14. Kapitel

Verboten

Die ein rauschendes Karussell erstreckte sich die Wirklichkeit vor ihr, die Welt lud sie auf eine Achterbahnfahrt ein. Allerdings empfand sie die Fahrt nicht halb so erfreulich, wie sie sie in Erinnerung hatte. Ihr Kopf dröhnte und nur verschwommen nahm sie wahr, dass sich Marla erschrocken aufrichtete. Sie schien etwas zu sagen, denn sie bewegte die Lippen, aber der Druck auf Annas Ohren ließ sie noch weniger hören, als sie sehen konnte. Das Schwindelgefühl bereitete ihr Übelkeit. Es klang nicht ab. Anna erkannte den Grund, sie atmete nicht. Sie schaffte es nicht, ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen, und die sommerlichen Temperaturen des Diesseits brannten auf ihrer Haut. Ihr Körper ging nahezu in Flammen auf. Anna widerstand dem Impuls, die Augen zu schließen. Auf keinen Fall durfte sie zurück in die Schatten tauchen.

»Anna!«

Endlich hörte sie Marlas Stimme. Die dumpfen Geräusche fügten sich zu einem Wort zusammen. In der nächsten Sekunde strömte Luft in ihren Körper. Japsend sog Anna sie ein, ihre Lungen brannten wie Feuer.

»Was ist passiert?«

Ihre Finger kribbelten. Sie riskierte einen Blick und stellte fest, sich nicht getäuscht zu haben. Sie sahen total verfroren aus.

»Du bist ja eiskalt.« Marla strich ihr besorgt übers Gesicht. Die Haut fühlte sich nach der Berührung seltsam taub an.

»Eva«, brachte sie keuchend hervor.

Marla sprang aus dem Kreis und schnappte sich die Decke vom Sofa. Vorsichtig legte sie sie um Annas Schultern. Sie mummelte sich ein, fuhr sich über ihre Augen und versuchte, sich zu sammeln. Sie zitterte, aber das Karussell kam allmählich zum Stillstand und die Übelkeit nahm ab.

»Kannst du aufstehen?«

Anna versuchte, sich aufzurichten. Sie wehrte Marlas Hand ab. Ihre Finger schmerzten, weil die Taubheit langsam aus ihnen wich. Sie schwankte mühsam zum Sessel, ihre Beine gehorchten nur schwerfällig. Erschöpft ließ sie sich darauf nieder und schlang fröstelnd die Decke um ihren Körper. »Eva hat mich beinahe erfrieren lassen«, brachte sie schließlich hervor.

Marla setzte sich neben sie. »Warst du etwa im Jenseits?«

Sie schüttelte behutsam den Kopf, rechnete damit, dass das Karussell wieder einen Zahn zulegte. »Nein, aber ich habe sie gehört.«

»Ich koche erst mal einen Tee, ich denke, du könntest was Heißes vertragen.«

Anna zwang sich zu einem dankbaren Lächeln. Bevor Marla in der Küche verschwand, knipste sie das Licht an.

Reflexartig kniff sie die Augen zusammen. Ihr Herz klopfte laut auf. Zurück in die Schatten zu gleiten, bedeutete vermutlich ihren Tod. Sie atmete tief durch. Nichts geschah. Die Stimme ihrer Gabe blieb stumm.

Anna zerbrach sich den Kopf. Der Verdacht, einen Fehler begangen zu haben, beschlich sie. Hätte sie Eva anhören sollen? Sie hatte ihr etwas mitteilen wollen.

Ein tödliches Wissen. Was sollte das sein? Was meinte Eva damit? Sie hatte aufgebracht geklungen, beinahe panisch. Eine Träne lief ihre Wange hinunter, ein riesiger Stein legte sich auf die Brust. Eva fand keine Ruhe. Wie oft sich das Blatt auch wendete, alle Gedanken und Ideen liefen auf ein Ziel hinaus. Sie durfte Eva nicht im Stich lassen, sie musste ihr helfen. Irgendwie.

Marla betrat mit einem Tee das Wohnzimmer, sie nahm ihr die dampfende Tasse ab. »Geht es besser?«

Anna nickte. »Ja, viel besser. Aber ich fühle mich, als hätte ich ein paar Tage nicht geschlafen.«

Marla zog die Jalousien hoch. Dicke Wolken schoben sich über den blauen Himmel, es begann zu regnen.

»Was hat Emily gesagt?«, fragte Marla.

»Wir sollen ein Ouija-Brett verwenden, um mit Eva in Kontakt zu treten.«

»Ein Ouija-Brett?« Marla blickte sie aus großen Augen an, eine Spur Traurigkeit mischte sich in ihre Gesichtszüge. Das Gehörte gefiel ihr offensichtlich nicht.

»Ja, sie sagte, es sei die sicherste Methode, einen Rachegeist zu beschwören. Weißt du, wie man so was macht?«

Marla verzog das Gesicht. »Anna, das Brett wird uns nicht helfen.«

»Nicht?«

»Nein. Diese Bretter sind uns Begabten seit vielen Jahren untersagt. Du wirst kein Medium mehr finden, das mit ihnen umzugehen weiß.«

»Sie sind verboten? Weshalb?«

Marla lehnte sich in die Polster zurück. »Früher waren diese Artefakte sehr beliebt. Gefahrlos konnte man seine Gabe auf die Reise schicken. Zumindest dachte man das lange Zeit. In Wahrheit aber bieten die Dinger eine große Angriffsfläche für Dämonen.«

»Dämonen? Sag nicht, die gibt es auch noch?«

»Natürlich gibt es Dämonen. Das Ouija-Brett verschließt zwar sauber die Barriere zum Jenseits, aber öffnet dafür andere Tore. Unheimliche Kreaturen verschafften sich durch sie schon oft Zutritt in unsere Welt.«

Anna trank einen Schluck und starrte nachdenklich auf den Wohnzimmertisch. Die einzige Möglichkeit, mit Eva Kontakt aufzunehmen, und ihr dadurch zu helfen, verbot das Gesetz? Die heiße Flüssigkeit lief ihr den Hals hinunter, aber sie wärmte nicht wirklich. Die Lage erschien aussichtslos. Aber hatte Emily nicht gesagt, sie könnte es selbst tun? War die Aussicht auf Dämonen denn schlimmer als der Gedanke an eine verzweifelte Eva? Nein, es gab nichts Schlimmeres als eine ruhelose Eva. Das Gesetz besagte schließlich auch, dass die Talentierten helfen mussten, wenn sich ihnen die Möglichkeit bot. Und sie hatte die Möglichkeit. Sie verbannte die letzten Zweifel aus ihrem Kopf.

»Ich tue es.«

»Anna, das ist eine wirklich schlechte Idee.«

»Hast du eine bessere?«

Marla seufzte. »Dämonen sind gefährlich. Meine Kraft wird nicht ausreichen, um einem Teufel Einhalt zu gebieten, sollte er sich tatsächlich in unsere Welt verirren.«

»Eva klang so verzweifelt. Ich kann sie nicht zurücklassen. Wir müssen ihren Mörder aufspüren, damit sie Frieden finden kann.«

»Das ist der falsche Weg.«

»Und wenn es Frank wäre?«

Marla verschlug es die Sprache und die Härchen an ihren Armen richteten sich auf. Anna kannte die Antwort, sie hätte dieses verflixte Brett genommen.

»Entweder, du hilfst mir, oder ich tue es allein.« Sie schuldete es Eva. Sie hatte ihr das Talent nicht grundlos vererbt. Sie vertrauten und verließen sich aufeinander.

Marla raufte sich die Haare. »Also schön, wir werden es versuchen.«

Anna fielen Evas Worte ein. »Was ist ein tödliches Wissen?«

Ratlos blickte Marla ihr in die Augen. »Ein tödliches Wissen? Keine Ahnung.«

»Eva rief es mir nach, aber ich glaube, ich habe nur einen Bruchteil ihres Satzes verstanden.« Anna warf die Decke auf die Couch und sprang auf. Ihre Körpertemperatur nahm langsam normale Grade an. Der Gedanke an die Dämonen machte ihr keine Angst, ihre eigene Nüchternheit erschrak sie ein bisschen. »Besorgst du das Brett?«

Widerwillig nickte Marla. »Ich besorge es. Und ich werde Sebastian anrufen. Je nachdem, was für ein Monster hier reinspaziert, kann ein Mann im Haus nicht schaden.«

»Bis morgen.« Anna drückte sie und verschwand aus der Tür. Ihr Körper sehnte sich nach einer gesunden Portion Schlaf.

*

Sebastian betrat das Schlafzimmer. Sein Blick fiel auf Kiras lange, gebräunte Beine. Sie hatte es sich auf dem Bett bequem gemacht und die Nase in ein Buch gesteckt. Ob sie ihm helfen konnte, seine Gefühle loszuwerden? Er musste es versuchen.

»Da bist du ja, wo warst du?« Kira klappte das Buch zusammen und richtete sich auf, um ihn zu begrüßen.

»Ich habe den Kapitän besucht.«

»Den Gestaltwandler?«

»Ja, ich schätze, er ist reif. Würdest du mich begleiten?« Er hegte die Hoffnung, dass ihn ein anständiger Mord wieder klarer sehen ließ.

»Glaubst du, die Show würde ich mir entgehen lassen? Ein begehrtes Talent und rar gesät. Weißt du, was wir damit alles anstellen können?«

Auf Kira verließ er sich gern, wenn es um solche Dinge ging. Natürlich wusste er, was sie damit anstellen könnten. Trotzdem durchbohrte ein kräftiger Stich sein Herz und Zweifel schlichen sich in seine Gedanken. Er versuchte, die Gewissensbisse hinunterzuschlucken, aber es gelang ihm nicht. Sein natürliches Verlangen vermischte sich mit Trauer. Schmerzlich erkannte er, dass die menschlichen Emotionen überwogen. Er hatte sich fest vorgenommen, über seine neu erworbene Moral zu springen, und sich die Gabe des alten Mannes unter den Nagel zu reißen. Seit Wochen arbeitete er darauf hin, und der einsame Kapitän stellte leichte Beute dar. Es gab niemanden, den er sonst als Erben einsetzen konnte.

Sebastian entschied sich anders. Er wollte dem Alten nicht wehtun, er war ein Freund. »Ich will es aber nicht«, sagte er leise. Hätte er doch bloß die Klappe gehalten. Wie kam er da wieder raus?

»Du willst es nicht?« Sie zog ein fragendes Gesicht, er las die Ungläubigkeit in ihren Augen. »Wie kann man so ein Talent nicht wollen?«

Sebastian zuckte die Schultern. »Ich kann dafür sorgen, dass er einen von euch einsetzt.«

»An wen hast du gedacht?« Ihre Miene zeigte, dass sie besänftigt war. Klar, sie interessierte sich brennend dafür.

»Wir sollten abstimmen.«

»Du musst es den anderen nicht sagen«, warf sie hoffnungsvoll ein.

»Doch. Vielleicht gibt es jemanden unter uns, dem diese Gabe ganz gelegen kommt.«

Kira ließ sich aufs Bett gleiten und rekelte sich verführerisch in den Laken. »Ich für meinen Teil würde dich auf angemessene Art belohnen.«

Kira gehörte zu den schönsten Wesen auf diesem Planeten und sie wusste ihre Vorzüge auszuspielen. Aber seit ihm Anna durch den Kopf spukte, fand er keine Schwäche mehr für Kiras Körper. Ihre Seele unter der hübschen Fassade sickerte abgrundtief hässlich hindurch. Es gab nichts mehr, was ihn an ihr reizte.

Sebastian warf ihr einen Blick zu und wandte sich ab. Er hörte sie aufspringen und ihm folgen. Er öffnete die Tür zum Salon, Kira schlüpfte nach ihm durch den Spalt der Flügeltür.

Jonathan Fingerless saß über die Tageszeitung gebeugt am Schreibtisch. »Dein Feuerleger ist in der Zeitung«, sagte er, ohne aufzusehen.

»Und? Sie werden nichts finden, was ihnen helfen könnte.« Kira grinste süffisant. Sie arbeitete gründlich und lag mit ihrer Behauptung vermutlich richtig. Niemand konnte ihr etwas nachweisen.

»Was führt euch zu mir?«, fragte Jonathan und klappte die Zeitung zu. Er schenkte sich einen Whiskey ein.

»Ich möchte das Gestaltwandlertalent an einen von euch vergeben. Ich will es nicht.«

»Hast du den Verstand verloren?«, donnerte Jonathan los. »Es ist eine starke Gabe und du hast an seinem Vertrauen gearbeitet. Belohne dich für die Mühe.«

»Das habe ich ihm auch gesagt«, warf Kira ein.

»Ich will es trotzdem nicht«, wiederholte Sebastian.

»Er empfindet Schuld.« Josh stand belustigt grinsend im Türrahmen und verfolgte das Gespräch.

Jonathan lachte auf. »Na, du hast eine blühende Fantasie.«

»Ich lese es in seinen Gedanken, Vater. Er hat etwas übrig für dieses Pack.«

Jonathan sah Sebastian eindringlich an. »Es ist diese Gabe, die dich verrückt macht. Hab ich recht?«

Sebastian senkte den Kopf und nickte zögerlich. Was sollte er antworten? Er wusste nicht, ob sein Empfinden ausschließlich an dem Talent lag. Sein Vater war ohnehin der Letzte, dem er es anvertraut hätte, wenn es anders gewesen wäre.

»Ich habe dir gesagt, du sollst die Finger von diesem Empathen lassen! Sieh an, in was für eine Lage du dich gebracht hast. Ein Magier mit menschlichen Gefühlen …«

Jonathan schüttelte wütend den Kopf. Sebastian wusste, was es für ihn bedeutete. Der saure Beigeschmack von Sebastians Fähigkeit wies nur auf eins hin – Schwäche. Und Schwäche duldete sein Vater nicht.

»Es ist nicht die Gabe. Das Medium hat ihm den Kopf verdreht.«

Mit einem Grinsen im Gesicht ließ sich Josh auf einen Stuhl fallen und fing Sebastians Blick auf. Es lief ihm heiß und kalt den Rücken hinunter. Sein Bruder wusste, dass er alles noch schlimmer machte und gerade deshalb tat er es.

»Das Medium?« Kira verengte die Lider zu Schlitzen und stierte ihn an. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Es ist die Gabe«, antwortete er leise an sie gerichtet.

»Wenn dir diese Schlange zu nahe kommt, reiße ich ihr persönlich das Herz aus der Brust! Du gehörst mir, ich werde einmal euren Namen tragen!«

Hätten Blicke töten konnten, wäre Sebastian sofort umgefallen. Kira war zweifelsfrei eifersüchtig, sauer und fassungslos. Und von ihr ging eine tödliche Gefahr aus, wenn die Kombination sie leitete.

Josh zog abfällig die Mundwinkel hoch. »Wenn sie ihm zu nahe kommt? Kira, sie hat sein Herz längst berührt.«

Der Knoten in seiner Brust wuchs und schnitt ihm die Luft ab. Sein Bruder hatte recht. Es durfte dennoch nicht sein, es musste an diesem schrecklichen Talent liegen.

»Sebastian, geh zu deiner Mutter. Vielleicht kann sie dieses Empathengedöns mit einem Fluch oder so etwas belegen. Ich dulde keinen Streit in meinem Haus. Danach gehst du und holst dir den Gestaltwandler.« Jonathans Worte erlaubten keinen Widerspruch. Wenn sein Vater etwas sagte, hatte man zu folgen.

Sebastian verließ den Salon, um seine Mutter aufzusuchen. Der Blick, den Kira ihm noch zuwarf, ließ sein Blut in den Adern gefrieren.