17. Kapitel
Vermenschlicht
Im Schein der einzigen Straßenlaterne wirkte die Umgebung unecht. Das blasse Licht ließ Anna nur schemenhafte Umrisse erkennen, tauchte die Welt in eine matte Glaskugel. Sie schrie und wünschte, aus dem entsetzlichen Albtraum aufzuwachen. Aber es gab kein Erwachen, denn sie stand mit beiden Beinen in der Realität.
Marla sprach mit beruhigender Stimme auf sie ein, Jenny stand wie gelähmt neben ihnen.
»Sebastian?«, brüllte Anna.
Marla krallte sich an ihr fest und verhinderte, dass sie ihm hinterherlief. Bildete sie es sich bloß ein oder hatten seine Augen kohlrabenschwarz ausgesehen? Mit atemberaubender Schnelligkeit war er an ihnen vorbeigestürmt. Anna versuchte, sich loszureißen.
»Wo will er denn hin?«, schluchzte sie.
»Anna, lass ihn!«
Durch einen Tränenschleier blickte sie ihm nach und gab es auf, sich zu wehren. Hatte der Dämon Besitz von ihm ergriffen? War das möglich? Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen und drückte es fest zusammen. Sie ließ sich auf den Asphalt sinken. »Bitte, lieber Gott, lass ihn nicht besessen sein«, wimmerte sie.
»Ihr wartet hier, ich sehe im Haus nach«, sagte Marla, als Sebastian außer Reichweite lag. Sie verschwand im dunklen Hof.
Annas Haut spannte am Arm. Sie erkannte Marlas roten Handabdruck auf ihrem Gelenk. Jenny saß verstört auf der Bordsteinkante, ihre glasigen Augen fixierten ihr Zuhause.
Anna öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Der Dämon ist tot.« Marla blieb vor dem Hof stehen und bedeutete ihnen, ins Haus zu kommen.
Anna berührte Jennys Schulter und ging mit ihr ins Haus. »Wie hat er das …?« Sie suchte vergebens nach einer Rauchwolke. Der Dämon hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst.
»Ich fahre dich nach Hause und Jenny zu ihren Großeltern. Sofort.«
»Was? Wir müssen Sebastian helfen!« Das konnte Marla doch nicht ernst meinen? Sie mussten ihn finden.
»Sofort«, wiederholte sie mit autoritärer Stimme. Lediglich die letzte Silbe ließ darauf schließen, dass sie kurz davorstand, die Nerven zu verlieren. »Jenny! Pack ein paar Sachen zusammen.«
Jenny nickte und verschwand schnell die Treppe hinauf. Sie traute sich nicht, zu widersprechen.
»Marla, klär mich auf. Was ist los?« Anna hegte die Hoffnung, dass sie sich erklären würde, wenn Jenny nicht zuhörte.
»Du wirst bei euch niemandem die Tür öffnen. Hörst du, Anna? Niemandem …« Unterschwellige Panik sprach aus Marla. Wirklich Mut machte das nicht.
»Hat es was mit Evas Antwort zu tun?«, fragte sie.
Der Dämon konnte nicht Schuld an ihrer Angst tragen. Er war tot, die Hexe hatte es selbst gesagt.
Marla blickte ihr ins Gesicht. Sie schien abzuwägen, wie viel sie erzählen durfte. »Eva hatte recht, das Wissen ist tödlich. Ich fahre Jenny jetzt zu Franks Mutter und lasse dich bei deinem Vater raus. Und versuche erst gar nicht …«, Anna wollte ihr schon wieder ins Wort fallen, aber Marla erhob die Stimme, » … mich vom Gegenteil zu überzeugen.«
*
Sebastian lief schnell, seine Beine
trugen ihn unbeschwert über das Pflaster. Die Kraft seiner Natur
beflügelte ihn. Selbstständig wählte die Magie den Weg, sein
Bewusstsein steuerte ihn nicht. Das Ziel sah er dennoch klar vor
Augen. Einem Menschen wäre dieser rasche Marsch nicht möglich
gewesen.
Wie hatte er glauben können, ihm läge tatsächlich etwas an ihr?
Wieso hatte er sich eingeredet, er hegte Gefühle? Sie blieb ein
Mensch und damit ein Opfer. Seine Macht, die mit jedem Herzschlag
durch seine Venen pulsierte, untermauerte die Tatsache. Sie
behauptete sich gegen die anderen Empfindungen und bewies, dass er
sich geirrt hatte.
Das Blut vieler Unschuldiger klebte an den Händen seiner Familie, klebte an seinen Händen. Heute Nacht würde es ein bisschen mehr werden, aber er nahm den Umstand nur zu gern in Kauf. Ein Hochgefühl leitete ihn.
Das Hausboot lag einsam im Hafen und Sebastian rief sich innerlich zur Ruhe. Es glich einem Spiel, sie in dem Glauben zu lassen, er käme in Freundschaft. Er atmete durch und sprang an Deck. Seine Augen brannten und er wusste, dass sich die Farbe seiner Iris verändert hatte.
»Kapitän?« Seine Stimme klang fest und verriet mit keiner Silbe, dass ein wahrer Kampf in ihm tobte. Die Gefahr schlug Wellen durch sein Innerstes. »Kapitän? Ich bin es, Sebastian!«
Verschlafen erschien der alte Mann in der Tür. »Mein Freund, um diese Zeit?«
»Ich habe gerade gegen einen Dämon gekämpft!«
Der Kapitän gab die Tür frei. »Gegen einen Dämon? Konntest du ihn besiegen?« Es schien ihn nicht zu erstaunen, seine betagten Augen hatten wohl schon viel im Leben gesehen.
Sebastian sprang die Stufen hinab, der Kapitän schloss mit fragendem Blick die Tür. »Ich könnte einen Cognac vertragen.« Er kannte die Regeln seines Spiels, wusste, wie er die Menschen dazu brachte, das zu tun, was er wollte. Obwohl er seit langer Zeit nicht mehr spielte, folgte er dem üblichen Ablauf.
Der Kapitän griff zur Flasche. Die Möglichkeit, sich einen Schluck zu genehmigen, ließ er selten aus. Sebastian leerte sein Glas in einem Zug, der Alte tat es ihm gleich.
»Was hat ein Dämon hier verloren?«
»Anna hat mit einem Ouija-Brett gespielt.«
»Ist ihr etwas geschehen?«
Sebastian schüttelte den Kopf und seufzte auf. Sein Herz wog plötzlich ein paar Kilo leichter, denn ein dicker Stein verabschiedete sich. Wieso das? Weshalb fühlte er plötzlich wieder? Er musste schnell handeln, bevor die Empathengabe seine Sinne erneut benebelte. »Ich wollte dich etwas fragen, schon länger.«
»Dann frag, mein Freund. Es gibt nichts, worüber wir beide nicht sprechen können.«
Der Kapitän schenkte einen neuen Drink in sein Glas. Sebastians Eingeweide zogen sich zusammen, als er ihm ein Lächeln zuwarf. Die gelben Zähne blitzten auf. Übelkeit stieg auf. »Wen wirst du als deinen Erben einsetzen?« Seine Stimme bebte.
Der
Kapitän verzog sein runzliges Gesicht. Lachfältchen schummelten
sich zu den tiefen Furchen. »Und deshalb machst du dir ins Hemd?
Bist so nervös?« Er lachte und sein Atem
rasselte.
Sebastian senkte den Kopf und versuchte, den Kapitän nicht länger
anzusehen.
»Hast du Angst, ich könnte wen anderes bedenken? Mein lieber Freund, ich habe doch nur dich.«
Ein kalter Schauder arbeitete sich über Sebastians Rücken empor und zog seine Kopfhaut unangenehm zusammen. Der Kapitän empfand Freundschaft, die Empathengabe spiegelte es wider.
»Ich habe es schon lange vorbereitet«, fuhr der alte Mann fort. »Ich wollte den richtigen Augenblick abpassen.« Mühselig richtete er sich von seinem Stuhl auf, seine Kniegelenke knackten. Er kramte in der Küchenschublade.
Sebastians Magierausch drohte, weiter abzuebben. Die Kraft kribbelte schon leichter durch seine Venen.
»Da haben wir es ja. Es scheint ein guter Moment zu sein, wenn du gerade einen Dämon besiegt hast.«
Der Kapitän hielt ihm ein großes Blatt unter die Nase.
In verschnörkelter und altertümlicher Handschrift stand die Gabe mittig geschrieben: Metamorphose-Gabe. Der blutige Fingerabdruck prangte dicht daneben.
Die letzte Glut des Feuers erlosch und ein dicker Kloß im Hals schnürte ihm die Luft zum Atmen ab. Es drängte ihn nicht mehr, zu töten. Die kleinen Wellen, die durch seine Adern pulsierten, fühlten sich plötzlich widerlich kalt an. Er konnte dem alten Mann nichts tun, er war ein Freund.
»Na, nun nimm es schon. Besiegle das Testament.« Der Kapitän wedelte mit einem Klappmesser.
»Ich will es nicht.« Der Satz ging ihm leicht von den Lippen, es kostete keine Überwindung.
Das erwartungsvolle Gesicht des Mannes verzog sich zu einer enttäuschten Miene. »Aber dann wird der Beirat es bekommen!« Sebastian schüttelte den Kopf. »Ich kann es trotzdem nicht nehmen.« Er wandte sich ab, er musste hier raus. Wie hatte er sich so von seinen Impulsen leiten lassen können? Das durfte nie wieder geschehen.
Sebastian erklomm die erste Stufe der Treppe, da barst die Tür entzwei. Dicke Holzsplitter segelten ihm entgegen. Schützend hob er die Hand vor sein Gesicht. Ein Luftzug streifte ihn und ihm schwante Böses.
Kira flog an ihm vorbei und stieß ihn grob zur Seite. Er verlor das Gleichgewicht und schaffte es nicht, sie festzuhalten. Seine Hände griffen ins Leere.
Kiras blutender Finger landete auf dem Pergament und noch in der Drehung brach sie dem fassungslosen Kapitän das Genick.
Sebastian hörte den Knochen brechen. Der Alte blickte sie vorwurfsvoll und erschrocken an, bevor sein schwerer Körper leblos zu Boden fiel.
Kira warf ihm einen feindseligen Blick zu. »Du bist so ein Schwächling, Sebastian.«
Sebastian versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken. Er wollte nicht vor ihr weinen. Aber die Traurigkeit übermannte ihn, als er den ermordeten Körper seines Freundes betrachtete. Er schien wie gelähmt, er schaffte es nicht, sich aufzurappeln. Kira griff das Messer vom Tisch und zog es blitzschnell über die Kehle des Toten. Gekonnt trennte sie ihm den Finger ab.
»Die Handschrift darf nicht vergessen werden«, sagte sie mit einem kalten Lächeln auf den Lippen.
Sebastian versuchte, seine Gedanken zu sortieren, das Gesehene zu verarbeiten, aber in seinem Kopf ergab es keinen Sinn. Während er sich bemühte, die Tränen wegzublinzeln, verwandelte sich die Schönheit in eine rabenschwarze Katze. Sie besaß jetzt das begehrte Talent. Mit einem Satz sprang sie die Treppe hinauf. Sebastian blieb allein an dem inzwischen blutgetränkten Tatort zurück.