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Sein Lächeln verwirrte Zena, vor allem, weil er ihr viel zu tief in die Augen schaute. Hastig wandte sie sich ab und spürte, wie heiße Röte ihre Wangen färbte. Im Umgang mit Frauen überaus erfahren, wußte er, was in ihr vorging – sie begehrte ihn genauso leidenschaftlich wie er sie.
Während des restlichen Nachmittags wich sie seinem Blick aus. Als er eine Schlittenfahrt vorschlug, um Bobby zu amüsieren, stimmte sie bereitwillig zu und hoffte, dieses Erlebnis würde sie von den beunruhigenden Gedanken ablenken. Es war einfach unmöglich, die sinnliche Anziehungskraft des Prinzen zu ignorieren. In der kalten Winterluft, angesichts der schönen Landschaft, würde sie dem unseligen Zauber vielleicht entrinnen. »Oh, eine wunderbare Idee!« rief sie etwas zu eifrig und sprang vom Teppich auf.
Vermutlich fürchtet sie ihre eigenen Gefühle, nachdem sie sich in jener Nacht so hemmungslos hingegeben hat, dachte er belustigt. Diese Angst werde ich ihr schon noch austreiben …
Wenig später saßen sie zu dritt im Schlitten. Ivan fuhr zu dem Dorf, das Zena am Vortag vom Hügel aus gesehen hatte, und hielt auf dem kleinen Platz zwischen den Hütten. Bald wurden sie von fröhlichen Leuten umringt. Prinz Alexander war bei den Bauern offensichtlich genauso beliebt wie bei seinen Hausangestellten. Für jeden fand er ein freundliches Wort, sprach alle mit ihren Namen an und erkundigte sich, was in den beiden Monaten seit seinem letzten Besuch geschehen war. Bobby hörte aufmerksam zu und beobachtete die Kinder, die sich neugierig an den Schlitten drängten.
»Jetzt bleibe ich eine Weile in Podolsk«, versicherte Alex den Dorfbewohnern. »Und nun wollen wir weiterfahren, bevor sich die baryshna (junge Dame) und das Kind erkälten.« Lächelnd winkte er den Leuten zu, die der Troika Platz machten, und Ivan steuerte das Gespann in einen stillen, dunklen Kiefernwald.
»Die Bauern scheinen dich zu mögen«, bemerkte Zena, während sie durch abendliche Schatten fuhren.
»Auf diesem Landgut verbrachte ich den Großteil meiner Kindheit. Meine Eltern schenkten mir Podolsk zu meinem sechzehnten Geburtstag. Seither komme ich jedes Jahr für mehrere Wochen hierher und genieße den idyllischen Frieden.« Er schaute Bobby an und lachte amüsiert. »Sieh doch, auch dein Bruder weiß diese Ruhe zu schätzen – er ist beinahe eingeschlafen.«
»Wie immer, wenn er in einem Schlitten oder einer Kutsche fährt. Er ist ja fast noch ein Baby – und dieser menschenleere, verschneite Wald wirkt tatsächlich besänftigend.«
»Übrigens, vor unserer Abfahrt habe ich Trevor angewiesen, die Sauna zu heizen. Dort saß ich oft stundenlang, wenn ich in meiner Kindheit erkältet war, und ich genas jedesmal. Wenn du mit Bobby hineingehst, bevor du ihn zu Bett bringst, wird er in der Nacht sicher nicht husten.«
»Vielen Dank, du bist sehr freundlich.« Nicht zum erstenmal staunte sie über seine Sorge um den kleinen Jungen.
Als wollte er ihre unausgesprochene Frage beantworten, erklärte er: »Da ich jüngere Geschwister habe, bin ich an den Umgang mit Kindern gewöhnt. Du hast nur einen Bruder, der noch dazu viel jünger ist. Warst du nicht einsam?«
»Nein, meine Eltern haben sich stets sehr liebevoll um mich gekümmert. Lach nicht – Papa nannte uns die drei Musketiere. Ich durfte eine sehr glückliche Kindheit erleben.«
»Die drei Musketiere? O nein!«
»Doch. Papa war ein unverbesserlicher Romantiker.
Und er verliebte sich auf höchst unkonventionelle Weise in meine Mutter. Während einer Reise in die Berge, wo er die finno-ugrischen Stämme erforschte, lernte er sie kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick, und er trug sie einfach davon.«
»Was?« rief der Prinz skeptisch. »Er trug sie davon?«
»Nach den Traditionen der Bergstämme ist das durchaus akzeptabel. Man erobert die Braut, muß sie aber ihrer Familie abkaufen. Und so wurde maman ordnungsgemäß bezahlt. Meine Eltern führten eine wunderbare Ehe. Weil sie einander genügten, hatten sie kaum Freunde. Deshalb brach Papa wahrscheinlich zusammen, als maman bei Bobbys Geburt starb. Ohne sie konnte er nicht leben. Er begann zu trinken und gab sich die Schuld an ihrer Schwangerschaft, die ein so schreckliches Ende gefunden hatte.« Von schmerzlichen Erinnerungen überwältigt, kämpfte sie mit den Tränen.
Alex sah ihre bebenden Lippen und nahm sie in die Arme. »Weine nur, dushka. Dann wirst du dich besser fühlen.« Als er das unglückliche Mädchen an seine Brust drückte, erwachten seltsame Beschützerinstinkte. Vielleicht sollte er sich anständig verhalten und Zena zu ihrem Großvater in die Berge schicken. Während der letzten Jahre hatte sie so viel gelitten. Aber ihre reizvolle Nähe verscheuchte die moralischen Anwandlungen. Zum Teufel, er war kein väterlicher Beschützer!
Die tröstlichen Worte des Prinzen und seine starken Arme befreiten sie von ihren Hemmungen, und sie ließ ihre Tränen fließen, die sein Jackett benetzten. Nach einigen Minuten verstummte ihr Schluchzen.
Sie richtete sich auf, nahm sein Taschentuch entgegen und wischte ihre Wangen ab.
»Geht’s dir jetzt besser?« fragte er. »In meiner Kindheit habe ich ungeniert geweint, wenn mir danach zumute war, und das hat mir immer geholfen.«
Dankbar lächelte sie ihn an. »Du bist so lieb und gut«, wisperte sie.
»Mein Täubchen, ich glaube, du brauchst jemanden, der für dich sorgt.« Erschrocken runzelte sie die Stirn. »Reg dich nicht auf«, bat er, »das war nur so ein Gedanke. Ich habe mir überlegt, welch große Verantwortung du in den letzten Jahren tragen mußtest.«
»Ja, das stimmt … Jetzt fühle ich mich wirklich erleichtert, nachdem ich mich mal so richtig ausgeweint habe. Verzeih mir. Normalerweise neige ich nicht zu emotionalen Ausbrüchen. Kümmere dich nicht um meine Probleme – ich bin es gewohnt, Verantwortung zu übernehmen, und ich werde mich schon zurechtfinden. Sobald Bobby ganz gesund ist, treten wir die Reise in die Berge an, zu unserem Großvater.« Erst jetzt merkte sie, daß Alex sie noch immer in den Armen hielt, und rückte verlegen von ihm. Taktvoll ließ er sie los.
In gewisser Weise ist sie immer noch ein Kind, überlegte er, und sie betrachtet die Welt mit einer Naivität, die darauf hinweist, wie behütet sie aufwuchs. Andererseits wurde sie schon in jungen Jahren gezwungen, schwierige Pflichten zu erfüllen, ein Baby und einen verzweifelten Vater zu betreuen. Vielleicht bildest du dir ein, du würdest zurechtkommen, meine Süße, dachte Alex. Aber unglücklicherweise gibt es zahlreiche Schurken, die nur darauf warten, eine so bezaubernde Unschuld auszunutzen … In seiner Obhut würde sie ein angenehmeres Schicksal erleben. Ihre Verletzlichkeit vermochte sogar seine zynische Seele zu rühren. Besser ich als irgendein anderer, sagte er sich. »Natürlich, meine Liebe, was immer du willst«, stimmte er zu und freute auf seine Beschützerrolle. Behutsam würde er sie ins Reich der Liebe einführen und allen ihren Launen nachgeben. Ihre mädchenhafte Tugend und Unerfahrenheit würden eine erfrischende Abwechslung in seinen dekadenten Lebenswandel bringen. »Womit hat dich deine Kinderfrau gefüttert, wenn du traurig warst? Was mochtest du am liebsten? Heiße Schokolade und Toast? Reispudding mit Zimt? Erdbeertorte mit Sahne? Du brauchst deine Wünsche nur zu äußern, und Valentina wird alles für dich zubereiten. Wenn man in melancholische Stimmung gerät, sollte man sich nicht allzu tief darin vergraben. Wahrscheinlich möchte Bobby wieder einmal schwarzen Kuchen essen. Nach der Mahlzeit bringst du ihn in die Sauna, und sein Zustand wird sich bis morgen früh erheblich bessern. Gleich sind wir daheim.«
Er legte wieder einen Arm um Zenas Schultern, und sie wehrte sich nicht. Triumphierend atmete er auf. »Ist dir warm genug?«
»O ja«, seufzte sie zufrieden. »Heiße Blaubeertörtchen – mit viel Butter …«
»Und dazu Schokoladekuchen – ein Abendessen, das für jeden Gourmet ein Alptraum wäre …« Fröhlich stimmte sie in sein Gelächter ein und vergaß ihren Kummer. »Glücklicherweise sind meine Köchin und mein patissier sehr gutmütig. Beeil dich, Ivan! Wir sind hungrig!«
Entspannt genoß sie die zärtliche Umarmung und dachte: Er ist wie ein Freund, eine Mutter, ein Vater – und ein Liebhaber, alles auf einmal. Wie soll ich seinem Charme widerstehen?
Gleichzeitig überlegte Alex: Ich muß einfach nur ein Freund, eine Mutter, ein Vater und ein sanfter Liebhaber sein. Zuversichtlich vertraute er seiner Anziehungskraft. Noch in dieser Nacht würde Zena ihm gehören.
Um sein Ziel zu erreichen, würde er keine Mühe scheuen. Der Preis war verlockend nahe. Ein erotisches Abenteuer in der Sauna zählte zu seinen bevorzugten Liebesfreuden.