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Ohne zu ahnen, wie verzweifelt sie gesucht wurden, wohnten Zena und Bobby in einer Pension an einer ruhigen Straße in Nizza. Zum Glück hatte die freundliche, taktvolle Wirtin keine Fragen gestellt. Die schwangere junge Witwe war elegant gekleidet, führte aber ein bescheidenes Leben, und obwohl ihr Name, Madame Nazarin, eindeutig russisch klang, sprach sie ein akzentfreies Französisch. Jeden Morgen und Nachmittag wanderte sie mit ihrem Söhnchen in den Park. Sie bereitete die Mahlzeiten selbst zu. Abends gingen die beiden früh zu Bett.

Wahrend der Bahnreise hatte Zena gelernt, der Welt ein zufriedenes Gesicht zu zeigen. In ihrem Innern sah es anders aus. Doch sie hoffte, die Zeit würde die Wunden in ihrem Herzen heilen. Tagsüber verdrängte sie die schmerzlichen Erinnerungen an Sasha. Um so deutlicher erschien er in ihrer nächtlichen Traumwelt, der sie hilflos ausgeliefert war. Kurz nach ihrer Ankunft hatte sie einen englischen Gentleman kennengelemt, der des öfteren durch den kleinen Park nahe der Pension wanderte. Eines Morgens spielte er mit Bobby Fangen, als die ermattete Zena der unerschöpflichen Energie des kleinen Jungen nicht mehr gewachsen war. Später fütterte Bobby die Tauben mit Brotkrumen, und der Gentleman setzte sich zu Zena auf die Bank. »Alistair Prescott, Earl of Glenagle«, stellte er sich höflich vor, und sie erklärte, sie sei Madame Nazarin aus Moskau und habe vor einigen Wochen ihren Mann verloren.

Nach dieser ersten Begegnung trafen sie sich öfter im Park und schlossen Freundschaft. Der Earl spielte mit Bobby, oder er schlenderte mit Zena umher, während der Junge mit seinen eigenen Aktivitäten beschäftigt war.

Seltsamerweise nannte Bobby ihn niemals Papa, so wie den Prinzen vom ersten Augenblick an.

Alistair Prescott brachte ihm kleine Geschenke mit, überreichte Zena Veilchen-oder Primel Sträuße und lieh ihr mehrere Bücher. Nach zwei Wochen lud sie ihn zum Tee ein, und einige Tage später besuchte sie ihn mit Bobby in seiner kleinen Villa, die zwei Straßen von der Pension entfernt lag. Wie sich herausstellte, war der neununddreißigjährige Earl ein kinderloser Witwer. Die Schwindsucht hatte seine Frau vor zwei Jahren dahingerafft. Seither verbrachte er die Wintermonate in Nizza. Über seiner hohen aristokratischen Stirn war das hellbraune Haar straff zurückgekämmt. Er hatte hellblaue Augen, eine Adlernase, und seine schmalen Lippen konnten entwaffnend lächeln. In seinem Wesen vereinte er alles, was Sasha nicht besaß – Sanftmut, Höflichkeit, Verständnis, Bescheidenheit und Rücksichtnahme. Und so fühlte sich Zena immer stärker zu dem Mann hingezogen, der ihr in einer Welt voll trauriger Erinnerungen einen gewissen Trost bot.

Mit ihrer melancholischen Schönheit übte sie eine unwiderstehliche Wirkung auf den Earl aus. Wann immer er die tiefe Trauer in ihren mitternachtsblauen Augen las, verspürte er den sehnlichen Wunsch, sie von ihrem Herzenskummer zu befreien. Im Lauf der Wochen wurde ihre Leidensmiene immer öfter von einem sanften Lächeln verdrängt, das sie ihm schenkte. Ein einziges Mal hatte er gewagt, sie schüchtern zu küssen. Doch da war sie so angstvoll zusammengezuckt, daß er sich seither zurückhielt und geduldig abwartete, ob sie seine Gefühle irgendwann erwidern würde.

Das konnte sie nicht, und sie machte sich Vorwürfe, weil sie falsche Hoffnungen weckte. Aber sie wollte nicht auf seine tröstliche Gesellschaft verzichten.

Eines Tages bat er sie, ihn zu heiraten. Zweifellos würde Alex einer Scheidung zustimmen und seine wiedergewonnene Freiheit willkommen heißen. Also erwog sie, Alistairs Antrag anzunehmen. Die kindlichen, romantischen Träume von ewiger Liebe mußten der grausamen Realität weichen. Mit dem Erlös der Juwelen, die sie bei ihrer Ankunft in Nizza verkauft hatte, würde sie den Lebensunterhalt für zwei Kinder und sich selbst nicht mehr lange bestreiten können.

Wenn sie Alistairs Liebe auch nicht erwiderte – sie wäre ihm eine gute Frau. Nach ihrer einseitigen Liebesbeziehung wußte sie, daß solche Ehen funktionierten. Hätte Sasha ihre heiße Liebe mit freundlicher Zuneigung belohnt, wäre sie bei ihm geblieben. Aber sie hatte seine kühle Gleichgültigkeit nicht ertragen. Wenn sie Alistairs Heiratsantrag annahm, würde sie niemals vergessen, wie gütig er ihr in dieser schweren Zeit beigestanden hatte.