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Zena und ihr Führer verbrachten die erste Nacht im Kellergeschoß eines Steinhauses, das zu einer Karawanserei gehörte. »Hier sind im letzten Januar zehn Männer erfroren«, berichtete Ma’amed.

Am nächsten Morgen setzten sie die Reise fort, noch ehe die Sonne aufging. Auf ihren robusten Bergponys, die mit den felsigen Wegen vertraut waren, kamen sie gut voran. In einer schmalen Schlucht, die sie am Nachmittag erreichten, mußte Zena hinter dem Lesgier reiten.

Plötzlich zerrissen Schüsse die Stille der abgeschiedenen Gebirgswelt. In den Hals getroffen, bäumte sich Ma’ameds Pony auf. Eine zweite Salve krachte, und der Führer glitt langsam aus dem Sattel. Reglos blieb er am Boden liegen. Auf seiner Brust breitete sich ein roter Fleck aus.

Zena schrie entsetzt auf und starrte die unnatürlich verkrümmte Gestalt an. Dann wendete sie ihr kleines Pferd, um vor den unbekannten Angreifern zu fliehen.

Zum Glück war ihr Pony nicht verletzt worden. In atemberaubendem Tempo raste es durch die Schlucht, von Schüssel verfolgt. Pfeifende Geschosse sausten an Zena vorbei, und sie beugte sich tief über den Pferdehals. Nur ein einziges Mal wagte sie über die Schulter zu spähen.

Beim Anblick der vier Männer, die hinter ihr hersprengten und ihre Gewehre und Schaschkas (Kavalleriesäbel) schwangen, erschauerte sie.

Mühelos holten sie den Flüchtling auf ihren schnellen schönen Kabardinerpferden ein.

Der Kopf eines großen Braunen tauchte neben Zena auf, der Reiter erhob sich in den Steigbügeln, zerrte sie aus dem Sattel, und sie landete in den Armen eines grinsenden Kriegers. Gleichzeitig packte ein anderer das Pony am Zaumzeug, und die galoppierenden Pferde wurden blitzschnell gezügelt. Alle vier Männer begannen triumphierend zu schreien. An die starke Brust des Anführers gepreßt, musterte Zena angstvoll die kantigen, von Pulverrauch geschwärzten Gesichter.

Als der Räuberhauptmann vom Pferd sprang und Zena mit sich riß, stiegen auch seine Leute ab und umringten ihre Beute. Nun wurde sie von einem zum anderen gestoßen. Lachend zerfetzten sie ihre Kleider, bis sie nur noch ihr Hemd, die Unterröcke und die eleganten Glacestiefel trug. Obwohl sie wußte, daß ihr im einsamen Gebirge niemand zu Hilfe eilen würde, schrie sie gellend und versuchte davonzulaufen. Aber ein schmerzhafter Peitschenhieb auf ihre Schultern beendete den Fluchtversuch. Der Banditenführer, der sie geschlagen hatte, lächelte sarkastisch, und seine Grausamkeit verwandelte Zenas Panik in heißen Zorn.

Würdevoll richtete sie sich auf und fauchte: »Iskender-Khan wird euch alle enthaupten! Ich bin seine Enkelin!«

Da ließ der Anführer die Peitsche langsam sinken und starrte Zena ungläubig an. »Sie, eine Giaur-Frau5? Iskender-Khans Enkeltochter?«

»Allerdings, elender Schurke!« In wachsender Empörung dachte sie an ihren tödlich verwundeten Führer.

Abrupt kehrte er ihr den Rücken und beriet sich flüsternd mit den drei anderen. Sie nickten und schauten mehrmals zu Zena herüber.

Nach ein paar Minuten warf der Räuberhauptmann eine große Burka über ihren spärlich bekleideten Körper und erklärte tonlos: »Wir reiten nach Mingrelien. Dort wird uns Iskender-Khans Rache wohl kaum erreichen.«

Während der nächsten Tage durchquerten sie eine fast unpassierbare Wildnis und wichen den üblichen Reiserouten aus. Auf steilen Hängen mußten sie oft absteigen, um die Pferde zu schonen.

Getrieben von ihrer Angst vor Iskender-Khans Rache, rasteten sie nur selten. Immer wieder versperrte dichtes Gestrüpp ihren Weg, das sie mit ihren Schaschkas zerhackten. Mehrere Flüsse erschwerten die alptraumhafte Reise noch zusätzlich. Manchmal konnten sie durch seichtes Wasser waten, oder sie schwammen neben ihren Pferden durch reißende, eisige Fluten. Immer wieder balancierten sie auf Baumstämmen über tiefe Schluchten hinweg.

Bald hingen Zenas Hemd und die Unterröcke nur noch in Fetzen an ihrem Körper. Ihre Haut war von Dornen zerkratzt, von glühenden Sonnenstrahlen verbrannt, mit Frostbeulen übersät. Auf hohen Bergpässen stapften sie durch knietiefen Schnee. Die schwere Burka schützte sie nur unzulänglich vor den Elementen.

Wenn sie kurzfristig Rast machten, stärkten sie sich mit getrocknetem Fleisch oder Kumeli, einer Mischung aus Hirse und Wasser. Gelegentlich ergänzten sie die frugalen Mahlzeiten mit Lorbeerblättern, denen sie besondere Kräfte zuschrieben.

Die Banditen rührten Zena nicht mehr an. Zu groß war die Angst vor Iskender-Khans Rache, die sie überall ereilen mochte, trotz der hastigen Flucht.

Im Lauf der qualvollen Reise ins Unbekannte, die Zena mit jeder Meile weiter von ihrem Großvater entfernte, fühlte sie sich immer schwächer. Sie konnte Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden, und es war ihr egal, ob sie leben oder sterben würde.

Eines Morgens empfand der Anführer Mitleid mit seiner erschöpften Gefangenen. Lächelnd bot er ihr eine Handvoll Aprikosen und einen Apfel an. »Ich weiß, die Giaurs sind es gewöhnt, jeden Tag zu essen.«

Nach den Gesetzen der gebirgigen Wildnis waren die Banditen keine Verbrecher. In diesem Land mußte ein Mann entweder die Rolle eines Kriegers oder eines Räubers übernehmen. Die Abreks bildeten eine ehrbare Kaste im Kaukasus, voller Stolz auf ihre Lebensweise, und sie haßten jede Form von Autorität. Um so höher schätzten sie Gefahren aller Art, liebten den Kampf, mordeten und stahlen, um ihre Ehefrauen oder Geliebten zu beschenken.

Auch der Sklavenhandel wurde nach den Traditionen ihrer Gesetze akzeptiert. In dieser Hinsicht kannten die Banditen keine Skrupel. Sie fürchteten nur, der mächtige Iskender-Khan würde sie als die Entführer seiner Enkelin entlarven.

Eines Abends, bei Einbruch der Dunkelheit, stiegen sie nach Suram hinab. Seit vier Tagen waren sie unterwegs, und in der geschwächten, leichenblassen Gefangenen war die elegant gekleidete junge Baroneß, die Gumuk vor einer knappen Woche verlassen hatte, kaum noch zu erkennen.

Langsam ritten sie durch die Dorfstraßen zu einem massiven, eisenbeschlagenen Tor, das knarrend aufschwang. Zenas Pony wurde in einen großen, von hohen Mauern umgebenen Hof geführt. An drei Seiten zogen sich hölzerne Galerien entlang, durch deren Schatten verschleierte, mit weiten Hosen bekleidete Frauen huschten. Fackeln flackerten und spiegelten sich rötlich in den silbernen Pistolen und Schaschkas der Banditen.

Kurz nach ihrer Ankunft kam ihnen ein hochgewachsener Mann in einem langen weißen Mantel entgegen. Ein dichter grauer Bart verdeckte die untere Hälfte seines Gesichts. Aufmerksam schaute er Zena an. »Khazi, ihr habt das arme Mädchen mißhandelt«, tadelte er den Anführer.

»Wir mußten uns beeilen«, lautete die knappe Antwort.

»Natürlich, das verstehe ich. Eine solche Beute ist sehr begehrt. Keine Bange, die Kratzwunden und blauen Flecken werden heilen. Eine exquisite Schönheit … Doch das dürfte ich nicht betonen, denn es wird den Preis hochtreiben.« Der alte Mann lachte leise. »Wie auch immer, ein so bezauberndes Mädchen läßt sich leicht verkaufen. Bleibt ihr über Nacht hier?«

»Nein.«

»Gut. Sag mir, wieviel du verlangst. Ich werde deine Forderung Erfüllen. Begleite mich ins Haus, und ich hole das Geld.«

Als der Anführer abstieg, schnippte der weißgekleidete Mann mit den Fingern, und zwei Diener erschienen. »Tragt die Frau nach oben, badet sie und bringt ihr eine nahrhafte Mahlzeit.«

Wenig später verließen die Banditen den Hof, die Satteltaschen voller Gold.

Zena wurde in ein verschwenderisch ausgestattetes, mit kostbaren Wandteppichen geschmücktes Zimmer gebracht und auf Seidenkissen gelegt. Noch wußte sie nicht, daß sie sich im Haus Mulloh Shouaibs befand, des berühmtesten Sklavenhändlers von Mingrelien.