Seit es zwei Wochen zuvor den Rhenus überschritten hatte, bahnte sich das römische Eroberungsheer unter dem Feldherrn Nero Claudius Drusus unaufhaltsam seinen Weg durch den Herzynischen Wald, der zwischen Rhenus und Albis, zwischen Mare Suebicum und Danuvius lag, durch die sagenumrankten Wälder und Gebirge Germaniens. Für alle, vom Feldherrn über die Legaten und Militärtribunen bis hinunter zum kleinsten Legionär bedeutete diese Expedition eine kühne Reise ins Unbekannte. Natürlich gehörte der Tod zu den Berufsrisiken des Soldaten, doch welche Gefahren in diesem fremden Land lauerten, wussten die Männer nicht. Ein paar Tage zuvor hatte sie die Nachricht vom ehrlosen Tod der Hundertschaft erreicht. Nun trieb sie der Wunsch nach Rache vorwärts, sie lechzten nach Vergeltung für ihre gekreuzigten Waffenbrüder.
Schier endlos zog sich der römische Heerwurm in Marschordnung dahin. Inmitten des langen Zuges aus vier Legionen holperte, von acht Pferden gezogen, ein großer Reisewagen. Im Innern des hölzernen Verschlages war die Kutsche großzügig mit Betten, Stühlen, einem Tisch, zwei Schränken und Fellen ausgestattet.
Das Türfenster des Gefährts stand wegen der großen Hitze offen, doch Julius hatte längst die Lust verloren hinauszuschauen. Auf dem Boden sitzend spielte er mit Tonfiguren. Der Anblick der tiefen Wälder, der dunklen Täler und tristen Ebenen, auch der armseligen Siedlungen, an denen sie vorbeikamen, drückte auf das Gemüt des Knaben. Das berüchtigte Germanien kam ihm wüst und unbewohnbar vor, mit einem Wort barbarisch. Selbst die Häuser dieser groben Menschen ermangelten jeglichen Stils, jedweder Bequemlichkeit. Sie erinnerten ihn an Ställe, die man freilich etwas zu groß gebaut hatte. Vielleicht waren diese Barbaren auch nichts anderes als Vieh, den Rindern in ihrer Art näher als den Römern.
Bald schon würden sie die Albis erreichen. Doch dafür, dass sie durch das Gebiet kriegerischer Barbaren zogen, blieb es, befand Julius, geradezu langweilig ruhig. Die Legionäre jedoch wurden von dem Gefühl verfolgt, Tag und Nacht von tausend Augen beobachtet zu werden. Aber immer wenn sie eine Siedlung erreichten, fand sich weder Vieh noch Mensch in den Anwesen. Zogen sie denn durch ein Geisterland? Wo steckten bloß die Barbaren, die es gewagt hatten, römische Legionäre zu kreuzigen?
Der neunjährige Knabe schaute zu seiner Mutter herüber. Antonia saß mit einer chaldäischen Sklavin am Tisch und ließ sich die Zauberstäbchen legen. Auch ihn interessierte der Ausgang des Orakels. Seine Mutter sehnte sich danach, nach Rom zurückzukehren, und sie hatte auch vor ihrem Sohn keinen Hehl aus ihrem Wunsch gemacht, einem Wunsch, den er inzwischen sogar teilte.
Von der fiebrigen Aufregung, die ihn erfasste, als sie ihm vor einem halben Jahr mitgeteilt hatte, dass der Vater sie auf den Feldzug mitzunehmen gedächte, war nichts außer quälender Langeweile geblieben. Die Legionäre würden eher an der Eintönigkeit als durch den Speer eines Feindes sterben, spottete schon das Kind. Jedes Kriegsspiel mit seinen Freunden in der Hauptstadt des Imperiums gestaltete sich gefährlicher als dieser sogenannte Feldzug seines Vaters.
»Heimkehr steht bevor«, las die Sklavin aus den Stäbchen.
»Wie wird die Heimkehr sein?«, fragte Antonia.
»Ich weiß es nicht, hier heißt es nur Heimkehr. Was aber ist das Heim des Kriegers?«
Antonia lächelte. »Unser Palast auf dem Palatinus. Ach, um wie viel schöner ist doch Rom!«
Julius schlummerte ein, als die Sklavin ein ebenso langes wie sehnsuchtsvolles Lied mit unzähligen Strophen sang, das von ihrer Heimat handelte.
Unterdessen ließ das Heer die Berge und dichten Wälder hinter sich und durchquerte eine fruchtbare, von Flüssen durchzogene Ebene mit vielen Siedlungen. Jemand rüttelte sacht an Julius’ Schulter. Nur widerwillig schlug er die Augen auf und blickte in das lächelnde Gesicht seiner Mutter. »Steh auf, mein Sohn. Dein Vater will dich bei sich haben.« Ein Centurio, der neben dem Wagen ritt, hob den Jungen auf sein Pferd.
»Keine Angst.«
»Hab ich nicht.«
Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel. Und es war warm, fast so warm wie in Rom, nur dass ihm seltsamerweise das Sonnenlicht und der Himmel dunkler vorkamen und die Luft über diesem Land undurchdringlicher und schwerer. Sein Lehrer Salvianus hatte ihm erzählt, dass die Götter die Barbaren dieses Landstrichs wohl deshalb gröber, größer und kräftiger bauten, weil die Atmosphäre des Nordens schwerer auf den Gliedern seiner Bewohner lastete als das duftige Firmament des Südens. Als Julius und sein Begleiter auf der Höhe des Vaters anlangten, der sich mit dem Legaten Galerius unterhielt, entdeckte Julius den breiten Fluss, der in schönen Bögen majestätisch in der Landschaft lag.
»Die Albis, mein Sohn«, sagte der Feldherr und fügte hinzu, »dieser Fluss wird uns zum Schicksal werden.« Das waren die Worte des Feldherrn Drusus, als er in den Kalenden des Augusts den sagenumwobenen Strom erreichte.
Julius hatte bereits davon gehört, dass hinter dem Fluss der geheimnisvollste Teil Germaniens lag. Niemand ahnte auch nur, wie weit dieser reichte, lediglich eines war bekannt, dass sich nämlich irgendwann das Land der Skythen und der Sarmaten anschließen musste. Die Landschaften hinter der Albis aber hatte noch kein Bürger des Imperiums betreten, nicht einmal ein Kaufmann, und die gingen sonst überall hin. Salvianus hatte ihn gelehrt, dass jenes Gebiet hinter dem Fluss als das heilige Land der Germanen galt. Von dort stammten alle germanischen Stämme, von dort brachen sie in Horden auf, um sich über die Welt zu verbreiten. Vor einem Jahrhundert war es sogar zwei ihrer Stämme, den Kimbern und Teutonen, geglückt, bis nach Italien vorzudringen. Unterwegs hatten sie mehrere römische Legionen massakriert und die Anführer ihren Blut saufenden Göttern geopfert.
Dem Sohn des Drusus setzte unterdessen tüchtig die Neugier zu. Er verzehrte sich danach, einen Blick auf die mysteriöse Landschaft zu erhaschen, die sich dem Augenschein durch eine ansteigende Böschung hinter dem gegenüberliegenden Ufer und dicken Säulen kräftigen Rauchs entzog, als hätten die Barbaren im Hinterland gewaltige Feuer entzündet.
»Komm, Galerius, komm, mein Sohn! Kommt!«, befahl der Feldherr, und Julius spürte die Zufriedenheit und den Stolz des Vaters. Der sprang derweil vom Pferd, band den Helm mit dem prachtvollen Federbusch ab, drückte ihn seinem Adjutanten in den Arm und lief zum Ufer. Galerius, der Centurio und Julius taten es ihm gleich. Sie knieten nieder und schöpften mit beiden Händen Wasser, das sie sich über den Kopf laufen ließen. Es war kühl und frisch, frischer als alle römischen Wasser, die Julius kannte. Dann tranken sie es in vollen Zügen aus ihren hohlen Händen.
Als Julius aufschaute, entdeckte er ein Boot, das gerade vom jenseitigen Ufer abstieß. Instinktiv blickte er zum Vater hinüber. Der ließ das Schiffchen, das von vier Jünglingen gerudert wurde, nicht aus den Augen und richtete sich auf. Am Bug stand ein sehr großer Mensch. Ein Riese, argwöhnte Julius, und ihm wurde bang ums Herz. Eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne. Vom jenseitigen Ufer erklang ein ohrenbetäubendes Konzert von Trommeln und Luren. Dem Getöse nach zu urteilen, bliesen und trommelten dort Hunderte von Menschen! Wenn sie zu einer Streitmacht gehörten, dann zählte diese leicht fünfzig-bis sechzigtausend Kämpfer.
Julius wurde vor Aufregung abwechselnd rot und blass. Sollte es hier an der Albis zur Entscheidungsschlacht gegen die Barbaren kommen? Geschah endlich das, worauf der Knabe schon so lange hoffte? Wie hatte doch sein Onkel Tiberius immer wieder zu ihm gesagt: »Im Krieg ist die größte Tugend die Geduld. Nur wer warten kann, wird auch siegen. Harre auf den Wink der Parzen, denn sie, nicht die Menschen, weben das Schicksal.«
Furchterregend erklangen die Musikinstrumente, als wollten sie den Römern den Untergang verkünden, doch Drusus hatte für den Lärm nur ein höhnisches Lachen übrig. »Mögen sie blasen und trommeln, wie sie wollen, heute Abend werden ihre Instrumente verwaist sein!« Julius bewunderte die Kühnheit seines Vaters, die ihm Zuversicht gab. Endlich gelang es ihm, Einzelheiten an dem Riesen wahrzunehmen, der wohl weit über drei, fast vier Ellen maß und damit seinem Vater um zwei Köpfe überragte. Dabei galt Drusus für römische Verhältnisse als groß. Das Staunen des Knaben ging in Schrecken über, als er entdeckte, dass jenes geheimnisvolle Wesen einen Wolfskopf trug und bunte Felle seinen riesigen Körper einhüllten. Eberzähne in verschiedenen Farben und Gebein in unterschiedlicher Größe zierten die Kleidung. Die rechte Hand der Gestalt umklammerte einen Knochen, in dem der entsetzte Knabe den Unterschenkel eines Menschen erkannte. Julius fröstelte mit einem Mal. Wer war diese Erscheinung? Ein Magier? Ein böser Geist? Ein Gott? Einer von ihren Göttern?
Am gegenüberliegenden Ufer fielen nun bellende Stimmen in die Musik der Trommler und Pfeifer ein. Julius hielt das für den Gesang der Barbaren, denn für ihn klang die Sprache dieser Leute wie das heisere Kläffen eines Hundes. Der Stimmensturm erreichte eine solche Gewalt, dass Julius glaubte, nicht der Wind, sondern die Sänger brächten den Fluss in Wallung.
Kurz vor dem Ufer hielten die Ruderer das Boot an. Um die starr gehaltenen Ruder kräuselte sich weiß das blaugrüne Wasser. Wie von Zaubermund befohlen, verstummten mit einem Mal die Sänger, die Bläser und die Trommler. Die plötzliche Stille wirkte gespenstisch. Sie schrie geradezu.
Julius, der ängstlich hinter der kräftigen Statur des Vaters Schutz gesucht hatte, lugte immer wieder hervor und bemerkte, dass der Wolfskopf nur aufgesetzt war. Das beruhigte ihn jedoch keineswegs, denn das Fabelwesen stellte sich als eine Frau heraus. Ein Weib von solcher Größe! Der Junge hatte von einer schrecklichen Zauberin im parthischen Bergland gehört, die Menschen verspeiste, und auch der ägyptischen Göttin Isis ging man besser aus dem Weg.
Ihr Gesicht hatte die Geheimnisvolle geschwärzt und vier weiße Streifen von innen nach außen gezogen. Langsam und kraftvoll hob sie die Hand, in der sie den Menschenknochen hielt. Im gleichen Moment donnerte es, und Drusus zuckte zusammen. Ein Rabe flog so knapp über den Kopf des Feldherrn hinweg, dass dieser den Flügelschlag spürte, und setzte sich auf die Schulter der Priesterin.
Wolf und Rabe, davon hatte Julius der Lehrer Salvianus erzählt, seien die heiligen Tiere der Germanen, Formen, die ihre Götter gelegentlich annahmen. Wotan solle sich häufig in der Gestalt dieses Unheil kündenden Vogels zeigen.
Dann sprach die Priesterin, überraschenderweise auf Latein: »Wohin willst du eigentlich noch ziehen, unersättlicher Drusus? Es ist dir nicht vom Schicksal bestimmt, dies alles hier zu sehen. Ziehe von dannen! Denn das Ende deiner Taten und deines Lebens ist nahe. Diesseits der Elbe erwartet dich nur der Tod, jenseits aber die Wut der Götter, geh! Unseliger!« Die Priesterin schwang den Knochen und warf ihn dem Feldherrn vor die Füße. Julius meinte, den trockenen Ton splitternder Knochen zu vernehmen. Und die schreckliche Frau war noch nicht am Ende ihrer Rede.
»Schau ihn dir genau an, es ist dein Knochen, aus dem der Tod wächst!«
Dann fügte sie Worte in einer fremden Sprache hinzu: »Wewurt skihit!«
Auf ein Zeichen von ihr ruderten die vier Jünglinge kräftig und gemessen die Barke zurück ans andere Ufer. Dabei fesselte die unheimliche Frau den Feldherrn mit ihrem magischen Blick, während der Lärm auf der anderen Seite des Flusses wieder anschwoll.
»Was sollen wir tun, Imperator?«, brüllte der Legat fragend nach einer Weile gegen den ohrenbetäubenden Krach an. Drusus antwortete nicht. Galerius verharrte unschlüssig, dann wiederholte er seine Frage mit der ganzen Gewalt seiner in jahrzehntelangem Militärdienst gestählten Stimme.
»Schweig!«, herrschte ihn Drusus an. »Schweig. Hörst du nicht das Lied der Nornen, Galerius?«
So sehr sich Julius auch bemühte, er vernahm nichts, nichts außer dem Flügelschlag der aufgeregt hin und her flatternden Vögel und dem Dröhnen und Poltern der Luren und Trommeln.
»Es sind die germanischen Parzen«, stöhnte der Feldherr. »Wurt, Werdandi und Scult, Gestern, Heute und Morgen, das, was war, das, was ist, und das, was sein wird.« Der Tonfall des Vaters jagte Julius einen tüchtigen Schrecken ein.
Die Priesterin hatte unterdessen die andere Seite des Flusses erreicht. Jeder Ton erstarb augenblicklich, es herrschte vollkommene Stille. Die Frau verließ das Boot und blieb bewegungslos am Ufer stehen, als wartete sie darauf, dass der Römer samt seiner Legionäre abzog. Starr wie eine Statue blickte sie herüber. Drusus schien von ihrem Anblick wie gebannt.
Julius schossen plötzlich die Tränen in die Augen, und er rief: »Vater, Vater!«
Drusus erwachte aus seiner Erstarrung und wandte sich ihm zu. Alle erschraken. Der Feldherr war blass und schien um Jahre gealtert. Einzelne Haarsträhnen waren grau, manche auch weiß geworden. Hastig nahm er den Sohn auf den Arm und ging zu seinem Pferd.
»Beeilt Euch! Wir müssen umkehren, bevor es zu spät ist!«