte es also geschafft, sie gegeneinander aufzubringen. Die Gesichter der anderen waren zu Eis gefroren. Immerhin lächelte die Wurst mit Gesichtsaufdruck, die den Teller vor ihr zierte. Anna war der Appetit vergangen und sie erhob sich. Die Blöße, vor ihnen zu weinen, gab sie sich sicher nicht.
Anna stieg die Steintreppe hinauf und die Gefühle übermannten sie. Dicke Tränen kullerten über ihr Gesicht und es kostete Beherrschung, nicht einfach alles herauszuschreien, was ihr auf der Seele brannte. Eva nannte das immer ein reinigendes Gewitter. Sie widerstand dem Bedürfnis und presste die Lippen aufeinander. Schweigen bedeutete manchmal die einzige Möglichkeit, sich zuzugestehen, wie sehr die Dinge einen verletzten. Enttäuschung und Wut leckten mit scharfen Zungen in den Wunden der vergangenen Tage. Hätten Familie und Freunde sie nicht schließen sollen? Versuchen, sie zu heilen?
Anna knallte die Tür dermaßen fest ins Schloss, dass sie wohl froh sein musste, dass sie nicht aus den Angeln flog. Sie schmiss sich aufs Bett und biss in das Kissen. Freundschaften fingen mit Begegnungen an. Irgendwie, irgendwo, irgendwann … Aber wo und wie endeten sie? Ehrliche Freundschaften endeten niemals, zumindest glaubte sie das. Aber wenn ihr Glaube der Wahrheit entsprach, besaß sie wohl keinen echten Freund. Sie behaupteten, sie ließe sich von Sebastian blenden? Sie würden besser daran tun, selbst die Sonnenbrillen abzunehmen, denn der Beirat trübte mit seinem widerlichen Glanz ihren Blick. Sie schluchzte ins Kissen und hörte, dass die Zimmertür knarrend aufging.
Anna richtete sich auf und sah Jenny hinter dem Tränenschleier auftauchen. Sie schloss die Tür und blieb mit trauriger Miene stehen.
»Was? Willst du weiter auf mir rumhacken?«, maulte Anna mit gequälter Stimme. Die Gefühlsattacke ließ sich nicht kontrollieren.
Jenny schüttelte den Kopf, trat auf sie zu und kniete sich hin. Sie zog Anna in ihre dünnen Arme und strich ihr über den Rücken. »Anna, ich bin auf deiner Seite«, sagte sie.
Eine wohlige Wärme ummantelte ihr Herz. Trotzdem schluchzte sie auf. Wie sollte ein Kind ihr groß helfen? Sie lehnte die Stirn an Jennys Schulter. Wenigstens blieb ihr jemand, der sie verstand.
»Kannst du aufhören, zu heulen? Wir haben was zu besprechen.«
Anna versuchte, die nachkommenden Tränen hinunterzuschlucken. Ihr gesträubtes Fell ließ sich kaum glätten. Schließlich rang sie sich durch, Jenny anzusehen.
»Ich habe einen Plan.«
»Was denn für einen Plan?« Anna schnäuzte in ein Taschentuch.
»Setz dich mal richtig hin.« Jenny sprach leise. Sie vermied, dass jemand das Gespräch belauschte.
Anna rutschte zur Seite. Jenny setzte sich neben sie.
»Hör zu, ich bin ganz genau deiner Ansicht. Der Beirat ist böse, genauso böse wie die Fingerless. Die anderen wissen das auch, aber sie sorgen sich um die Entführten. Deshalb müssen wir sie befreien, hörst du? Wir müssen erfahren, wo man sie gefangen hält. Wenn wir sie retten, wird jeder auf unserer Seite sein, außer vielleicht Kevin.«
»Kevin?«, fragte Anna. Es gab keinen vorstellbaren Grund, weshalb er nicht auf ihrer Seite sein sollte. Er gehörte zu ihren besten Freunden. Aber sie schätzte ja so manchen falsch ein.
»Ach, der Idiot handelt im Eifersuchtswahn. Man hat niemanden bei ihm als Druckmittel benötigt. Er ist total verknallt in dich und tatsächlich aus freien Stücken hier.«
»Kevin ist verliebt in mich?« Geahnt hatte sie es …
»Ja, und genau deshalb will er sich ausgerechnet Sebastian krallen. Aber allein wird er das auch nicht schaffen, deshalb müssen wir noch heute mit Suchen anfangen.«
»Sie werden trotzdem nicht zu mir halten«, sagte Anna leise und zog die Nase hoch.
Jenny verdrehte die Augen. »Selbstmitleid können wir uns im Augenblick nicht erlauben. Wir müssen jetzt irgendwie erst mal den Schlamassel ins Lot bringen. Jammern hilft nicht weiter.«
»Aber wie sollen wir denn herausfinden, wo sie meine Mutter und die anderen gefangen halten? Glaubst du, sie werden es einfach ausplaudern? Wen haben sie sonst noch?«
»Sallys Mutter und meinen Opa. Und soweit ich weiß, die kleine Schwester dieser Vanessa. Gott, Anna! Du solltest übrigens dringend die Wahl deiner Freunde überdenken. Die Frau ist total anstrengend und obereingebildet dazu.«
»Normalerweise ist sie nicht so, sie ist verzweifelt«, versuchte Anna, sie zu verteidigen, obwohl sie ihr eigentlich lieber den Kopf abgerissen hätte. So langsam beruhigte sich das überhitzte Gemüt. Ihre Leute waren mit der Situation überfordert. Wer konnte ihnen das schon verübeln?
»Jaja. Sie plappert in einer Tour, sobald du den Raum verlässt und schimpft und heult rum. Aber wie auch immer, ich habe eine Idee.« Jenny grinste.
»Schieß los.« Ein kleiner Hoffnungsschimmer schlich sich an den Horizont. Vielleicht tat sie gut daran, Jenny zu vertrauen. Es gab keinen klügeren Menschen auf der Erde als Marla. Vielleicht hatte Jenny etwas davon geerbt.
»Denk doch mal nach! Du bist ein Medium. Alles, was wir tun müssen, ist, Kontakt aufzunehmen. Zu jemandem, der damals als Druckmittel hingehalten hat oder zu einem ehemaligen Jäger!«
»Und wer soll das sein?« Ohne zu wissen, wen sie aufsuchen sollte, machte eine Séance wenig Sinn.
»Tja, wenn du mich nicht hättest … hättest du vermutlich einen anderen, der für dich denkt. Der Beirat ist nicht halb so helle, wie er glaubt. Er macht einen Fehler, den hier anscheinend jeder macht. Er unterschätzt mich.«
»Was meinst du damit?«
»Ach, ein paar kindlich naive Fragen hier, eine paar Kommentare darüber, wie vorbildlich doch die alten Jäger waren da und sie waren bereit, zu plaudern. Sie erzählten mir, der braven Nacheiferin der verstorbenen Idole, wer alles im vergangenen Team dabei gewesen ist. Sie gaben mir Fotos, Namen, einfach alles. Das Einzige, was du zu tun hast, ist, in die Schatten zu spazieren und doof nachzufragen.«
»Jenny, du bist genial!« Und das meinte sie genau so, wie sie es sagte. Dieses Schlitzohr! Von ihr konnte sich so manch einer eine Scheibe abschneiden. Sie unterschätzten sie wirklich.
»Ich weiß. Und sobald wir wissen, wo man die Geiseln hingebracht hat, verschwinden wir, befreien sie und treten den alten Säcken in den Arsch!«
Das klang nicht ansatzweise so leicht, wie sie es ausplauderte, aber immerhin war es ein Plan.
»Am späten Nachmittag will man uns noch einige Dinge zur Verteidigung beibringen. Morgen sollen wir unsere neuen Gaben bekommen. Uns bleibt also nicht ewig Zeit. Danach werden wir wohl bald abreisen. Heute Abend, wenn alle schlafen? Du besorgst die Kerzen und ich krame mal in Moms Gepäck nach Lavendel. Einverstanden?«
Anna nickte enthusiastisch. Ihre Tränen waren längst versiegt. »Einverstanden.«
»Bis dahin mach gefälligst gute Miene zum bösen Spiel. Nicht, dass uns noch jemand auf die Schliche kommt. Ich will nicht, dass sie auch nur den Hauch einer Ahnung haben, dass wir etwas aushecken könnten. Verstanden?«
»Absolut. Ich reiß mich zusammen.« Es schwang wenig Überzeugung mit, aber es musste für den Moment genügen.
»Super, ich bin gegen elf bei dir, aber wir sehen uns gleich im Konferenzsaal.« Jenny nickte ihr zu und verschwand auf den Flur, wohlbedacht, dass niemand sie sah.
Die kleine Jenny … Wer hätte das gedacht? Wenn Marla bei Verstand wäre, ihr spränge das Herz vor Stolz aus der Brust.