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Zwei Tage später, am frühen Nachmittag, saßen sie in der Bibliothek, als Trevor Besuch anmeldete.
Zena öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Alex warf ihr einen strengen Blick zu. »Letzte Woche habe ich Amalie und Prinzessin Baskirseff dir zuliebe weggeschickt. Also bist du’s mir heute schuldig, meine Gäste höflich zu empfangen, statt in deinem Zimmer zu schmollen.«
»Natürlich, Sasha«, gab sie resignierend zu, »du hast recht.« Aber trotz ihrer guten Vorsätze fiel es ihr in den nächsten Stunden immer schwerer, Amalies kaum verhohlene Bosheit zu ertragen. Diesmal hatten die Gräfin und Yuri zwei Freunde mitgebracht, die Hauptmänner Loris Grudtsyn und Peotr Diebitsch. Die Männer füllten immer wieder ihre Gläser. Während Amalie anmutig an einem Champagnerkelch nippte, verzichtete Zena auf das perlende Getränk. In letzter Zeit vertrug sie keinen Alkohol.
Da Alex die Besucher seit seiner Kindheit kannte, tauschten sie eifrig Erinnerungen aus. An dieser Konversation konnte Zena nicht teilnehmen, und so hörte sie schweigend zu.
»Weißt du noch, wie wir an heißen Sommertagen im Fluß geschwommen sind, Sasha?« fragte Amalie. »Für vierzehnjährige Jungs wart ihr noch furchtbar kindisch, habt euch an Schiffstauen hochgezogen und Wikinger-Piraten gespielt.«
»Ausgerechnet du behauptest, wir seien kindisch gewesen?« warf Loris Grudtsyn belustigt ein. »Wer hat denn glitschige Frösche in unsere Betten gelegt?«
Amalie errötete. »Damals waren wir alle jung und übermütig.«
»Eines Nachts holte Yuri ein Dienstmädchen in sein Bett«, erzählte Alex grinsend. »Als ihr nackter Fuß das feuchtkalte Reptil berührte, schrie sie wie am Spieß. Konntest du sie beruhigen, mein Freund?«
»Oh, ich glaube schon.«
Nach dem Abendessen gingen sie in den Salon. Amalie zwängte sich zwischen Alex und Yuri auf ein Brokatsofa und streichelte die Wange des Gastgebers. »Schenkst du mir noch ein bißchen Champagner ein, Liebling?«
»Für Champagner hattest du schon immer eine Schwäche«, meinte er und erfüllte ihren Wunsch. »Am besten stelle ich den Eiskübel vor deine Füße, dann muß ich nicht dauernd aufstehen.«
»Danke, Sasha«, flötete sie und küßte ihn.
Großer Gott, was treibt er denn, fragte sich Yuri. Obwohl ihm das Herz einer wunderbaren Frau gehört, flirtet er ganz ungeniert mit Amalie … Voller Mitleid betrachtete er Zenas unglückliche Miene und überlegte, ob er einen Annäherungsversuch wagen sollte, um dem gefühllosen Bastard eine Lektion zu erteilen.
»Spiel uns doch was vor, Sasha!« bat Peotr Diebitsch.
»O ja!« rief Amalie, erhob sich und zog Alex auf die Beine. »Zuerst ›Selims Lied‹.«
Als er sich ans Klavier setzte, blieb sie hinter ihm stehen und legte einen Arm um seine Schultern. Trotz des reichlichen Alkoholkonsums glitten seine Finger mühelos über die Tasten. Eine melancholische Melodie erfüllte den Raum, und außer Zena sangen alle mit. Bald würde sie den Anblick der schönen Gräfin nicht mehr ertragen, die sich vertraulich zu Alex hinabneigte.
Zweifellos waren die beiden ein Liebespaar gewesen, denn diese Intimität konnte nicht nur auf einer jahrelangen Freundschaft beruhen. In diesem Moment erkannte Zena, welch geringen Einfluß sie auf Alex ausübte, und fühlte sich fehl am Platz. Bedrückt hörte sie ihn in Amalies Gelächter einstimmen und starrte seinen dunklen Kopf an, der den goldblonden fast berührte.
Nach einer Weile verließ sie den Salon, wo die fünf Stimmen den abschließenden Refrain schmetterten. Sie hatte sich wirklich bemüht und war den Gästen freundlich begegnet. Aber Alex verlangte zuviel von ihr, wenn er ihr zumutete, sein spielerisches Tête-à-Tête mit Amalie zu beobachten. Den Tränen nahe, rannte sie die Treppe hinauf.
Der Prinz schlug den letzten Akkord an, dann drehte er sich um. »Wo ist Zena?«
»Soeben hat sie sich zurückgezogen«, antwortete Yuri. »Ich glaube, sie ist müde.«
»Verdammt, sie sollte doch hierbleiben!«
Zärtlich schmiegte sich Amalie an Alex.
»Kümmere dich nicht um sie, Sasha. Dieses dumme kleine Mädchen ist doch ohnehin viel zu jung für dich.«
»Gerade du müßtest wissen, daß das Alter keine Rolle spielt, wenn’s um leidenschaftliche Gefühle geht«, erwiderte er in brutaler Offenheit. »Wie alt warst du denn, als du zum erstenmal die Beine gespreizt hast?«
Brennende Röte stieg ihr in die Wangen.
»Jetzt reicht’s, Sasha«, mahnte Yuri. »Spiel uns noch ein Lied vor – diesmal ein lustiges.«
Darum ließ sich Alex nicht lange bitten. Während ein fröhlicher Chor erklang, eilte Yuri unbemerkt aus dem Salon, suchte den Oberstock auf und folgte dem langen Flur zur Suite des Prinzen.
Leise klopfte er an die Tür. »Ich bin’s, Yuri.« Es dauerte einige Minuten, bis Zena ihn eintreten ließ. Bestürzt musterte er ihr tränennasses Gesicht und führte sie zu einem Sofa am Kamin.
Nachdem sie sich gesetzt hatte, legte er einen Arm um ihre Schultern. »Tut mir leid, Zena. Manchmal benimmt er sich unmöglich, wenn er zuviel getrunken hat.«
Schon seit einigen Wochen beobachtete er, wie achtlos sein Freund mit den verletzlichen Gefühlen der jungen Frau umging. Offenbar übersah der Prinz, daß Zena nicht zu den hartgesottenen Gesellschaftslöwinnen und fragwürdigen Damen gehörte, die ihn bisher amüsiert hatten.
»Schon gut.« Tapfer kämpfte sie mit neuen Tränen. »Ich bleibe einfach hier oben, bis sich die Gäste verabschiedet haben.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nein, danke. Sicher dürfte ich’s nicht so tragisch nehmen. Ich weiß, das ist lächerlich, aber …« Ihre Stimme erstarb.
»Soll ich Sasha etwas ausrichten?«
»Nicht nötig … O Yuri, Gott verzeih mir – ich liebe ihn so sehr!«
Schluchzend legte sie den Kopf auf seine Schulter, und er strich beruhigend über ihr Haar. Als die Tränenflut versiegt war, zog er ein Taschentuch hervor und wischte ihr Gesicht ab.
»Alles wird gut. Glauben Sie mir. Alex liebt Sie. Das weiß ich.«
Sofort erhellte sich ihre Miene. »Wirklich?«
»O ja«, beteuerte er, obwohl er sich keineswegs sicher war. Andererseits lebte Sasha schon seit Wochen mit Zena zusammen, und deshalb mußte er irgend etwas für sie empfinden.
»Hoffentlich haben Sie recht«, seufzte sie glücklich.
Um ihr die Zeit zu vertreiben, unterhielt er sie mit lustigen Klatschgeschichten aus Moskauer Gesellschaftskreisen. Beide lachten fröhlich, als plötzlich eine sarkastische Stimme erklang.
»Was für eine reizende Szene!« Wütend warf Alex die Tür hinter sich zu. »Yuri, meine freundschaftliche Bereitschaft, gewisse Freuden mit dir zu teilen, betrifft nicht Baroneß Turku.«
»Bitte, Sasha!« flehte Zena. »Yuri hat mir nur ein bißchen Gesellschaft geleistet.«
»Du solltest meine Intelligenz nicht beleidigen. Da ich Yuri sehr gut kenne, weiß ich, warum er sich um dich bemüht – und was er bezweckt. Oder bin ich schon zu spät gekommen, ma petite? Stehe ich heute abend an zweiter Stelle?«
Durfte sie ihren Ohren trauen? Zena wurde leichenblaß. Wie konnte er es wagen, sie so schmählich zu verletzen?
»Hast du den Verstand verloren, Sasha?« rief Yuri entrüstet. »Offensichtlich bist du betrunken!«
»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, Yuri, und nimm deine lüsternen Finger von meiner Geliebten. Wenn du uns jetzt entschuldigen würdest – ich möchte unter vier Augen mit ihr sprechen.«
Nur widerstrebend ließ Yuri ihre Schultern los. »Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie bitte«, sagte er leise, stand auf und ging aus dem Zimmer.
»Wie rührend!« spottete Alex. »Als ich dich bat, meine Gäste freundlich zu behandeln, meinte ich nicht nur Yuri. Komm jetzt, wir gehen wieder hinunter. Oder willst du meine Freunde beleidigen?«
»Wie könnte ich eine dreiste Hure wie Amalie beleidigen?« Zena lachte verächtlich. »Solange sich dieses Biest an dich heranmacht, bleibe ich lieber hier.«
»Also das ist dein Problem? Bist du eifersüchtig? Dazu besteht kein Grund. Amalie und ich sind nur gute Freunde.«
»Was meinst du, wie ich mich fühle, wenn du sie unentwegt küßt?«
»Großer Gott, ich küsse sie seit Jahren! Das hat nichts zu bedeuten.«
»Für mich schon.«
»Ich kann tun und lassen, was mir beliebt. Begreifst du das? Niemandem auf dieser Welt bin ich Rechenschaft schuldig.«
»Ist es dir egal, was ich empfinde?« flüsterte sie.
»Das weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich keine Lust, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Ist das klar?«
»Völlig klar.« Unglücklich betrachtete sie seine gerunzelte Stirn, die zusammengepreßten Lippen. »Unter diesen Umständen sollte ich vielleicht abreisen.« Inständig hoffte sie auf seinen Widerspruch.
»Ja, das wäre wohl am besten.«
»Meinst du das ernst?« Bestürzt sprang sie auf.
»Ich spreche immer nur aus, was ich meine.«
Besaß er denn kein Herz? Ein kalter Schauer rann über Zenas Rücken. War er unfähig, Liebe oder auch nur Zuneigung zu empfinden? Seit Wochen schlief er mit ihr. Hatte sie in all den gemeinsamen Nächten keine tieferen Gefühle erweckt? Nein, sie befriedigte nur sein Verlangen. Etwas anderes interessierte ihn nicht.
In diesem Augenblick haßte sie ihn leidenschaftlich, weil er sie so kaltblütig demütigte und verletzte. Sie haßte die Erinnerung an seine Küsse, die Wärme seines Körpers, den sie jeden Morgen neben sich spürte. Und sie haßte die Arroganz, mit der er ihr Herz geraubt hatte, ohne ihr auch nur einen winzigen Teil seines eigenen zu schenken. Wütend schlug sie in sein Gesicht, und ehe er sich von seiner Verblüffung erholen konnte, stürmte sie schluchzend durch die Verbindungstür in ihr Schlafzimmer.
Während sie mühsam nach Fassung rang, erkannte sie, daß sie keine Wahl hatte – sie mußte die Datscha verlassen. Niemals würde Alex sein Kind willkommen heißen, das in ihr wuchs. Er hatte deutlich genug erklärt, er sei nicht bereit, eine Familie zu gründen.
Hastig warf sie ein paar Sachen in eine Ledertasche. Da Bobby wieder erkältet war, mußte sie allein ins Dorf ihres Großvaters reisen. Später würden seine Krieger den kleinen Jungen holen.
Sie wusch die Tränenspuren von ihren Wangen. Dann öffnete sie die Tür zum Flur, um ins Kinderzimmer zu gehen und ihrem Bruder zu erklären, sie würde den Großvater besuchen und nach zwei Wochen zurückkehren. Alex ließ sich nicht blicken. Wie das gellende Gelächter im Erdgeschoß verriet, hatte er sich wieder zu seinen Gästen gesellt.
Trotz seines leichten Fiebers saß Bobby gut gelaunt im Bett. Die Reisepläne seiner Schwester schienen ihn nicht sonderlich zu bekümmern. »In der Zwischenzeit wird Alex für dich sorgen, Liebling.«
»Papa soll mit mir spielen.«
»Ja, bald kommt er zu dir, Schätzchen. Gib mir einen Kuß. In zwei Wochen sehen wir uns wieder.« Er schlang die Ärmchen um ihren Hals, und sie hielt ihn fest, bis er sich unbehaglich umherwand. Glücklicherweise ist er noch zu klein, um alles wahrzunehmen, was in seiner Nähe geschieht, dachte sie dankbar.
Als sie ihn allein ließ, befaßte er sich erneut mit dem aufziehbaren Spielzeugwagen, den Alex ihm an diesem Morgen geschenkt hatte.
Zena beauftragte einen Lakaien, dem Kutscher Bescheid zu geben. Dann ging sie in ihr Zimmer, legte ein warmes Cape um ihre Schultern und trug die Ledertasche nach unten.
Inzwischen saß Alex bei den Gästen und bemühte sich, seinen Zorn im Alkohol zu ertränken. Es war sicher am besten, wenn er Zena vergaß – so schnell wie möglich. Manchmal erregte sie vage, undefinierbare Gefühle in seinem Herzen, aber er hatte nicht die Absicht, seinen Lebenswandel zu ändern. Für die Rolle des Ehemanns und Familienvaters fühlte er sich zu jung. Und seine süße Geliebte bedeutete ihm viel zuviel. Nie zuvor war ihm eine Frau so wichtig gewesen. Tag und Nacht wollte er mit ihr Zusammensein.
Deshalb mußte er die Beziehung beenden, solange er noch die Kraft dazu aufbrachte. Zena entwickelte sich allmählich zum Ärgernis. Dauernd versuchte sie, ihm zärtliche Worte zu entlocken, und sie gefährdete seine Unabhängigkeit. Wenn er sie losgeworden war, konnte er endlich wieder befreit aufatmen.
»Amalie, hol’ eine neue Champagnerflasche!« rief er, um sich von seinen Problemen abzulenken.
Der Kutscher fuhr Zena nach Moskau. Um acht Uhr abends stieg sie in der Stadtmitte aus dem Wagen.
Während der Reise hatten sich ihre Gedanken unablässig im Kreis bewegt. Wäre ich doch vernünftig gewesen, hätte ich ihn nicht bedrängt und nicht gefragt, was ich ihm bedeute – dann könnte ich bei ihm bleiben. O Gott, wenn ich den Mund gehalten hätte, würde ich wenigstens jede Nacht in seinen Armen liegen. Was macht es schon aus, wenn es keine liebevollen Arme sind – solange er mich nur festhält? Ich habe zuviel verlangt – etwas, das er mir nicht geben kann – und deshalb alles verloren.
Als der Kutscher das Gepäck auf den Gehsteig stellte, dankte sie ihm und wies ihn an, nach Podolsk zurückzukehren. Alles sei in Ordnung, versicherte sie. Aber ihre unglückliche Miene bekundete das Gegenteil, und er ließ sie nur widerstrebend allein.
Nach einigen Minuten bemerkte Zena, daß sie die Aufmerksamkeit der Passanten erregte. Hastig ergriff sie ihre Ledertasche und ging zum Südbahnhof.
Wie in Trance, von dumpfer Verzweiflung erfüllt, durchquerte sie eine Welt, die gar nicht in ihr Bewußtsein drang. Wenn jemand mit ihr sprach, gab sie keine Antwort – wenn sie versehentlich angerempelt wurde, spürte sie nichts.