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Am nächsten Morgen um halb elf, als Zena, Alex und Bobby gerade ihr Frühstück im sonnigen Ostsalon beendeten, erklangen Stimmen in der Halle. Wenig später betrat Yuri das Zimmer, die Wangen von der kalten Winterluft gerötet.
Alex hob die Brauen und spottete gutmütig: »Du verschwendest keine Zeit, was, Yuri? Darf ich dir einen meiner ältesten Freunde vorstellen, Zena, Yuri Petrovich Bolotnikow.«
»Freut mich, Sie kennenzulemen.« Formvollendet beugte sich Yuri über Zenas Hand. Er war ein attraktiver blonder Mann mit blauen Augen, und sie konnte sich dem Charme seines Lächelns nicht entziehen.
»Guten Morgen, Yuri Petrovich. Alex hat in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen.«
»Welch eine reizende häusliche Szene!« gurrte eine Frauenstimme. In dramatischer Pose stand Amalie auf der Schwelle. Ein lavendelblaues, mit Hermelin besetztes samtenes Reisekostüm betonte ihre wohlproportionierte Figur. Unter der Pelzkapuze schimmerten goldblonde Locken.
Unbehaglich musterte Zena die schöne Besucherin, und Alex verfluchte seinen taktlosen Freund. Aber er erholte sich schnell von der unangenehmen Überraschung und erhob sich. Anmutig eilte seine ehemalige Geliebte zu ihm.
»Was machst du hier, Amalie?« fragte er kühl. Ehe sie ihn umarmen konnte, hielt er ihre schmalen, in Glaceleder gehüllten Hände fest.
»Was soll die alberne Frage? Natürlich habe ich dich vermißt, Liebling.«
»Laß den Unsinn«, mahnte er leise und machte sie mit Zena bekannt. Während die Frauen einander begrüßten – Amalie honigsüß und boshaft, Zena scheu und unsicher –, wandte er sich zu seinem Freund, der entschuldigend die Achseln zuckte. »Cognac?« Er ging zu einem Fenstertisch, auf dem mehrere Karaffen und Gläser standen, und Yuri folgte ihm. »Was zum Teufel bildest du dir ein?« fauchte Alex, sobald sie außer Hörweite waren.
»Glaub bloß nicht, ich hätte das geplant!« flüsterte Yuri, während der Prinz zwei Gläser füllte. »Gestern abend erwähnte ich bei den Demidoffs, ich würde dich heute besuchen, und Amalie bestand darauf, mich zu begleiten. Du weißt ja, wie hartnäckig sie sein kann.«
»Allerdings«, bestätigte Alex und verdrehte die Augen.
»Tut mir wirklich leid.«
»Schon gut, es ist nicht deine Schuld«, erwiderte Alex und leerte sein Glas. Als Amalies schrilles Gelächter erklang, seufzte er resignierend. »Retten wir Zena aus ihren Krallen. Diesem Biest ist das arme Mädchen nicht gewachsen. Hilf mir, meinem wehrlosen Lämmchen die Tigerin Beckendorff vom Leib zu halten.«
Die beiden Männer schlenderten zum Frühstückstisch zurück und beobachteten, wie Amalie den kleinen Jungen am Kinn kitzelte. »Wem gehörst du denn, Schätzchen?« Schüchtern rutschte er auf seinem Stuhl zurück und starrte das fremde Gesicht an, das viel zu nah vor seinem war.
»Amalie, du darfst ihn nicht erschrecken«, warnte er.
Alex hob Bobby hoch.
»Papa!« Erleichtert legte das Kind den Kopf an seine Schulter.
Verwundert runzelte Yuri die Stirn, und Amalie schnappte hörbar nach Luft. Alex lächelte der sichtlich verlegenen Zena beruhigend zu. »So redet er fast alle Männer an.«
»Ist das Ihr Sohn, Mademoiselle?« fragte Amalie.
»Nein, Madame – er – er …«, stammelte Zena.
»Er ist ihr Bruder«, erklärte Alex. Den kleinen Jungen immer noch im Arm, legte er seine freie Hand auf Zenas Schulter, eine beschützende und zugleich besitzergreifende Geste. Frostig erwiderte er den skeptischen Blick der Gräfin. »Die beiden sind alte Freunde meiner Familie. Um sich eine Weile in meiner Datscha zu erholen, haben sie ihre Reise nach Süden unterbrochen. Ist deine Neugier jetzt befriedigt, Amalie? Wie wär’s mit einer Partie Billard, Yuri?«
Erschrocken schaute Zena zu ihm auf, was er richtig deutete.
»Wollen uns die Damen begleiten? Du hast doch schon oft mit uns gespielt, Amalie?«
Sofort bereute er die doppeldeutigen Worte, und sein Freund sprang in die Bresche. »Ja, und es fiel uns jedesmal schwer, gegen dich zu gewinnen, meine Liebe.«
Während die beiden Paare den Billardsalon aufsuchten, ging Bobby mit Mariana ins Kinderzimmer. Alex eröffnete die Partie, und die Frauen nahmen in bequemen Korbsesseln Platz. »Erzählen Sie mir doch, woher Sie kommen, Mademoiselle«, begann Amalie.
Wie sie von einigen Moskauer Klatschbasen erfahren hatte, war Alex’ Hausgast eine Straßendirne. Das konnte sie nicht glauben, während sie das feingezeichnete Gesicht betrachtete. Auch Zenas perfekt akzentuiertes Französisch sprach dagegen. Aus welcher Familie mochte sie stammen? Offenbar war sie bis vor kurzem eine unberührte Unschuld gewesen. Das verriet ihr häufiges Erröten. Nun zögerte sie und schien nach Worten zu suchen.
Alex hatte die unverblümte Frage gehört. Ärgerlich wandte er sich vom Billardtisch ab. »Hör auf, Zena zu bedrängen, Amalie! Will denn irgend jemand von dir wissen, wo dein Mann ist oder wo du dich nach seiner Meinung aufhältst? Sollen wir uns erkundigen, was Boris sagte, als er dich letzten Herbst eines Nachts auf der Terrasse entdeckte und feststellen mußte, daß du unter deinem Samtcape nackt warst? Oder warum du das fette Schwein überhaupt geheiratet hast? Sicher verstehst du, was ich damit andeuten will«, fügte er lächelnd hinzu, zückte wieder sein Queue und vollführte eine komplizierte Karambolage. »Wenn du auf indiskrete Fragen verzichtest, werden wir dir auch keine stellen.«
Diesen Worten folgte ein langes Schweigen. Yuri starrte ins Leere, und der Prinz schaute Amalie an, bis sie halb nervös, halb belustigt lachte. »Einverstanden. Keine weiteren Fragen.«
»Wie klug von dir, meine Liebe …«
Von da an heuchelte Amalie keine freundschaftlichen Gefühle mehr für das junge Mädchen. Sie begann dann Billard zu spielen, flirtete ungeniert mit Alex und erinnerte ihn immer wieder anzüglich an alte Zeiten.
In wachsendem Unbehagen beobachtete Zena die kokette Gräfin. Yuri versuchte ihr zu erklären, so würde sich Amalie immer aufführen, und man dürfe das nicht ernst nehmen. Doch damit brachte er die junge Dame in noch größere Verlegenheit.
Wie schön und reizend die kleine Mademoiselle ist, dachte er. Nun verstand er, warum sie seinen Freund schon so lange entzückte. Offensichtlich betete sie ihren Verführer an. Eine Motte, die unwiderstehlich vom Licht angezogen wird, überlegte Yuri bedrückt und empfand tiefes Mitleid. Allzulange würde ihr Glück nicht mehr dauern.
Alex nahm Amalies Avancen gleichmütig hin. Für ihre herausfordernde Konversation hatte er sich nie interessiert – nur für ihre extravaganten Aktivitäten im Bett. Aber nun genoß er in Zenas Armen eine seltene Kombination von Zärtlichkeit und Sinnenlust, die ihn viel mehr faszinierte.
Im Lauf der Partie stellte er fest, daß sich sein Freund etwas zu intensiv um Zena bemühte. Mit einem brillanten force-masse beendete er das Spiel und legte das Queue beiseite. »Jetzt müßt ihr Zena und mich entschuldigen. Was diesen Nachmittag betrifft, haben wir bereits Pläne geschmiedet.«
Er ging zu Zena und reichte ihr die Hand. Verwirrt, aber dankbar für die Lüge (sie hatten nichts geplant), stand sie auf.
Dann wandte er sich lächelnd zu Yuri und Zena. »Euer Besuch hat mich sehr gefreut, und ich wünsche euch eine angenehme Rückfahrt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, führte er seine Geliebte aus dem Billardsalon.
»So ein ungehobelter Kerl!« zischte Amalie. »Was ist denn los mit ihm?«
»Ich fürchte, wir sind unbefugterweise in ein idyllisches Liebesnest eingedrungen, meine Teuerste. Im Augenblick legt Sasha keinen Wert auf unsere Gesellschaft.«
»Bald wird er das Mädchen satt haben.«
»Zweifellos«, stimmte Yuri zu, der die kurzfristigen Affären des Prinzen seit Jahren beobachtete. »Brechen wir auf, und versüßen wir unsere verfrühte Heimreise mit einer Flasche Champagner.«
Sie gingen zu ihrem Schlitten, ein hochgewachsenes, goldblondes, blauäugiges Paar, das sein ukrainisches Erbe nicht verleugnen konnte.
Als sie ihre Pelzdecken zurechtrückten, schlug Yuri grinsend vor: »Wollen wir unter diesem warmen Fell ein amüsantes Spiel treiben, Amalie? Stell dir mal vor, wie das Ergebnis unseres Liebesglücks aussehen würde! Ein Prachtexemplar des klassischen Sklaventums!«
Die Gräfin warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Großer Gott, bist du verrückt? Was soll ich denn mit einem Kind anfangen?«
»Ja, das frage ich mich auch«, antwortete er und entkorkte eine Champagnerflasche.
»Manchmal weiß ich wirklich nicht, warum ich mich mit dir abgebe, Yuri«, seufzte Amalie.
»Erstens, weil wir zusammen aufgewachsen sind. Hast du unsere pubertären Liebesabenteuer vergessen?« Er lachte leise. »Und zweitens«, fuhr er fort und warf ihr einen vielsagenden Blick zu, »weil du durch mich an Sasha herankommst.«
Empört starrte sie ihn an. Aber um der alten Freundschaft willen verzieh sie ihm, daß er kein Blatt vor den Mund nahm, und widersprach nicht. »O Yuri, du benimmst dich einfach unmöglich.«
»Beruhige dich und nimm einen Schluck.« Er lächelte nachsichtig. Wie gut er die goldblonde Göttin kannte, die vor sechs Jahren aus der Ukraine nach Petersburg gekommen war und die Stadt im Sturm erobert hatte … »Wenn wir schon zu alt sind, um einander unter den Pelzdecken zu betatschen, können wir uns wenigstens gemeinsam betrinken. Auf Boris, das fette Schwein!« Fröhlich zwinkerte er ihr zu und setzte den Flaschenhals an die Lippen.
»So darfst du aber nicht über meinen Mann reden«, mahnte Amalie ungehalten. Aber dann kicherte sie und griff nach der Flasche. »Also gut, darauf trinke ich!«