Immer enger zog sich der Ring um die verbliebenen Soldaten und Offiziere des Varus. Nur noch ein Wagen brannte lichterloh und beleuchtete das Schlachtfeld. Aus den Augenwinkeln beobachtete Arminius im Vorübergehen einen römischen Offizier, der in schwere Ketten gelegt war und sich nun mit den Eisengliedern den Kopf einschlug. Er bemerkte, dass einige Spritzer Gehirnmasse seinen linken Unterarm trafen. Ein Pferd, in dem Speere steckten wie Stacheln in einem Igel, jagte im Todeskampf an ihm vorbei. Arminius schaute ihm traurig nach, sah, wie es zusammenbrach und die Beine das Leben von sich strampelten. Sein herzzerreißendes Wiehern gellte noch in seinen Ohren nach, als das Tier längst ausgekämpft hatte. Zwei Germanen warfen einen Römer, der noch lebte, ins Feuer. Arminius lächelte schief, schüttelte nur den Kopf und ging wie benommen weiter, wie in Trance führte er das Schwert. Es kam ihm wie ein Traum vor, der nicht enden wollte, dass er im Vorwärtsschreiten Feinde, die sich ihm entgegenstellten, erschlug oder erstach. Aber es war so, als wäre es nicht er, der tötete. Es war, als hätte der Tod seine Gestalt angenommen, um abzurechnen und Rache zu nehmen.
Er brauchte eine Weile, ehe er verstand, was er dann sah: Ein großer, halb nackter Mann, ein germanischer Krieger, fiel über ein kaum zehnjähriges Mädchen her. Mit der freien linken Hand griff er dem Hünen in den Haarknoten der Sueben und zerrte ihn von dem Mädchen weg. Der Mann drehte sich um und erschrak, als er den König vor sich sah.
»Was habe ich gesagt? Kühlt euren Mut an den Legionären. Die Frauen und Kinder lasst in Ruhe!«, fuhr Arminius den Sueben an.
Aus allen möglichen Ecken kamen acht germanische Krieger, angelockt durch die Auseinandersetzung, herbeigelaufen.
»Das kleine Ding da ist meine Beute!«, knurrte der Hüne zornig.
Arminius Augen funkelten. »Du willst sie zur Beute, ja?«
»Sie gehört mir. Das ist mein Recht!«
»Nun gut«, sagte der König. Dann holte er aus und spaltete seinem Krieger den Kopf. Schwer sackte der Körper entseelt zu Boden. Die anderen Germanen starrten auf den Leichnam, doch Arminius hatte dafür nur einen kalten Blick übrig. »Dann nimm dir deine Beute.«
Langsam ging er zu dem völlig verängstigten Mädchen, das nur aus schwarzen Haaren und Tränen zu bestehen schien, und sprach sie auf Latein an. »Hab keine Angst, hab keine Angst.« Behutsam wischte er dem Mädchen die Tränen ab. Dann winkte er einen der acht Männer zu sich. »Wie heißt du?«
»Wolfgart, König.«
Arminius sah ihm tief in die blauen Augen. »Gut, Wolfgart, du nimmst die sieben Männer hier, ihr sammelt die Frauen und Kinder ein und beschützt sie. Du haftest mit persönlich für sie, mit deinem Leben. Hast du mich verstanden? Wer sich dir widersetzt, den erschlägst du, ganz gleich, wer es ist. Und wäre es dein eigener Bruder. Hast du mich verstanden?«
Der kräftige Mann erbleichte und stotterte etwas, das nach Zustimmung klang.
»Ich habe nichts verstanden.«
»Bei meinem Leben führe ich deinen Befehl aus, König!«
»Geh zu Wolfgart«, sagte Arminius zu dem Mädchen. »Es wird dir nichts geschehen.« Danach blickte er noch einmal traurig zu dem Sueben, den er erschlagen hatte, bevor er sich wieder in den Kampf stürzte.
Der Morgen schickte ein pastellfarbenes Rosa über den durchgehend grauen Himmel. Ein Blick zum Firmament erinnerte Arminius daran, dass die Griechen die Morgenröte auch Eos nannten, die Rosenfingrige. Die frechsten der Raben waren den Kämpfenden fast auf den Fersen und warteten ungeduldig auf ihre Beute. Und die kleinen Füchse wagten sich auch schon aus dem Dickicht hervor.
Rechts und links von ihm schlossen immer mehr Germanen auf. Sie bildeten erst eine, dann zwei, inzwischen fünf Linien, die sich kämpfend immer enger um die Römer zogen. Nur noch dreißig Legionäre, unter ihnen Varus und Velleius, standen vor ihnen. Arminius hob das Schwert. »Halt!« Die Linie stand. »Gebt auf. Es hat keinen Sinn mehr. Es ist aus.«
Varus trat vor. Er hatte Tränen in den Augen. Dann umfasste der Statthalter mit beiden Händen den Griff seines Schwertes, richtete es gegen sich und stürzte sich in die scharfe Klinge. Er war sofort tot. Jubel brach unter den Germanen aus.
»Befiehl deinen Männern, die Waffen fallen zu lassen«, sagte Arminius zu Velleius. »Keine Angst, wir werden euch nicht töten, obwohl ihr es verdient habt. Wir brauchen euch noch. Ihr müsst die Frauen und Kinder an den Rhenus zurückbringen.«
Velleius riss vor Staunen die Augen auf. »Leben sie denn noch?«
»Wir sind doch keine Römer! Wir haben versucht, das unschuldige Leben zu schützen. Bring sie wieder dorthin zurück, von wo sie hergekommen sind, Velleius. Ihr habt hier nichts mehr verloren!«
»Warum, Arminius? Warum nur?«
»Nie werden die Germanen euch verzeihen, dass sie zwischen Rhenus und Albis so viele Römer gesehen haben, dass sie Steuern zu zahlen hatten und in ihrem eigenen Land geknechtet wurden.«
»Ich habe dich für einen von uns gehalten, aber du bist und bleibst ein Barbar!«
»Nenne mich, wie du willst. Aber ich bin der König der germanischen Krieger und Fürst der Cherusker. Und das würde ich nicht einmal gegen die römische Bürgerkrone des Augustus eintauschen.« Er blickte nun zu dem Leichnam des Varus und hieb dem am Boden liegenden Toten den Kopf ab. Dann packte er den Schädel bei den Haaren und riss ihn hoch. Wie groß aber war sein Erstaunen, als der kahle Schädel herunterfiel und er nur ein Bündel Locken in der Hand hielt. Befremdet schaute er erst auf die Perücke und dann auf die Glatze des Statthalters. »Nicht einmal deine Haarpracht war echt.« Er ließ die Perücke angeekelt fallen. Danach bückte er sich, hob den Schädel auf, befahl einen Semnonen zu sich und warf ihm den Kopf zu. »Bring den Schädel zu Marbod!«
»Ich?«
»Ja, und richte ihm von mir aus, dass er mit mir verhandeln kann oder Gefahr läuft, auch seinen Kopf zu verlieren. Wie Varus! Ich will, dass er die Rugier, die Langobarden und die Semnonen nicht mehr bedrängt.«
Der beginnende Tag fand die Krieger der Germanen beim Plündern der Trosswagen und der Leichen und die Priester beim Opfern der Verletzten auf eilends errichteten Altären.
Wenige Tage später hielten die germanischen Stämme ein Thing ab. Gana führte den Vorsitz. Sie lobte Arminius und beschwor die Stämme, weiterhin auf den König der Krieger zu hören, denn der Krieg sei noch nicht vorbei.
Arminius erhob sich. Er schaute sich in der Runde um. Fürsten, die ihn liebten, Fürsten, die ihn hassten, einige, die ihm vertrauten, anderen, die ihm misstrauten, denen er unheimlich war oder die sich einfach nur abwartend und gleichgültig verhielten, saßen hier beieinander. »Freunde, Germanen«, begann er, »wir haben der Hydra die Köpfe abgeschlagen, nun aber müssen wir die Stümpfe ausbrennen, damit ihr keine neuen Köpfe nachwachsen können!«
Die Männer schauten ihn verwundert an. Ein Fürst der Usipeter sprang auf. Der grauhaarige Mann schüttelte seinen Kopf. Offensichtlich fand er sich in Arminius’ Worten nicht zurecht. »Wovon redest du, König? Ich hab mit dir gegen die Römer gekämpft, aber von einer Uda, der ich den Kopf abgeschlagen haben soll, weiß ich nichts.«
Einige wenige lachten, die meisten aber schauten ihn nicht weniger verständnislos an als der alte Fürst.
Arminius lächelte. »Das war nur ein Bild für die Römer. Die Hydra ist ein Ungeheuer mit neun Köpfen, die immer wieder nachwachsen, wie die Kraft der Römer nachwächst.«
»Ach, Arminius, du denkst wie die Römer, du sprichst wie die Römer, und dann versteh ich dich nicht. Sag in unserer Sprache, was du willst, gerade heraus, ohne Schnörkel.«
»Gut! Wir haben die Schlacht gewonnen, aber noch nicht den Krieg!«
Ein Raunen ging durch die Reihen.
»Was wird geschehen?«, fragte Gana.
»Das kommt darauf an, wer der neue Oberbefehlshaber der Rhenus-Armee wird. Wird es Tiberius, dann setzen sie schlau und geduldig ihre Schritte, wird es aber Germanicus, wird der eher heute als morgen mit einem eilig aufgestellten Heer in Germanien einfallen.«
»Was rätst du?«
»Sich keiner neuen Schlacht zu stellen!«, erwiderte Arminius. Er blickte in leere Gesichter, nun verstand ihn niemand mehr. »Wir bluten sie aus. Wir errichten in den Wäldern versteckte Weiden und Speicher. Wenn sie mit ihren Legionen anmarschieren, verlassen wir die Gehöfte und ziehen uns in den Wald zurück. Sind sie weg, kehren wir wieder zurück, haben sie das Gehöft verbrannt, helfen alle Nachbarn, den Hof sofort wieder aufzubauen.«
»Wie lange können wir das durchhalten?«
»Länger als die Römer! Jeder Tag Krieg frisst ein gewaltiges Loch in die Schatulle des Princeps. Die Truppen werden unzufrieden, weil sie weder kämpfen, noch Beute machen, sondern sich nur den Wolf laufen. Für nichts und wieder nichts. Wo es aber günstig ist, greifen wir sie an und piesacken sie wie ein Mückenschwarm. Wenn wir das zwei bis drei Jahre durchhalten, bricht der Krieg gegen uns aus Entkräftung zusammen.«
»Klug gesprochen!«, sagte Gana.
»Klug gesprochen!«, bestätigten die anderen. Und wie es Brauch war beim Thing, fragte Gana, ob noch jemand eine Klage vorzubringen habe.
Ein Fürst mit Suebenknoten erhob sich. »Ich.«
»Sprich, Grendel!«, erteilte ihm Gana das Wort.
»Warum, Arminius, hast du meinen Bruder erschlagen und ihn um seine Beute betrogen?«
»Hatte ich nicht befohlen, die Frauen und Kinder zu verschonen? Hat er sich meinem Befehl widersetzt oder nicht?«
»Kämpfen wir etwa dafür, dass jetzt du statt der Römer uns Befehle erteilst?«
»War ich in der Schlacht dein Gefolgsherr?«
»Ja.«
»War ich in der Schlacht auch der Gefolgsherr deines Bruders?«
»Ja.«
»Dann hatte Arminius das Recht dazu«, entschied Gana. »Und wenn dein Bruder Radgart dem zuwidergehandelt hat, dann ist er zu Recht gestorben, auch wenn wir alle seinen Tod bedauern.«
Die Fürsten nickten zustimmend, und Grendel verließ wütend das Thing. Nachdenklich sah ihn Arminius nach, doch dann riss ihn der Jubel der anderen Gefolgsherren aus seinen Gedanken.
Währenddessen war auch die Nachricht des Sieges im Rugierland eingetroffen. Keine Stunde länger hielt es Elda bei ihren Gastgebern. Mit Lenia und Ansar brach sie zum Hof ihres Mannes auf, der nun auch der ihrige werden sollte. Die Flüchtlinge hatten den Hof größer und schöner als je zuvor wieder aufgebaut und mit einer Wehrmauer umgeben. Wenige Stunden vor Arminius traf sie in ihrem neuen Zuhause ein und schaute sich seitdem fast die Augen wund, denn sie konnte das Wiedersehen nach überstandener Schlacht kaum erwarten. Jetzt endlich konnte ihr Familienleben beginnen, ohne Krieg und Verschwörung, so hoffte sie innig, als sie die kleine Burg in Besitz nahm.
Vom Thing, das ihn zum Kriegskönig der Germanen gewählt hatte, zu dem Mann also, der in Zeiten des Kampfes zu befehlen hatte, ritt er ungeachtet seiner Erschöpfung zum Gehöft seiner Eltern. Nur eine, dafür schwerwiegende Niederlage hatte er in der Ratsversammlung hinnehmen müssen. Da sich Segestes reumütig gezeigt hatte, verbot das Thing Arminius, seinen Schwiegervater zu bestrafen. Insgeheim befürchteten die anderen Gefolgsherren, dass Arminius, wenn er sich an einem Fürsten vergreifen durfte, nichts daran hindern würde, es eines Tages auch bei anderen zu wagen. Nur notgedrungen hatten sie die Tötung Radgarts für Recht erklärt. Es war diese Angst und vor allem das nagende Unbehagen angesichts der Macht, die einem einzelnen Fürsten, nämlich Arminius, zuwuchs, die Segestes schützte.
Von Weitem schon sah er den Wall und die darüber hinausragenden Häuser inmitten der Stoppeläcker und des in herbstlichen Farben leuchtenden Waldes stehen. Ob Elda schon da war? Die Sehnsucht nach seiner Familie trieb ihn vorwärts.
Aber mit ihm, das wusste er leider nur zu gut, würden nicht nur Jubel, sondern auch Sorgen und Trauer einziehen, denn die Söhne, Brüder und Ehemänner der Menschen, die hier lebten, folgten ihm etwas langsamer nach, auf dem Pferd sitzend oder als Verletzte oder Gefallene auf der Bahre liegend, die ein Ross hinter sich herzog. Der ewige Zug der geschlagenen Schlachten, der aus Überlebenden und Toten bestand. Doch verwundet waren sie alle, die mit dem Leben davonkamen – manche am Leib, alle aber an der Seele. Die Schlacht entließ keinen Mann so, wie er vorher gewesen war. Doch wer wollte es dem heimkehrenden König verdenken, dass er in diesem Augenblick einzig und allein getrieben wurde von der Freude, Frau und Kind endlich in seine Arme schließen zu dürfen?
Die mächtigen Tore öffneten sich weit wie zwei Arme, die ihn willkommen hießen. Arminius trieb sein Pferd an. Mitten auf dem Hof riss er am Zügel und sprang vom Rücken des laut wiehernden Rosses ab. Dann sah er sie, seine wunderschöne Frau mit dem Kind auf dem Arm, seiner Tochter, dem Anfang und dem Ende der Welt. Frauen und Kinder, Greise und Greisinnen umringten sie nun. Er blickte sich um, sah in ihre Gesichter, die Hoffnung, dass ihre Söhne, Männer und Väter auch bald zurückkehrten und sie alle die Freude der Heimkehr nicht nur miterleben, sondern am eigenen Leibe auch erfahren durften. Und in dem kurzen Moment, bevor er seine Frau küssen und seine kleine Tochter auf den Arm nehmen würde, wusste er, dass die Schuld am Tod der Gefallenen, die er auf sich geladen hatte, niemals vergehen würde. Doch dann spürte er die weichen Lippen seiner Frau, sah nach dem Kuss in die großen Augen seiner Tochter, und ihr Blick leuchtete ihm ins Herz und stimmte ihn mild und friedlich.
Ansar trat zu ihm und fragte nach Heban. Arminius wich seinem Blick kurz aus, dann erzählte er ihm, dass der junge Semnone als Held gestorben war.
Und wie er es bereits geahnt hatte, sah der Abend Feiernde, einige verhalten, weil sie schwere Wunden zu versorgen hatten, und Trauernde. Letztere machten ihm den Tod ihrer Männer, Brüder und Väter nicht zum Vorwurf, den machte er sich nur selbst, denn der Feldherr durfte der Frage nicht ausweichen, ob er nicht eine List übersehen hatte, die Leben erspart hätte.
In der Nacht aber, als sich endlich Ruhe auf die kleine Burg des Fürsten gesenkt hatte, nahm er Elda behutsam in den Arm, um seine Tochter nicht zu wecken, und liebte seine Frau zärtlich und sanft. Und plötzlich erinnerte er sich wieder, was ihm gefehlt hatte, begriff er, was für ein Vieh er doch die letzten Wochen über gewesen war.
Velleius Paterculus brachte die Frauen und Kinder sicher an den Rhenus zurück. Zum ersten Mal erfuhren seine gereizten Nerven, die dem Zusammenbruch nahe gewesen waren, eine gewisse Beruhigung, als er in der Stadt der Ubier feststellte, dass Lucius Asprenas die Truppen aus Mogontiacum an den Rhenus geführt und mit dieser Machtdemonstration die links des Flusses siedelnden Germanen wirksam vor Erhebungen jedweder Art gewarnt hatte. Auch war er klug genug gewesen, sich nicht verleiten zu lassen, den Rhenus zu überschreiten und sich in den Kampf zu stürzen. So blieb in der ganzen Katastrophe die westliche Germania den Römern erhalten.
Aber was Asprenas und auch Caecus nicht zu begreifen vermochten, war der unfassliche Verrat des Arminius, denn sie hatten den jungen Ritter germanischen Blutes ins Herz geschlossen. Aber wie hätte ihnen das auch gelingen können, wo nicht einmal Velleius, der in die Ereignisse verstrickt und eng mit dem abtrünnigen Germanenführer befreundet war, sich diese Niedertracht erklären konnte?
Drei Pferde ritt Velleius Paterculus zuschanden, um die Nachricht nach Rom zu bringen. In Wahrheit aber trieb ihn nicht das Verlangen, Augustus Meldung über die Katastrophe zu erstatten, sondern er floh, wollte nur Zeit und räumliche Entfernung zwischen sich und den Untergang der Legionen bringen. Sein Ritt glich der Flucht aus der Wirklichkeit, die er nicht mehr verstand. Eines Tages, so nahm er sich fest vor, würde er darüber schreiben und der Nachwelt berichten, was im Teutoburger Wald geschehen war und wie es dazu kommen konnte. Und der Held der Geschichte würde, das stand fest, nicht Arminius sein. Auch nicht Varus. Unbemerkt schob er dem unglücklichen Mann, der sich in sein eigenes Schwert gestürzt hatte, die ganze Verantwortung auch für sein eigenes Versagen zu. Ja, so war es, Varus trug an allem Schuld, Varus hatte die Germanen zu hart bedrängt, und dann fanden diese widerspenstigen und gereizten Leute noch einen Führer in einem verräterischen und ehrgeizigen römischen Offizier. Ach, Barbaren würden immer Barbaren bleiben und nie Römer werden, man kannte sich nicht aus mit ihnen, nicht mit den fremden Regungen ihres Herzens. Aber wer würde der Held seiner Geschichte werden, fragte sich Velleius, als er über die Alpen nach Hause preschte. Wer? Augustus, Germanicus oder Tiberius? Seltsam, aber als die Türme und Kuppeln von Rom vor ihm auftauchten und er sich erinnerte, wie die Stadt in der Nachmittagsgeschäftigkeit pulsierte, hatte er plötzlich eine Vision, die besagte, dass Augustus längst Geschichte war. Tiberius würde sein Held sein! Nicht der eitle Germanicus, nein, der erfahrene, der kluge Staatsmann und Feldherr, der ihn schon als Knabe dadurch geehrt hatte, dass er ihn in die Liebe einführte.
Der Kaiser, Germanicus und Tiberius befanden sich im Speisezimmer und hielten eine cena ab, wie es dem Geschmack des Augustus entsprach, eher schlicht mit ein paar Vorspeisen und einer gegarten Ente in Honigsauce als Hauptgang. Dazu etwas rätischen Wein, fruchtig, wie ihn Tiberius liebte. An den Wänden des Gartenhauses, das als eines der Speisezimmer im Häuserkomplex des Augustus auf dem Palatin diente, standen Becken mit glühenden Holzkohlen, denn der Oktober des Jahres 9 hatte in Rom empfindlich kühl begonnen und kündete von einem langen, für römische Verhältnisse kalten Winter, der möglicherweise sogar Schnee bringen würde. Als der Kaiser sich auf das Speisesofa legte, hatte Tiberius im Stillen spöttisch zur Kenntnis genommen, dass Augustus unter der Toga bereits Wollzeug trug.
»Was meinst du, Tiberius, wollen wir unseren jungen Helden tatsächlich in den Osten schicken?«, fragte Augustus und steckte sich eine Weintraube in den Mund, die er mit der Zunge zerdrückte, um die süßen Spritzer der Frucht auf den Geschmacksknospen in allen Einzelheiten zu genießen. Da riss ihn Lärm, der vom Säulenhof herüberdrang, aus der versonnenen Stimmung. Wie seine beiden Gäste blickte er zum Eingang des Gartenhauses.
Dort erschien ein verschmutzter, seltsam ergraut wirkender Velleius, dem Panik und Übermüdung die Gesichtszüge hässlich vergrößert hatten in Begleitung des Chefs der Leibwache, des Germanen Flavus. Der Legat warf sich dem Princeps zu Füßen.
Dieser war eher peinlich berührt vom Gefühlsüberschwang seines Offiziers als erstaunt über sein plötzliches Erscheinen. »Komm zu dir, mein Sohn, steh auf, und erzähle uns, was du zu berichten hast!«, sagte Augustus.
»Eine Katastrophe habe ich zu melden. Und ich bitte dich, vergelte dem unglücklichen Boten nicht die schreckliche Nachricht, die er dir überbringen muss!«
»Nun rede endlich! Was ist geschehen?« Augustus zog die Schultern hoch, ihm wurde kalt, sehr kalt, denn eigentlich wollte er gar nicht hören, was man ihm gleich berichten würde, es würde ohnehin nur Ungemach bedeuten. Es bedeutete mehr.
»Herr, die Germanen haben Varus überfallen.«
»Ist er tot?«
»Ja, und drei Legionen sind vernichtet. Von der siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Legion lebt kaum ein Soldat mehr.«
»Drei komplette Legionen von den Germanen abgeschlachtet, sagst du, Schuft?« Augustus richtete sich mühsam auf und blieb vornübergebeugt sitzen, denn er spürte den Druck, der auf seinen Schultern lastete, stärker und stärker. Germanicus war aufgesprungen und schaute mit wildem Blick um sich, als wolle er augenblicklich sein Schwert ziehen und die Aufrührer persönlich zerhauen, während Tiberius mit untergeschlagenen Beinen dasaß und den Kopf in den Händen vergrub, um seinen Tränen zu verbergen.
»Ja, Herr, drei Legionen.«
»Wie das? Es sind doch nur Barbaren, die jenseits des Rhenus hausen.«
»Sie haben ihn schlau in einen Hinterhalt gelockt und dann die Arglosen abgeschlachtet. Geführt von einem heimtückischen Offizier germanischen Blutes.« Velleius, der den Kopf gesenkt hielt, während er sprach, weil er niemanden in die Augen zu schauen vermochte, fühlte, wie ihn drei Augenpaare anstarten. Stille trat ein.
»Beim Mars«, schrie Germanicus in tiefster Seele getroffen aus, dennoch hoffend, dass sich sein Verdacht nicht bestätigte, wissend, dass es nicht anders sein konnte und alle Hoffnung vergebens war, »beim Mars, dem Erzbewehrten, lass es nicht Arminius sein!«
»Doch, es war Arminius. Er hat die Germanen angeführt und unsere Leute niedergekämpft. Alle. Ich war dabei, ich habe gesehen, wie er ohne Mitleid und ohne Gnade wie ein Bestie über unsere Leute herfiel.« Flavus wurde kreidebleich und erstarrte. Er wagte kaum zu atmen.
»Nein!«, schrie Germanicus auf und schlug seinen Kopf immer wieder gegen eine Wand des Gartenhauses.
»Drei ganze Legionen hat Varus verloren, sagst du?«, fragte Augustus, der den Verlust immer noch nicht zu fassen vermochte, mit tonloser Stimme. »Drei Legionen? Und niemand hat überlebt? Warum du?«
Diese Frage hatte Velleius befürchtet. Jetzt aber war es auf einmal ganz einfach, darauf zu antworten: »Er hat mich erwählt, um dir die Nachricht zu bringen. Lieber hätte ich das Schicksal meiner Kameraden geteilt, als ehrlos weiterzuleben. Erlaube mir, Princeps, das ich mich in mein Schwert stürze.«
»Unfug!«, fuhr ihn Tiberius unwillig an. »Es gibt jetzt Wichtigeres zu tun, als sich ins Schwert zu stürzen.«
Augustus schüttelte immer noch wie benommen den Kopf. »Drei Legionen.«
Ein Prätorianer betrat den Raum und meldete, dass Boten des Königs Maroboduus diese Kiste, die er von Arminius erhalten habe, dem verehrten Princeps und Bundesgenossen zum Zeichen seiner Treue und Freundschaft sende.
Mit blutender Stirn starrte Germanicus unverwandt auf den kniehohen Würfel. Augustus gab Tiberius einen Wink, der aufstand und die Kiste öffnete. Er verzog keine Miene und trat zur Seite. Nun blickte Augustus hinein. Dumm und dumpf blickten ihn die geöffneten Augen des Statthalters Publius Quinctilius Varus an. Es wirkte wie eine Zaubervorstellung, wo man nur noch den Kopf und ein Stück Hals des Menschen zu sehen bekam, dessen Körper zersägt worden war, um anschließend wieder zusammengesetzt zu werden. Doch etwas war anders, der tiefrote, fast schon hellbraune Rand des Halses wirkte verstörend. Hier konnte nichts mehr zusammengefügt werden.
Plötzlich schraken Tiberius, Germanicus und Velleius zusammen, das Blut gefror in ihren Adern, als Augustus mit der Stimmkraft Hunderttausender Römer brüllte: »Varus! Varus! Gib mir meine Legionen wieder!«
Die Klage durcheilte die Flure der Villa, breitete sich in Windeseile über dem Palatin aus, um dann durch die Straßen und Gassen Roms zu laufen, schnell wie gedungene Mörder, die die tödlichen Worte in jedes Ohr trieben. Jetzt zerriss Augustus in einem Anfall der Raserei, der nicht enden wollte, seine Toga, danach seine Tunika, raufte sich das Haar und brach schließlich zusammen. Flavus wandte sich ab. Nackt auf dem Boden liegend schluchzte der Kaiser nur noch wie ein Kind: »Gib mir, gib mir, gib mir meine Legionen wieder, Varus!«