Anmerkungen
1 Kurzformen von Vornamen sind in Rußland sehr beliebt. Was Kosenamen betraf, waren die Russen immer erfinderisch. Seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert benutzte man englische Kurzformen. Der Panslawismus der siebziger und achtziger Jahre bewirkte eine Rückkehr zu russischen Namen. Aber in eleganten aristokratischen Kreisen herrschten die anglophilen Kosenamen immer noch vor. Dies galt als amüsante Exklusivität, en naturel und manieriert zugleich. Tolstois Romanfiguren heißen zum Beispiel Dolly und Kitty, sogar in einer alten traditionsbewußten Familie in Moskau, wo man den europäischen Geschmack viel weniger schätzte als in Petersburg. Da Katharina und Elisabeth zu den beliebtesten russischen Namen zählen, gab es viele Kittys und Bettys. Aus Alexander wurde Sandy und Bobby aus Paul. Deshalb trägt Zenas Bruder einen Namen, der scheinbar nicht zu Rußland paßt.
2 Der russische Namen Vauxhall für Bahnhöfe entstand auf seltsame, komplizierte Weise. 1830 wurde die Liverpool-Manchester-Linie eröffnet, die erste Bahnlinie für Fahrgäste. Fünf Jahre später ließ Zar Nikolaus eine Bahnverbindung zwischen Petersburg und Zarski Selo bauen, dem vierzehn Meilen entfernten Feriensitz seiner Familie. Diese Linie wurde 1837 eröffnet. Da es keine Zwischenstationen gab und außer der Zarenfamilie nur ein paar Höflinge mit dieser Bahn reisten, war sie kein kommerzieller Erfolg. Dann kam jemand auf den Gedanken, einen Vergnügungspark anzulegen wie die Londoner Vauxhall Gardens, die damals sehr beliebt waren. Die Zarsko-Linie wurde bis Pawlowsk verlängert, der Bahngesellschaft ein Gebiet von fünfzig Morgen zur Verfügung gestellt. Die Attraktionen der Pawlowsk-Vauxhall übertrafen ihr Londoner Vorbild, und die Petersburger strömten scharenweise in den Park. Da die Züge stets überfüllt waren, kam die Bahngesellschaft aus den roten Zahlen heraus. Zarsko war damals die einzige Petersburger Station. Deshalb gewöhnten sich die Leute an, ihre Kutscher oder Droschkenfahrer nach Vauxhall zu dirigieren. Später erhielt der Petersburger Bahnhof diesen Namen. Als die Bahnlinie bis Moskau führte, wurde er Moskauer Vauxhall genannt. Schließlich trugen alle Bahnhöfe des russischen Reichs von der Ostsee bis zum Pazifik den Namen eines Vergnügungsparks im südlichen London.
3 Die russische Aristokratie war niemals so diskret wie die europäische. Zweifellos trugen die absolutistische Regierung und die enormen Privilegien des Adels zu seiner Mißachtung moralischer Privilegien bei. Zwei Beispiele sind symptomatisch für die Vernachlässigung verfeinerter Gesellschaftsstrukturen. Alexander II. nahm seine Geliebte, Prinzessin Katharina Dolgorouky, auf allen Reisen mit. Als er eine Fahrt nach Ems in Berlin unterbrach, übernachteten sie in der russischen Botschaft. Der alte deutsche Kaiser Wilhelm und Kaiserin Augusta waren entsetzt über die Kühnheit des Zaren. Die Kaiserin ging sofort zu Bett, damit sie ihren Neffen Alexander nicht empfangen mußte. Katharina begleitete ihn auch in den Winterpalast, wo er residierte, als ihn die Mordanschläge der Nihilisten daran hinderten, sich frei zu bewegen. Sie wohnte mit ihren drei Kindern direkt über den Gemächern der Zarin, die gezwungenermaßen mit anhören mußte, welchen Lärm die unehelichen Sprößlinge ihres Gemahls verursachten. Schließlich erkrankte sie an Tuberkulose und lebte noch zwanzig Jahre, vielleicht aus Bosheit, denn Alexander heiratete seine Geliebte sofort nach dem Tod seiner Frau.
Auch ein Großherzog aus einer anderen Generation demonstrierte die typische Hemmungslosigkeit und Indiskretion des Adels. Großherzog Michael war der Bruder des letzten Zaren, Nikolaus II., und Hauptmann im Regiment der Gelben Kürassiere, in Gatschina stationiert. Zu den Offizieren des Korps gehörte ein gewisser Hauptmann Wulffert, mit einer schönen, ungewöhnlich intelligenten geschiedenen Frau verheiratet. Sie war sehr gastfreundlich und lud die Kameraden ihres Mannes oft zum Abendessen ein. Bald wußte ganz Petersburg von der Affäre des Großherzogs und der attraktiven Madame Wulffert. Die kluge Frau hatte ihre Netze erfolgreich nach der Aristokratie ausgeworfen. Ein scharfsinniger Mann, lieferte Hauptmann Wulffert seiner Frau die erforderlichen Scheidungsgründe. Nach der Scheidung bewohnte sie in Petersburg ganz ungeniert eine luxuriöse Wohnung, die der Großherzog finanzierte.
4 Der Kaukasus diente als Schutz vor allen bedrohlichen Ereignissen. Dort blieben alte Lebensweisen, deren Ursprung kaum bekannt ist, länger erhalten als in der Außenwelt. Die Herkunft vieler kaukasischer Stämme liegt im dunkeln. Von dem Dutzend Sprachen ähneln nur wenige den Sprachen anderer Völker. Nicht jede Rasse oder Sprache hat einen Namen. In vielen gibt es kein Wort, das ›unser Volk‹ oder ›unsere Sprache‹ bedeuten würde. In Degestan leben etwa 80.000 Menschen, die eine namenlose Einheitssprache sprechen und keinen Volksnamen tragen. Von Wissenschaftlern wurden sie willkürlich Awaren genannt, obwohl sie mit den alten Awaren nichts gemein haben. Vielleicht wurden sie vor einigen tausend Jahren von neuen Einwanderern besiegt und ausgerottet, bis auf ein paar Gruppen, die – in die Berge zurückgedrängt – überlebten. Oder sie ließen sich im Lauf einer früheren Völkerwanderung in den Gebirgstälern nieder. Die größeren Bergstämme besitzen eine bescheidene Literatur und leben nach ihrem komplizierten Gesetz, dem Avar, das von Gruppe zu Gruppe variiert und das die Stammesältesten auswendig kennen. Für die meisten Kaukasier ist das Wort ›Nation‹ unbegreiflich. Familien und Freundeskreise ersetzen die Nation und bilden Gesellschaften. Die Mitglieder einer Gesellschaft sind füreinander verantwortlich und müssen einander beschützen. Verwandtschaftsgrade spielen keine Rolle. Je größer eine Familie oder Gesellschaft ist, desto höheres Ansehen kann sie erlangen. Sogar bei feudalen Stämmen übt ein Prinz ohne Familie keinen Einfluß aus und wird nicht respektiert. Aber ein Clan-Führer, der viele Krieger befehligt und reich ist (wobei man den Reichtum nicht am Geld mißt, sondern an Pferden, Schafen, Rindern und Ackerland), genießt die Achtung aller kleineren Gesellschaften. Wie in jeder Kultur beruht die Macht auf Reichtum. Nicht einmal der große Schemyl, Rußlands formidabelster Feind im Kaukasus, der zwanzig Jahre lang einen heiligen Krieg gegen das Reich führte, konnte den Gehorsam, die Streitkräfte und die Loyalität der Dagestan-Krieger erringen. Diese stolzen, unabhängigen Männer wollten nicht für einen Moslem kämpfen, der einer sehr armen, unbedeutenden Familie entstammte.
5 So wie die Griechen alle, die keine Griechen waren, ›Barbaren‹ nannten, bezeichneten die Russen alle Ausländer als ›Deutsche‹, und die Bergbewohner nannten Russen oder Moskowiter ›Giaurs‹. Dieses Wort leitet sich vom türkischen ›Gyáwur‹ ab und bedeutet geringschätzig ›Ungläubiger‹.
6 Zenas Spur im bläulichen Schieferschlamm hatte für Alex und Ivan eine besondere Bedeutung. Niemals hinterlassen Menschen oder Tiere identische Spuren. Die Größe oder Form der Fußabdrücke, der Abstand dazwischen, die Drehung nach außen, die Spreizung der Zehen oder Krallen und die Schleifspuren der Hinterbeine sind einzigartig. Für einen Fährtenleser spricht dies alles eine deutliche Sprache, und er erkennt die Spur später unter anderen Bedingungen oder auf verändertem Terrain stets wieder. Deshalb kann er ein Pferd oder einen Menschen überall identifizieren. Die Spuren eines Menschen oder Tiers verraten sehr viel über seinen jeweiligen Zustand. Die Fährten einer Kuh, eines Pferdes oder Hundes vermag jeder zu unterscheiden. Das geübte Auge eines Fährtenlesers sieht viel mehr. Er weiß, ob eine Spur von einem Mann, einer Frau oder einem Kind stammt, einem Läufer oder einem Spaziergänger. Die Fußabdrücke eines Mannes sind größer und stärker ausgeprägt als die einer Frau, und er macht längere Schritte. Manchmal gleicht eine Kinder-einer Frauenspur, abgesehen vom kleineren Fuß. Ein Frauenfuß ist schmal, mit geschwungenem Spann. Eine Schwangere macht auffällig kleine Schritte, die Fersen graben sich tiefer ein. Deshalb entnahm Alex und Ivan den Spuren Zenas, daß sie schwanger war.
Das Fährtenlesen ist in den Stammesgesellschaften eine althergebrachte Wissenschaft, in einer Schule gelehrt, wo alle Theorien gründlich erprobt werden. Wer einen Fehler begeht, muß oft unangenehme Konsequenzen tragen. Das verdeutlicht die folgende Geschichte eines Europäers.
Fünf Schaf-und Ziegenherden von jeweils neunzig bis hundert Tieren tranken gleichzeitig am selben Brunnen. Als sie sich in verschiedene Richtungen entfernten und der Europäer seinen Kanister füllte, erschien eine Beduinenfrau. Er fragte, was sie hierherführe, und sie erklärte, drei ihrer Ziegen seien anderen Herden gefolgt. Alle drei erkannte sie an den Spuren und holte sie zurück.
7 Obwohl der Islam 1899 im ganzen Kaukasus verbreitet war, akzeptierte man ihn nicht überall gleichermaßen und hielt sich nicht an alle Regeln. In vielen Teilen des Kaukasus kultivierte man immer noch alte heidnische Rituale. Verschiedenen Gottheiten, deren Segen man erbitten wollte, wurden Opfer dargebracht. Man legte großen Wert auf Prophezeiungen. Im Herbst versuchte man Seoséres Gunst mit Opfergaben zu gewinnen, Merissa wurde wegen ihres Honigs verehrt. Die religiösen Haine spielten eine wichtigere Rolle als die Moscheen, und die Feste in diesen Wäldchen lockten viel mehr Menschen herbei. In anderen Gebirgsgegenden überlebten Reste des Christentums in seltsamen, modifizierten Formen. Das Kreuz des Heiligen Georgs schmückte immer noch die Tuniken eines Stammes. Dieser war – wie einige Wissenschaftler vermuten – von Kreuzfahrern gegründet worden, die in den Bergen Zuflucht gesucht hatten.
Obwohl der Koran alkoholische Getränke verbietet, hielt man sich nicht daran. Heimische Weine und ein starker Met namens ›Bosa‹ wurden gern getrunken. Türkische Scheichs wie Ibrahim Bey pflegten die Gesetze des Korans zu ignorieren und genossen ihren Wein. Die Liste der Sultane, die sich zu Tode tranken, wäre ziemlich lang. Auch andere reiche Männer wußten den Alkohol zu schätzen.
8 Illegitime, gebildete Kinder reicher Väter wurden nicht verachtet. Dafür gibt es in der russischen Geschichte zahlreiche Beispiele. Hier sollen zwei angeführt werden.
Graf Michael Voronzov, ein attraktiver, brillanter Mann und Vizekönig im Kaukasus, heiratete Gräfin Elizabeth Branizky. Sie war keine Schönheit, aber anmutig, charmant und lebensfroh, und man hielt sie für die größte Verführerin ihrer Zeit. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde sie als Tochter des Fürsten Potemkin (ein hochgeschätzter Liebhaber Katharinas der Großen) und seiner Lieblingsnichte, Alexandra Englehardt, geboren (alle vier Nichten waren seine Geliebten gewesen und begleiteten den lüsternen Onkel auf vielen Reisen). Alexandra heiratete den steinreichen polnischen Grafen Xavier Branizky, der die kleine Elizabeth als sein eigenes Kind anerkannte. Nach seinem Tod erbte seine Frau den Großteil seines Vermögens. Als Voronzov ihre Tochter heiratete, bestand die Mitgift aus 30 Millionen Rubel, den berühmten Potemkinschen Diamanten, 200.000 Leibeigenen, mehreren Salzbergwerken und Ländereien in ganz Rußland. Offensichtlich hat die uneheliche Geburt dem Mädchen nicht geschadet.
Auch Alexander Herzen, einer der frühen Dissidenten, entstammte einer unehelichen Verbindung. Sein Vater gehörte der reichen Moskauer Familie Yakovlev an. In jungen Jahren quittierte er seinen Dienst bei der Garde, um das Leben zu genießen. Von einer Reise nach Deutschland brachte er Henrietta Wilhelmina Luisa Haag mit, die sechzehnjährige Tochter eines respektablen Stuttgarter Beamten. Die wurde seine Geliebte und – obwohl er sie niemals heiratete – als Herrin seines Hauses anerkannt. Alexander war das älteste Kind der beiden und erhielt den erfundenen Zunamen Herzen, den auch ein anderer, einige Jahre früher geborener Sohn seines Vaters von einer Leibeigenen trug. Wegen seiner Herkunft mußte Alexander, Vakovlevs Lieblingssohn, nie um seine Karriere bangen. Er genoß die übliche Erziehung eines russischen Aristokraten und studierte an der Moskauer Universität. Als sein Vater 1864 starb, hinterließ er ihm ein beträchtliches Vermögen.
9 Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall.
›La Belle Comtesse Beauharnais‹ – schön, faszinierend und unwiderstehlich – war mit dem Herzog von Leuchtenberg verheiratet, einem Mitglied der russischen Zarenfamilie. Zenaida oder Zina, wie man sie nannte, wurde bewundert und beneidet, nicht nur wegen ihrer Reize und ihres brillanten Ehemanns, sondern auch, weil alle Klatschgeschichten an ihrer Arroganz abprallten. Zu ihren eifrigsten Verehrern zählte Großherzog Alexis Alexandrovich. Eines Nachts kehrte ihr Mann aus seinem Club zurück, wo er mit Vorliebe Karten spielte, und stand vor Zinas versperrter Schlafzimmertür. Brüllend begehrte er Einlaß. Nach einer Weile schwang die Tür auf, und Alexis trat heraus, wie ein Herkules gebaut (viele russische Aristokraten waren fast 1,90 m groß). Er verprügelte den Störenfried, dann warf er ihn die Treppe hinab, und der gehörnte Ehemann mußte auf dem Sofa in der Bibliothek schlafen. Am nächsten Tag beschwerte er sich bei Alexander II., der ihm erklärte, wenn er seine Frau nicht selber im Zaum halten könne, dürfe er von anderen keine Hilfe erwarten. Außerdem betonte der Zar, eine skandalöse Scheidung würde er nicht dulden. Und so verbrachte der Herzog von Leuchtenberg noch viele Nächte in der Bibliothek. Im Lauf der Jahre entwickelte sich die ménage à trois zu einem freundschaftlichen Verhältnis. Das Trio wurde oft in eleganten Restaurants oder Vergnügungslokalen sowohl in Rußland als auch im Ausland gesehen, vor allem in Paris.