Der weiche Waldboden federte die Härte des Aufpralls ab, sodass Ergimer mit ein paar blauen Flecken davonkam. Den Schmerz spürte er kaum, denn er blickte geradewegs in die hungrigen Augen des Leitwolfes, der gefährlich knurrte und dabei die Zähne entblößte. Lange und geduldig hatte er auf seine Beute gewartet. Ergimer spürte, dass die klugen Wölfe sich in Position brachten und ihn umzingelten. Gleich würden sie über ihn herfallen. Schon machte der Leitwolf einen Schritt auf ihn zu, da brach er von einem Pfeil getroffen zusammen. Auch andere Wölfe wurden von Geschossen niedergestreckt. Der Knabe schaute sich um und entdeckte seinen Vater, seinen Onkel Ingoumer, einen älteren Cousin und andere Männer aus Segimers Gefolge, die auf ihn zukamen. Träumte oder wachte er?
Erleichterung breitete sich auf Segimers Gesicht aus. »Wie gut, dass wir dich noch rechtzeitig gefunden haben!« Er beugte sich hinunter, um seinen Sohn in die Arme zu schließen.
Doch vor Ergimers Augen erschien in diesem Moment wieder das grauenvolle Bild. Zwischen den entseelten Leibern der Römer sah er den Vater mit seiner Doppelaxt wüten, verschmiert und im Blute watend, der alle noch Lebenden, die sich zur Flucht wandten, geübt und ohne Eile fällte. Voller Entsetzen wich Ergimer vor dem Mann zurück, der dieses Abschlachten angeführt hatte und der doch sein Vater war.
Segimers Augen verdüsterten sich, als er die langen Finger des Wahns gewahrte, die nach seinem kleinen Sohn griffen.
»Ich weiß, du hast es gesehen!«
Ergimer zitterte, heiße Tränen flossen ihm über die Wangen.
»Du hättest es nicht sehen sollen, du bist noch zu jung dafür. Später wirst du es verstehen. Ein freier Mann kann nicht ohne Ehre leben. Es ist ihm nicht möglich. Und der, der wagt, ihn zu entehren, den muss er zu den Totengöttern schicken, wenn er weiter atmen möchte.«
»Aber sie hatten keine Augen …«, stotterte das Kind.
»Sie haben auch vorher nichts wahrgenommen. Wir haben sie Tyr geopfert.«
»Sie hingen an Kreuzen …«
»Das haben uns die Römer gelehrt. So töten sie diejenigen, die sich gegen ihre Anmaßung erheben. Wir haben den von ihnen erfundenen Tod nur gegen sie gerichtet.«
Wie gern wäre Ergimer mit den Wölfen gezogen. Er fühlte panische Angst vor der Rückkehr nach Hause. Segimer wollte seinen Sohn aufheben, doch der brüllte und wehrte sich nach Kräften, als ob sein Vater ihn als Nächsten erschlagen wollte.
»Aber ich bin doch kein Römer«, schrie der Junge verzweifelt.
Ingoumer legte dem Fürsten die Hand auf die Schulter: »Lass, er fiebert.« Dann bettete er seinen verängstigten Neffen sanft in seine großen und starken Armen und sprach beruhigend auf ihn ein. Ergimer ließ es ermattet zu, denn Ingoumer war sein Lieblingsonkel.
Er setzte den Jungen vor sich auf das Pferd. Mit einem tiefen Seufzen schmiegte sich das erschöpfte Kind an ihn und schlief sofort ein. Als sie im Morgengrauen endlich ihre Siedlung erreichten, nahm Lanina, Ergimers Mutter, den Jungen aus den Händen ihres Bruders entgegen. Ergimer wurde nicht wach, als sie ihn wusch, und auch nicht, als sie ihn küsste, in Decken wickelte und schlafen legte. Erst Stunden später schlug er die Augen auf. Lanina, die bei ihrem Sohn gewacht hatte, flößte ihm eine kräftige Rinderbrühe mit Eierstich ein. Dann schloss Ergimer wieder die Augen.
In der darauffolgenden Nacht bekam der Knabe Fieber. Er verweigerte jede Nahrung und nahm auch nichts Flüssiges mehr zu sich. Mit geöffneten oder mit geschlossenen Augen – es machte keinen Unterschied – erzählte er gehetzt vom Leichenfeld. Dann schrie er wieder aus Leibeskräften, als verfolgten ihn die gekreuzigten Römer. Manchmal zwangen ihn die Toten auch, dass er ihnen in die schwarzen Augenhöhlen sah.
Außer sich vor Angst, dass Walachurrâ seinen Sohn durch die Gärten des Wahns zu sich holte, sprang Segimer auf sein Pferd und ritt schnell wie der Wind, um Nehalenia zu holen, die in der Nähe des heiligen Hains lebte. Die weise Frau entsprach der Bitte des Fürsten und begleitete ihn zu seinem Anwesen. Dort besah sie den Jungen, der wieder in eine Ohnmacht gesunken war. Schweiß schimmerte auf seiner Stirn.
»Wir müssen uns beeilen. Walachurrâ hat seinen inneren Menschen schon an die Hand genommen, um ihn in die Welt nach Tyrwal zu führen.«
Tyrwal war die eigentliche Welt, diejenige, in die alle Cherusker nach ihrem Tod eingingen, und ihre eigentliche Heimat fanden sie am Ort ihrer Ahnen. Sie lebten in einer Vorwelt, die zwar zur Welt gehörte, aber wie ein Zimmer nur ein Teil des Gesamten darstellte. Heilige Haine boten Durchgänge, die Türen zur Allheit, in der die Ahnen und Götter, die Geister und die Seelen der Tiere lebten. Als Ahnenland aber galt ihnen das Hirschland. Und so nannten sie sich auch: Cherusker, Hirschleute.
»Wenn ich ihn retten soll, muss ich mit ihm ins Hirschland«, sagte Nehalenia mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
»Geh, weise Frau, lass dich nicht aufhalten. Aber komm nicht ohne Ergimer zurück. Es wäre dann besser, auch du bleibst dort«, entgegnete Segimer in seiner Angst um den Sohn. Nehalenia zweifelte nicht daran, dass der Gefolgsherr seine Drohung wahr machen würde.
Aus den Gerten und dem Laub der Eichen errichtete Nehalenia eine Hütte, die sie mit einem Kreis aus Steinen umgab. Gegenüber dem Eingang ließ sie die Umrandung einstweilen noch offen. Sie lief in den Wald und sammelte Eicheln und Kastanien, Kräuter und Wurzelwerk, dazu den Samen des Stechapfels. Ein Knecht Segimers hatte den großen bronzenen Kessel der Nehalenia geholt, der mit allerlei Bildern verziert war.
Der Kessel, der im Durchmesser wohl eine Elle maß, erregte die Fantasie der Cherusker. Es hieß, das Gefäß sei mit dem Blut geopferter Menschen geweiht. Niemals und niemandem verriet die weise Frau den Sinn der Bilder rund um den Kesselbauch, denn es handelte sich um einen geheimen Plan der Jenseitsreise, eine versteckte Wegbeschreibung in die Welt, nach Tyrwal.
Bevor sie Ergimer holte, hatte sie ihm ein Lager aus Blättern, Heu und zerriebenen Pilzen bereitet und Quellwasser in Krügen in die Hütte bringen lassen. Nachdem sie den Jungen, der aus seiner Ohnmacht nicht mehr erwacht und dem Tod inzwischen weit näher als dem Leben war, nackt ausgezogen, auf das Lager gebettet und mit dem noch blutigen Fell eines frisch erlegten Bären, das noch seine Lebenswärme bewahrte, zugedeckt hatte, schloss sie mit den letzten vier Felssteinen von innen den Steinkreis um die magische Behausung und errichtete damit eine Grenze zur alltäglichen Welt, in der die anderen Menschen lebten. Mit einer Laubtür schützte sie nun auch den Innenraum der Hütte vor den Blicken und Einflüssen der Außenwelt.
Mit Wurzelwerk, Kräutern, Eicheln und Kastanien entfachte sie ein Feuer. In dem Kessel bereitete die Magierin aus anderen Kräutern und Stechapfelsamen, aus Getier und Wurzeln einen Trank. Dem Gebräu entstiegen Dämpfe, die immer undurchdringlicher die Hütte einnebelten und sie mit einem stechend süßlichen Geruch erfüllten. Zuvor hatte die weise Frau dem fiebernden Jungen mit einem Umschlag mit kaltem Quellwasser die Stirn zu kühlen begonnen. Dazu sang sie heilende Formeln.
Ergimers schmaler Körper zuckte wild unter tausend unsichtbaren Schlägen und bäumte sich schließlich auf, dann wich alle Kraft aus ihm, und sein Atem ging unhörbar flach. Die Zeit stand still. Während sich all das ereignete, lag auch Nehalenias Körper in einer Starre am Boden.
Ergimer lag zwar wie tot da, aber sein Geist regte sich. Viel deutlicher als in einem Traum sah er sich an der Hand einer großen Frau durch den Nebel gehen, vorbei an dem Wipfel einer hohen Eiche, unter der ein schwebender Hirsch graste. Der Sohn des Gefolgsherrn wunderte sich, dass er durch die Luft schritt. Aber er kam nicht dazu, weiter darüber nachzusinnen, denn schon trat ihnen Nehalenia in den Weg. Sie sagte:
»Wart, Walachurrâ!
Voreilig bist du.
Sieh mich kommen,
Das Kind zu holen,
Welches dir nicht gehört.«
Die große Frau ließ seine Hand los und verwandelte sich in eine Wölfin, die Nehalenia anknurrte. Aber die Idise ließ sich nicht beeindrucken und sagte sanft zu ihm: »Komm zu mir, Ergimer. Hab keine Angst. Es ist noch nicht Zeit für dich. Komm zurück. Auf dich warten große Aufgaben.«
»Bleib bei mir! Was soll schon dort auf dich warten außer Not, Qual und Drangsal, Siechtum und Schmerz?« Die Augen der Wölfin glühten. Ergimer erschrak. Schon wollte die Wölfin sich auf Nehalenia stürzen, die sich in einen riesigen Hirsch mit gewaltigem Geweih verwandelt hatte, da trafen Wotans Raben Hugin, Gedanke, und Munin, Erinnerung, ein.
Und Hugin begann zu sprechen: »Ich erinnere mich nicht, dass jemals Blut in der Nähe der Irminsul vergossen wurde. Was niemals war, darf niemals sein!« Und Munin fügte hinzu: »Das Kind soll entscheiden, ob es mit Walachurrâ nach Tyrwal oder mit Nehalenia in das Haus seines Vaters gehen will. Es ist deine Entscheidung, Ergimer.«
»Aber erwartet man mich nicht zurück?«
»Was man von dir erwartet, geht dich nichts mehr an. Ausgelöscht sei die Erinnerung, verflogen die Ansprüche. Nur dein Entschluss zählt«, erklärte Munin, und Hugin riet: »Du bist gleich weit vom ewigen Haus der Krieger Wotans entfernt wie vom Haus deines Clans. Lehnst du jetzt ab, kann es sein, dass dich eines Tages Hel in die Unterwelt verschleppt. Wer weiß schon, was sein wird. Entscheide dich!« Dann wandten sich beide an die Wölfin und den Hirsch: »Und ihr haltet euch heraus. Es ist allein der Entschluss des Knaben. So will es Wotan! Lenkt nicht seinen Zorn auf euer Haupt!«
Augenblicklich nahmen die beiden Frauen wieder Menschengestalt an, und Walachurrâ trat zurück. Mit wem sollte Ergimer gehen, das ewige Leben in Wotans Nähe wählen oder die Mühsal des Daseins auf Erden? Wie durch einen Nebel sah Ergimer seinen Vater, der die Legionäre abschlachtete, wie er mit Langmesser und Doppelaxt durch die Reihen schritt und wie ein geschickter Sensenmann den Feind niedermähte. Mühelos, fast elegant sah er bei dieser Arbeit aus. Dann stand der Vater vor dem Centurio. Der erhob sein Schwert, doch Segimer hatte es mit seinem Langmesser zur Seite geschlagen und ihn anschließend mit der flachen Seite der Doppelaxt vor den Kopf geschlagen. Der Centurio sackte zusammen. Der Gefolgsherr wandte sich um, die Männer hatten alle bis auf elf Legionäre massakriert.
»Lasst uns Kreuze errichten!«
Rasch waren elf Bäume gefällt und von Ästen befreit. Die Cherusker suchten ein paar starke Zweige, die sie quer an den Stämmen befestigten. Dann wurden die Legionäre mit geschnitzten Holzkeilen an die Kreuze genagelt und diese aufgerichtet. Niemand achtete darauf, ob die Römer noch lebten oder aus ihnen schon Manen, Totengeister, geworden waren. Man schnitt ihnen die Augen heraus, warf diese achtlos weg und stellte die Kreuze auf. Ergimer wollte zwar dazwischengehen, den Vater aufhalten, aber es war zu spät. Dann weinte Segimer blutige Tränen und brach in die Knie. Der Junge ging und setzte sich zu ihm. Der Vater legte seinen schweren Kopf in seinen Schoss.
»Worüber weinst du, Vater?«, fragte Ergimer.
»Über unsere verlorene Freiheit. Sie werden wiederkommen, immer mehr Römer werden kommen. Mein Leben und das meiner Nachkommen wird in Sklaverei enden!«
»Nein«, schrie Ergimer.
»Es wird so kommen, weil du nicht mehr da bist!«
»Aber ich bin da, ich bin doch da!«, rief der Knabe, in dessen Leib das Leben zurückkehrte. Auch Nehalenia schlüpfte wieder in die leblose Hülle ihres Körpers, der neben dem Kessel lag. Sie stand auf, als wäre nichts geschehen. Ergimer weinte, erbrach sich, dann fiel er in einen tiefen Schlaf.
Erst zwei Tage später schlug der Junge die Augen auf, erhob sich vom Lager, verließ Hütte und Steinkreis, trat zu seinem Vater und umarmte ihn.
»Hab keine Angst, Vater, ich bin da!«
Segimer war zu glücklich über die Genesung seines Sohnes, um sich über dessen seltsame Worte zu wundern. Nun trat Lanina, die mit den anderen Frauen aus den Knochen der toten Tiere Brühe kochte, zu ihnen und fuhr mit ihrer Hand durch sein struppiges rötliches Haar.
»Dein Vater hat eine Überraschung für dich«, sagte sie.
»Wir begeben uns morgen zum Thing, mein Sohn«, verkündete Segimer ihm. »Wir müssen unser Verhalten gegenüber den Römern beraten.«
Der Junge hörte nicht auf den Zweck des Things, er hörte nur eines heraus, dass er endlich Elda wiedersehen würde, das Mädchen, das ihm wie eine Schwester war. Er konnte es kaum erwarten und freute sich darauf mit jeder Faser seines Herzens.