37. Kapitel

Identitätskrise

Josh Fingerless betrat den Winkelbungalow. Seine übrige Familie saß nervös am Küchentisch.

»Er war nicht mehr da, aber die Frau stand eindeutig unter seinem Zauber. Ich habe sie getötet.« Er setzte sich auf einen freien Stuhl und blickte in die ausdruckslosen Mienen seiner Eltern. Dass seine Familie einmal so auseinanderbrechen würde, damit hatte niemand gerechnet. Diesmal, wo jeder von ihnen wusste, wie der Beirat arbeitete und vorging, wären sie zusammen unbesiegbar gewesen. Gezielt hatten sie sich zunächst die starken Talente zu eigen gemacht. Wer hätte sie aufhalten wollen? Wer? Aber das Ableben von Kira und sein wahnwitziger Bruder brachten die Pläne gehörig durcheinander. Mit zwei Spielern weniger im Team und in der Pflicht, jetzt agieren zu müssen, änderte sich die Situation. Der Beirat hatte ganz hinten auf der Abschussliste gestanden, er wäre das Sahnehäubchen ihres Erfolges gewesen. Später, zu einem Zeitpunkt, an dem es vielleicht schon keine Talente mehr in fremdem Besitz gegeben hätte. Sebastian kannte die Pläne der Fingerless, er war mit jedem Gedankengang vertraut. Eine Tatsache, die gefährlich werden könnte.

Durch eine Ortungsformel, gesprochen von einer entführten Hexe, hatten sie das Versteck des jüngsten Sprösslings ausfindig gemacht. Schade, dass er Sebastian nicht angetroffen hatte. In einem direkten Duell hätte sein vermenschlichter Bruder keine Chance gegen ihn gehabt.

Jonathan Fingerless zog an seiner Zigarette und blies den Rauch durch die Nasenlöcher. »Ich werde mich persönlich darum kümmern«, sagte das Familienoberhaupt. »Wir werden Sebastian töten müssen. Sich Kiras zu entledigen war das Dümmste, was er je getan hat. Wir brauchen die Del Rossis auf unserer Seite, ihren Zorn können wir uns nicht leisten. Deshalb werden wir sie in dem Glauben lassen, Kira und Sebastian seien im Kampf gefallen.«

Er hatte den Plan bestimmt sorgsam durchdacht. Josh wusste, dass sein Vater kein Leid bei diesen Worten verspürte, selbst wenn es sich bei seinem nächsten Opfer um sein eigenes Fleisch und Blut handelte.

Thea Fingerless sah ihrem Mann ins Gesicht, ihr schien es da anders zu gehen. »Jonathan, er ist unser Sohn.« Eine Spur Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit.

»Nein. Solch einen Sohn haben wir nicht aufgezogen. Er agiert mit den Menschen, diese Schande können wir uns ohnehin nicht erlauben. Antonio Del Rossi wird sich uns anschließen, wenn es darum geht, den Beirat auszuschalten.«

Thea nickte ihrem Mann zu. Es ging um mehr als um die Familie, dessen war sich Josh bewusst. Es ging darum, den natürlichen Verlauf der Dinge wieder herzustellen. Menschen sollten nicht mit Magie bereichert durchs Leben wandeln. Magie in menschlichem Besitz war etwas, das einfach nicht richtig erschien. Die Rangordnung der Welt sah es nicht vor. Das menschliche Volk hatte sich ihnen zu beugen. Ihnen, den Stärkeren. Die Welt hätte von Magiern regiert werden sollen, von einer starken Familie angeführt. Diesem Urglauben folgte sein Vater schließlich, seit er denken konnte, und er gab ihm recht.

»Wie sollen wir ihn finden?«, fragte Josh in das unbehagliche Schweigen.

»Das brauchen wir nicht. Er wird uns finden.«

Josh lehnte sich entspannt zurück. Seit geraumer Zeit wütete in ihm der Wunsch, seinen Bruder zu töten. Sollte Sebastian doch kommen, er würde es sich zu seiner ganz besonderen Aufgabe machen, diesem Verräter den Tod zu bescheren. Und das, bevor sein Vater ihm die Arbeit abnehmen konnte.

*

Sebastian kämpfte sich durch das Waldgebiet. Er lief nicht annähernd so schnell wie auf dem Hinweg, wenn er auch immer noch ein außergewöhnliches Tempo an den Tag legte. Trübe Gedanken füllten seinen Kopf. Gedanken, die leider der Wahrheit entsprachen. Sie wogen schwer. Die Rettungsaktion im Hauptquartier hatte ihm sehr deutlich vor Augen geführt, wer er war. Ein Magier, ein Mörder. Er war das personifizierte Böse. Eine das Weltgeschehen beeinflussende Grundkraft, die zum Guten in einem antagonistischen Verhältnis stand. Auch wenn sich die Welt nicht bloß in Schwarz oder Weiß teilte, sondern vielmehr grau schimmerte, verschrieb sich ein großer Teil von ihm der Dunkelheit. Das Gefühl, als er die Beiratsmitglieder getötet hatte, konnte er nicht beschreiben. Es hatte sich besser angefühlt als jeder Mord an einem Menschen, und auch besser als der Mord an dem Dämon. So viel Macht hatte er noch nie verspürt, auch wenn er es diesmal geschafft hatte, sich zu kontrollieren. Wie sollte er das ein Leben lang unterdrücken können? Unvorstellbar. Er würde immer eine Gefahr darstellen. Auch für Anna. Sie allein war der Grund, weshalb er tun würde, was er tun musste. Denn mit der Schuld leben, sie in Gefahr zu bringen, konnte er noch weniger als mit seinem unterdrückten Naturell. In dieser Lage und dieser Situation eröffneten sich kaum Möglichkeiten. Er würde helfen, die Welt von seiner Familie zu befreien, und im Anschluss daran musste er sich stellen. Dem Beirat oder wem auch immer, sollte von ihnen niemand übrig bleiben.

Der Laubboden schmiegte sich fast zärtlich um seine Schuhe und gab sie wieder frei. Es war das Gefühl von Freiheit, eine Verbundenheit mit der Natur. Wie immer, wenn er von Magie beflügelt seiner abnormen Schnelligkeit nachkam, schien sich die Welt seinem Willen zu beugen. Normalerweise bescherte dieses Gefühl die Hoffnung, dass seine Existenz vielleicht doch einen Sinn hatte und dass das, was er tat, einen Zweck erfüllte. Heute verspürte er keine Hoffnung. Trostlose Realität fraß sich in sein Herz und sättigte es mit Traurigkeit. Jeder Atemzug kostete Kraft und schmerzte. Es musste ein Ende haben und zum Glück war es absehbar. In solch einem Zwiespalt konnte kein Mensch leben und erst recht kein Magier.

Er blickte auf, als das kleine Jagdschloss vor ihm auftauchte.

*

Marla und Jenny hievten das Beiratsmitglied auf das Bett. Ihre Kraft hätte für keinen weiteren Meter gereicht. Der starke Halbengel hatte sich bereits einmal einen Weg an seine Bewusstseinsoberfläche zurückerkämpft. Marla war sekündlich darauf vorbereitet und es hatte nur eine Atemzuglänge gedauert, bis sich Robert Pearson wieder ins Land der verhexten Träume begab.

»Ich werde ihn in Schach halten, geh und hol die anderen. Es ist an der Zeit, sie aufzuklären, bevor Aldwyn mit den Mentoren zurück ist.« Marla bedeutete ihrer Tochter, sich zu beeilen und Jenny zögerte keine Sekunde.

Für den Fall, dass sie nichts von Anna hörten, mussten sie eigene Pläne verfolgen. Ganz oben auf der Prioritätenliste stand, aus dem schrecklichen Schloss zu verschwinden.

Marla betrachtete das faltige Gesicht des Engländers. Wann war es so weit gekommen? Ob sie schon immer so kalt und berechenbar gewesen waren? Kaum zu glauben, dass sich die Masse aller Talente auf diese Männer verließ. Sie fasste in die Innentasche von Roberts Tweedjackett und beförderte ein kleines Mobiltelefon hervor. Das, was sie vorhatte, musste sie allein erledigen. Die anderen hätten es nicht gutgeheißen. Natürlich nicht.

Sie hatte die Nummer schon Jahre nicht mehr gewählt, trotzdem waren ihr die Zahlen im Gedächtnis geblieben. Die Frauenstimme hatte sich nicht verändert.

»Heather? Hier ist Marla.«

»Dein Anruf kann nichts Gutes verheißen«, antwortete die Frau, ohne einer Begrüßung nachzukommen.

»Wir haben uns lange nicht gesprochen und ich würde nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre.«

»Was ist passiert?«

Marla schilderte das Geschehen in wenigen Sätzen und gab nicht allzu viel preis. Je weniger sie wusste, umso besser.

»Und was soll ich jetzt tun?«

»Du musst dich in Sicherheit bringen und ein paar Leute mitnehmen. Du wirst deine Hexenkünste anwenden müssen.«

»Das habe ich nicht mehr getan, seit …« Heather beendete den Satz nicht, aber das war auch nicht nötig.

»Es geht um Leben und Tod. Eigentlich kann ich dir keine Wahl lassen.«

»Wen soll ich mitnehmen?«

»Meine Tochter, Schwiegereltern und ein paar Freunde. Verlasse das Land, am besten den Kontinent.«

»Ich werde alles arrangieren.« Heather brachte ihr auch nach all den Jahren noch großes Vertrauen entgegen.

Zehn Sätze später drückte Marla die Austaste und löschte die Nummer aus dem Gesprächsverlauf. Sie steckte das Handy wieder in die Tasche des Halbengels zurück. Sie musste es einfach tun, die Menschen beschützen, die sie liebte.

Jenny kam zurück in das Schlafzimmer gestolpert, Ralph und Sally im Schlepptau. Sally sog scharf die Luft ein und Ralph Graf sah aus, als würde er gleich in Ohnmacht fallen, als sie den Engländer erblickten.

»Was tun Sie da?«, fuhr der stattliche Mann sie an.

»Herr Graf, Ihre Tochter ist gerade dabei, die Geiseln zu befreien. Wenn wir nicht an deren Stelle treten wollen, sollten wir schleunigst von hier verschwinden.«

»Meine Tochter ist was?«, donnerte Ralph.

Sally ließ sich aufs Bett sinken. »Sie sollten mehr Vertrauen in Ihr Kind haben. Sie scheint die Einzige zu sein, die weiß, was zu tun ist. Wenn Sie bleiben, wird Anna es Ihnen niemals verzeihen. Heute entscheidet sich, wer Freund und wer Gegner ist.«

»Aber wie will sie das denn anstellen? Sie ist ein Kind und die Männer sind gefährlich!« Ralph kämpfte mit den Tränen. Marla sah ihm an, dass er Angst hatte. Seine Wut entstand aus der Hilflosigkeit.

»Sebastian ist bei ihr«, antwortete sie.

»Der Magier?« Das letzte Tüpfelchen, das noch gefehlt hatte, um Ralph in abgrundtiefe Angst zu jagen. Sie hätte es wissen müssen, aber nun war es zu spät. »Er wird sie töten!«

Marla schüttelte den Kopf. »Herr Graf, Sebastian kämpft auf der Seite, auf der Sie ebenfalls stehen sollten. An der Seite Ihrer Tochter. Es ist erschreckend, dass es so weit gekommen ist, dass wir uns auf einen Magier verlassen müssen. Aber ich kann Ihnen versichern, wir können das bedenkenlos tun. Also? Werden Sie mit uns kommen?«

Sally hatte sich anscheinend wieder gefangen und schnitt Ralph das Wort ab. »Wir werden. Wenn Anna meine Mutter gerettet hat und all die anderen Menschen, steht es außer Frage, auf wessen Seite wir stehen. Eigentlich empfinde ich schon die ganze Zeit so, aber …« Sie rang um Worte und gab den Erklärungsversuch schließlich auf.

Marla nickte der blonden Frau zu, als Jenny mit ihrer Großmutter hineinstürmte.

»Jenny hat mich aufgeklärt. Hoffen wir, dass das kein Fehler war.« Virginia klang wütend, aber Hauptsache, sie schloss sich an.

»Die anderen beiden wollen nicht herkommen«, keuchte Jenny atemlos.

»Ich gehe«, antwortete Sally.

Marla warf einen Blick auf Robert Pearson und nickte. Sie konnte nicht riskieren, ihn ohne ihre Aufsicht zu lassen.

Das auserwählte Jägerteam schwieg. Alle Hoffnung lag nun bei Anna.

Kurze Zeit später vernahm Marla Schritte auf der Treppe. Sie war überrascht, als anstelle von Sally Sebastian das Schlafzimmer betrat. Sein Anblick erleichterte ihr Herz um ein Vielfaches. Er war zurück und mit ihm die Gerechtigkeit.

Sebastian lächelte sie an. Doch bevor Marla das Lächeln erwidern konnte, passierte das, was nicht passieren durfte.