17
Wie ausgewechselt, ja beinahe wie ein anderer Mensch erschien Elda der Vater, seit er aus dem Ort der Ubier am Rhenus zurückgekehrt war, den die Römer zur Hauptstadt der entstehenden Provinz Germania zu machen gedachten. Das Mädchen konnte sich nur noch über Segestes wundern, denn seit diesen Tagen legte er eine für seine Verhältnisse außergewöhnlich gute Laune an den Tag. Verjüngt, das war das richtige Wort, er wirkte verjüngt. Es war, als ob der Panzer aus Härte und Übellaunigkeit Risse bekam und abfiel. Er scherzte hin und wieder und sah auch zuweilen über manchen Fehler der Mitglieder seiner Sippe hinweg, den er vordem streng geahndet hatte, und bemühte sich sichtlich um eine gewisse Leutseligkeit. Er fragte sogar Ansar, den er immer nur den Fahlen oder wegen seiner roten Augen das Frettchen genannt hatte, nach seinem Namen und achtete darauf, ihn mit diesem anzusprechen.
Inzwischen war Elda zweiundzwanzig Jahre alt und hatte seit geraumer Zeit allen Versuchen ihres Vaters, sie zu verheiraten, erfolgreich getrotzt. Ihre Widerspenstigkeit hatte sich unter den Cheruskern herumgesprochen. Den einen Bewerber hatte sie vergrault, den anderen zum Gespött gemacht. Sie musste kaum mehr befürchten, dass noch jemand um sie freien würde. Scheinbar hatte auch ihr Vater schweren Herzens eingesehen, dass es vergeblich war, nach einem Mann für sie zu suchen, zumal sie inzwischen ohnehin zu alt dafür war. Vor fünf, sechs Jahren war sie im besten Alter für eine Ehe gewesen. Aber alle jungen Männer, die für sie infrage kamen, hatten mittlerweile andere Bräute gefunden. Segestes hatte getobt und geflucht, die Tochter eingesperrt, sie hungern lassen und sie einmal sogar geschlagen, aber nichts konnte ihren Willen brechen.
Die Winter gingen ins Land und wurden vom Frühling vertrieben, der Sommer zog vorüber, und wie in jedem Herbst begaben sich die Cherusker, als die Ernte eingefahren und das Erntedankfest gefeiert war, zum Thingplatz. Wie immer zog es Elda dort zu der Senke, die der Bach durchteilte. Sie ließ sich im Gras nieder, schloss die Augen und dachte an Ergimer. In diesen einsamen Momenten sah sie ihn wieder vor sich, wie er in den Bach fiel, wie er sie verfolgte, sie warnte, zur Flucht aufforderte und die Römer von ihr ablenkte, bis er schließlich selbst von ihnen gefangen genommen wurde. Wenn sie die Augen wieder öffnete, lag die Wiese trist vor ihr, und nichts deutete mehr auf den Freund hin. Oft fragte sie sich, wie er jetzt wohl aussah, wenn er überhaupt noch lebte. In ihren Träumen war er immer noch ein Knabe und sie ein kleines Mädchen, in ihren Träumen war die Zeit stehen geblieben. Elda liebte ihre Träume und flehte die Schicksalsgöttinnen an, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Längst war ihr Leben in zwei Teile zerfallen, die Zeit vor dem Tag am Bach, an dem Ergimer geraubt wurde, und die endlos langen Zeit danach, die immer noch anhielt. Die Schuld daran trug kein anderer als ihr Vater.
Auf dem alljährlichen Thing verbrachte Elda fast die ganze Zeit im Lager bei Ergimers Mutter. Lanina erinnerte sie an den Freund, und es tat Elda gut, mit einem ihm so nah verwandten Menschen zusammen zu sein. Dabei blies sie nicht ständig Trübsal, sondern ritt und focht, kochte und nähte, lachte und sang. Vor allem im Reiten und Kämpfen übte sie sich, obwohl sie das nur heimlich konnte, denn ihr Vater hätte das nicht gebilligt. Aber wenn die Traurigkeit sie überfiel wie ein Schwarm Krähen, die plötzlich den Himmel verdunkelten, vermochte nicht einmal Ansar sie aus ihrer düsteren Sehnsucht zu befreien.
Obwohl sie Nehalenia selten sah, hatte Elda dennoch das Gefühl, dass sie sich in ihrer Nähe aufhielt. Vielleicht hielt ja die weise Frau schützend ihre Hand über sie, denn bei allem Zwang, den Eldas Vater auf seine Tochter ausübte, hatte er eine bestimmte Grenze doch nie überschritten.
Eines Mittags traf ein römischer Bote ein. Segestes empfing ihn sogleich. Die beiden Männer schritten lange nebeneinander her und unterhielten sich. Als sie zurückkamen, bestieg der Bote wieder sein Pferd. Beim Abschied sagte Segestes: »Lass Saturninus wissen, dass wir kommen werden.«
»Salve!«, rief der Bote und ritt los. Segestes sah ihm mit einem triumphierenden Blick nach. Alles fügte sich bestens.
Wenig später versammelte er seine Familie im Haus. Elda musterte ihren Vater, wie sie es immer in diesen Momenten tat, um das, was auf sie zukam, vorauszuahnen und sich innerlich gegen die Launen des Fürsten zu wappnen. Aber er wirkt gelöst, so als sei er seinen Zielen und Wünschen bedeutend näher gekommen. Feierlich schaute er in die Runde, dann zwang er sich zur Ruhe, um gemessen zu sprechen.
»Heute ist ein Feiertag für uns. Die Römer werden am Rhenus in der Stadt der Ubier einen Altar für ganz Germanien einweihen, als mächtiges Zeichen dafür, dass wir von nun an zum Reich gehören. Das wird ein weithin sichtbares Zeichen des Friedens sein. Ja, ihr, meine Blutsverwandten, Gefolgsleute und Knechte, wir Cherusker werden dazugehören. Wir werden Germanen und Römer sein.
Der römische Legat für die Provinz Germania hat nun zur Weihe der Ara Ubiorum die wichtigsten Fürsten der germanischen Stämme eingeladen, und als Einzigen von den cheruskischen Gefolgsherrn mich. Nicht Segimer oder die anderen Trottel, die ihren dumpfen Kopf nicht aus der Vergangenheit bekommen, sondern mich, der ich die neue Zeit sehe und nutzen werde, zu unser aller Nutz und Frommen. Morgen brechen wir auf an den Rhenus zur Stadt der Ubier.
Aber heute feiern wir. Schlachtet ein Schaf, und holt Met aus den Vorratskammern. Heute wollen wir es uns gut gehen lassen! Begrüßen wir die neue Zeit mit dem Frohsinn, der ihr zukommt!«
Jubel brandete auf. Während alle mit großer Freude Hand anlegten, um das Fest vorzubereiten, trat Segestes zu seiner Tochter. Er lächelte sie an, wohl das erste Mal seit Jahren.
»Komm, meine Tochter. Ich möchte mit dir reden. Nein, hab keine Angst, ich will nur reden, wie ein Vater mit seiner Tochter redet.« Innerlich auf der Hut erhob sie sich und folgte ihm hinaus.
Vater und Tochter schritten über den Hof und nahmen den Weg zum Wald hinunter. Die Sonne neigte sich schon zu den Wipfeln der hohen Eichen und würde bald hinter ihnen verschwinden. Aber noch besaß sie Kraft und liebkoste mit ihrer milden Wärme Eldas Gesicht. Bis jetzt waren sie schweigend nebeneinander hergegangen. Elda spürte, dass der Vater nach den richtigen Worten suchte. Seine unerwartete Verlegenheit rührte sie fast. Plötzlich blieb er stehen und wandte sich zum Hof um. Er sprach so leise, dass sie erst nach einer Weile begriff, dass er bereits zu reden begonnen hatte.
»Unsere Vorfahren sind vom Land jenseits der Albia hierhergekommen und haben dort oben eine kleine Hütte errichtet. Warum sie fortgegangen, warum sie hierher gekommen sind, weiß ich nicht. Aber die Götter haben sie sicher geführt, sie haben unsere Ahnen beschützt. Was glaubst du, aus welchem Grund, Elda?«
»Weil sie den Göttern opferten und sich an ihre Gesetze hielten?«
»Das haben andere auch getan, und dennoch sind sie und ihre Stämme untergegangen. Du bist klüger als deine Brüder, du hast einen regen Verstand. Sag mir, wenn zwei Gefolgsherren in der gleichen Weise den Göttern opfern und sich an ihre Weisungen halten, der eine aber mit seiner Familie zu Reichtum und Ansehen kommt und der andere in Elend und Leid versinkt, woran liegt das wohl? Die Götter müssten doch beide gleich begünstigen.«
»An den Nornen. Selbst die Götter fürchten diese mächtigen Frauen«, mutmaßte Elda.
»Aber wonach richten sich die Nornen? Warum weben sie dem einen diesen Schicksalsfaden und dem nächsten einen anderen, dem einem zum Gelingen, dem anderen zum Verderben?«
»Das können wir nicht wissen.«
»Komm, meine kluge Tochter. Endet hier bereits deine Weisheit? Mein Verstand arbeitet viel langsamer, aber ich habe darüber nachgedacht, Jahr für Jahr, warum das so ist. Immer wieder!« Sie sah ihn erstaunt an.
»Ich habe lange gebraucht, um es zu verstehen, aber dann war es schließlich ganz einfach. Weil die einen etwas Neues wagen, während die anderen nur das Bewahren wollen, was früher einmal das Neue war, inzwischen aber das Alte ist. Verstehst du, alles Alte war einmal etwas Neues. Und diejenigen, die klug genug waren, das Neue zu erkennen, und stark genug, es auch durchzusetzen, haben überlebt und wurden reich und angesehen.«
Segestes klopfte ihr mit dem Knöchel seines gebogenen Zeigefingers schmerzhaft gegen die Stirn, als wollte er ihr den Gedanken einhämmern. Dann ließ er von ihr ab und wandte seinen Blick dem Hof zu. Wehmütig, wie es ihr schien, starrte er auf sein Anwesen. Plötzlich spürte Elda, dass es ihr das erste Mal gelingen könnte, den Vater zu verstehen.
»Hat also das, was wir gestern gelebt haben, heute keinen Wert mehr? Ist unsere Lebensweise, sind unsere Bräuche und Vorstellungen überholt?«, fragte sie.
»Nicht alles, aber manches.«
»Was, Vater, was ist anders geworden?«
Er zögerte mit seiner Antwort, sein Unterkiefer mahlte lautlose Worte. Sie sah ihm an, wie er mit sich rang. Doch dann fasste Segestes den Entschluss, seine Tochter in seine Zukunftspläne einzuweihen. Weshalb sollte er schweigen, wo ihn niemand mehr aufhalten konnte? Sollte sie eben die Wahrheit erfahren. Sie würde sich ohnehin daran gewöhnen müssen, zumal sie eine Rolle in seinem Spiel einnahm.
»Wisse, meine Tochter, die Zeit der Könige ist angebrochen. Die Cherusker werden nur groß und mächtig werden, wenn sie sich starken Königen fügen und mit den Römern zusammenarbeiten.«
»Was ist mit Marbod?«
Ja, was war mit dem mächtigen Herrscher der Markomannen, der weit weg am Oberlauf der Albia ein mächtiges Königreich aufgerichtet hatte und nun seine eisernen Finger nach Norden und Süden, nach Osten und Westen ausstreckte, was war mit dem ersten germanischen König, den die anderen Stämme und auch die Römer fürchteten?
Segestes lachte laut auf. »Marbod? Marbod?«, rief er höhnisch aus. »Er ist der beste Beweis dafür, dass die Zeit der Könige angebrochen ist. Und dafür, dass ich recht habe. Ohne den Schutz der Römer würde er uns eines Tages zu seinen Untertanen machen. Aber er beweist auch in anderer Hinsicht die Richtigkeit meines Denkens, denn er wird untergehen, der große König, weil er gegen die Römer handelt, sich nicht mit ihnen verbündet, selbst größer als die Römer sein will. Doch der Bär bricht dem Wiesel das Genick. Nein, Marbod wird von den Römern gefällt werden. Er ist ihnen schon zu mächtig geworden.
Das Heil der Cherusker liegt in der Freundschaft mit den Römern. Von ihnen müssen wir lernen. Sie bringen das Neue. König unseres Stammes wird, wer die Cherusker den Römern zuführt.«
Es verschlug ihr den Atem. Plötzlich begriff sie, worauf der Vater all die Jahre hingearbeitet hatte.
»Hast du deshalb dafür gesorgt, dass Germir und Ergimer nach Rom verschleppt wurden?«
»Die Cherusker werden keinen Mann ohne Erben wählen. Segimers Sippe vergeht, ein entlaubter Stamm. Einer, der am Alten hängt und deshalb mit dem Alten untergeht.«
»Deshalb also! Er war dein stärkster Gegner unter den Gefolgsherren, deshalb hast du ihm die Kinder nehmen lassen, um ihn zu vernichten.«
Eisige Schauer jagten ihr über den Rücken. Der Plan ihres Vaters war aufgegangen. Seit diesem verhängnisvollen Tag war Segimer ein gebrochener Mann. Mit einer einfachen List hatte Segestes den mächtigen Fürsten wie eine Eiche gefällt. Er hatte ihm seine Zukunft, er hatte ihm seine Kinder genommen, den Sinn seines Lebens.
»Welch dämonische List, die im Inneren des Herzens eine Wunde geschlagen hat, an der er langsam, aber sicher verblutet«, sagte sie voller Abscheu.
Aber das traf Segestes nicht, weil es ihn nicht scherte, was seine Tochter dachte. Er packte ihren blonden Haarschopf, riss ihren stolzen Kopf nach hinten und beugte sich über sie.
»Ich musste die beiden aus dem Weg schaffen. Was hätte ich dafür gegeben, solche Söhne zu haben! Du weißt, dass deine Brüder nichts taugen. Schwerfälliges Vieh, der schlechtere Teil meines Samens – und der bessere Teil bringt ein Mädchen hervor! Geschlagen war ich!«
Er ließ sie los. Sie taumelte, fing sich und trat einen Schritt zurück. Er schaute sie mit harten Augen an und lachte kehlig.
»Am Ende ist es sogar ganz gut, dass du dich jedem Freier widersetzt hast. Du wirst mir einen Erben zur Welt bringen, meinen Enkel, der eines Tags über Germanien herrschen wird. Und weißt du auch, wer der beste Erzeuger für meinen Erben wäre?«
Elda schwindelte. Sie ahnte, was er sagen würde.
»Ein römischer Senator oder Prinz«, fuhr Segestes gnadenlos fort. »Die Könige Germaniens, hervorgegangen aus der Mischung des besten Bluts der Römer und der Cherusker! Das ist die Zukunft!«
Entsetzt und ratlos schickte Elda noch in der Nacht Ansar mit einer Nachricht zu Nehalenia.
Als der Tag anbrach, bestiegen Frauen und Männer die Pferde und wollten losreiten.
»Wo ist denn unser unvermeidliches und ach so emsiges Frettchen abgeblieben?«, rief Segestes mit einem spöttischen Unterton in der Stimme. »Auch gut, wenn der überflüssige Fresser weg ist«, setzte er hart hinzu, bevor Elda sich eine Ausrede ausdenken konnte, und gab das Signal zum Aufbruch.
Elda erschrak. Ihr kam der Verdacht, dass Ansar ihrem Vater in die Arme gelaufen war und Segestes ihn getötet hatte, weil er nichts mehr fürchtete, auch Nehalenia nicht, denn die weise Frau gehörte zum Alten, auf das er keine Rücksicht mehr zu nehmen glaubte.