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Die Nacht lag schon über der Landschaft und hatte die Umrisse der Berge und Bäume verwischt, als Julius endlich im Talkessel die Mauern der mächtigen Bollwerke des Militärlagers von Aliso ausmachte. Im Mondlicht erreichte der Zug bald darauf die zum Lager gehörende Siedlung, in der die Handwerker, Händler, Huren und Schankwirte wohnten – Germanen, Kelten und Römer, die davon lebten, für das Militär zu arbeiten.

Die Bewohner hatten ihre Häuser verlassen und standen an der Straße, um den anmarschierenden Legionen einen Empfang zu bereiten. Sie bildeten kein Spalier, sondern kleine Gruppen, die miteinander das Gesehene besprachen, allerhand Schabernack trieben oder mit mehr oder weniger ausgeklügelten Vorstellungen für ihre Dienstleistungen warben. Glaubten sie, den berühmten Feldherrn Nero Claudius Drusus bestaunen zu können, oder hatten sie bereits davon erfahren, dass er, von heftigen Fieberwellen geschüttelt, halb bewusstlos im Reisewagen lag? Gerüchte sind im Allgemeinen schneller als Menschen. Oder galt ihr Interesse einzig und allein den vielen möglichen Kunden?

Julius, der aus dem Wagen lugte, fühlte sich abgestoßen von der lauernden Erwartung, die er in den neugierigen Blicken der Menschen gewahrte. So jung er war, so deutlich spürte er dennoch die Falschheit der zur Schau getragenen Herzlichkeit. Wahrscheinlich aber war alles viel einfacher, und die Menschen am Straßenrand hofften nur, dass die Soldaten fette Beute vom Kriegszug mitbrachten, die sie ihnen mit vielerlei Tricks abzujagen gedachten.

Verwundert entdeckte der Knabe unter den Schaulustigen auffallend viele Frauen jeglichen Alters mit zum Teil durchsichtigen Obergewändern. Sie fuhren mit den Spitzen ihrer dunkelroten Zunge über Ober-und Unterlippe, schnalzten oder luden die Soldaten zu sich ein. Sie wetteiferten regelrecht darin, den Soldaten ›frischen Stendelwurz und beglückende Ausflüge in die Gärten der Photis‹, wie auf einem Schild stand, zu verheißen.

»Mutter, was sind die Gärten der Photis?«, fragte Julius in den Reisewagen hinein.

»Das sind Feuchtgebiete, in denen man sich nur die Fäulnis holt«, antwortete Antonia kurz angebunden. Das verstand der Junge nicht. Warum sollten die Soldaten dorthin gehen, wo sie krank wurden? Er beschloss, Salvianus später danach zu fragen. Von der Mutter würde er nichts mehr über die rätselhafte Angelegenheit erfahren.

Julius entdeckte nun in dem Gewühl vier stämmige Männer, die mithilfe eines Gestells ein großes Fass auf ihren Schultern trugen. Darauf thronte ein ungeheuer fetter Kerl mit flinken Schweinsäuglein, der auf dem Fass zu reiten schien. Bocksgesichtig brüllte er mehr, als dass er sang:

»Seht König Bacchus und kniet nieder,
mein Rebensaft stärkt müde Glieder,
wärmt das Herz, gibt Manneskraft!
Kommt und trinkt, vergesst die Sorgen,
könnt bei mir Lebenszeit erborgen.«

Der Dicke brachte sich auf diese Art und Weise immer mehr in Fahrt und fing nun sogar an vor lauter Übermut auf dem Fass zu tanzen, rutschte aber bald ab und fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Dort zappelte er mit seinen kurzen Beinen und prallen Armen in der Luft wie ein Käfer auf dem Rücken. Überhaupt schien der ganze Körper nur aus zwei Kugeln und acht Keulen zu bestehen. Diejenigen Legionäre, die diese teils unbeabsichtigte Vorstellung beobachtet hatten, brachen in ein mächtiges Gebrüll aus, das ein Lachen vorstellen sollte und sich durch die Reihen der Legionäre fortsetzte. So liebten sie die Späße, derb und grob.

Ein breitschultriger Legionär rief, auf König Bacchus weisend: »In dem Fettwanst gluckert mehr Wein als in dem Fass da oben.«

»Wie«, grölte sein hagerer Nebenmann, »ist das da unten etwa nicht das Fass? So kann man sich irren! He, du altes Weinfass, steh auf, bereite alles vor, wir kommen zu dir, um dich anzustechen.«

Ein hakennasiger Feldzeichenträger fügte mit hämischem Grinsen hinzu: »Und wehe, es fließt dann aus deinem Wanst kein Wein, sondern nur dein Scheißblut!«

Nun hatte die Heiterkeit auch den letzten Legionär erreicht, und die Enttäuschung über den misslungenen Feldzug wurde zu einer Flutwelle grimmigen Frohsinns, die den Ort überspülte und gegen die Bollwerke des Militärlagers brandete.

Julius mochte die derben Späße der Männer, die wie große Tore in die verschlossenen Welt ihrer abenteuerlichen Existenz führten. Einstweilen waren diese ihm sehr zu seinem Bedauern noch mit sieben Schlössern versiegelt. Eines Tages aber, träumte der Knabe mit offenen Augen, wenn er endlich alt genug wäre, würde ihn sein Vater an die Hand nehmen, um ihn in das Reich der Krieger einzuführen, so wie er ihn auch am Tage seines sechzehnten Geburtstags in die Männertoga hüllen würde.

Bei diesen Gedanken spähte Julius rasch noch einmal ins Wageninnere. Vielleicht war ja inzwischen ein Wunder geschehen, und er würde den Vater aufrecht sitzend, essend und trinkend und vor allem bei Kräften erblicken. Ach, wäre der ganze Spuk doch mit einem Mal verflogen wie ein schlechter Traum!

Doch je länger er den verschwitzten Mann auf dem Lager betrachtete, der von Minute zu Minute hinfälliger erschien, desto tiefer bohrte sich die Enttäuschung in sein junges Herz. Das Wunder blieb aus. Die Götter haben Nero Claudius Drusus verflucht, dachte Julius traurig und wandte sich wieder der Straße zu. Auf einmal fühlte er sich betrogen, um die Früchte der Pflicht gebracht, die ein Vater gegenüber dem Sohn hatte, nämlich ihm den Weg zum Manne zu ebnen. Wie gern wäre er jetzt unter den vor Kraft strotzenden Legionären da draußen gewesen. Der Geruch gerösteter Maronen stieg ihm betörend in die Nase und raubte ihm fast die Sinne.

Unweit der Siedlung ragte hinter sehr breiten und etwa halb so tiefen Wehrgraben das Bollwerk des Lagers, eine hohe doppelte Bohlenwand auf. Die Zwischenräume waren, wie Julius wusste, mit Erde und Steinen verfüllt. Auf der Krone der breiten Mauer führte ein Wehrgang rund um das Militärlager. Als sich der Zug näherte, öffnete sich knarrend das rechte Haupttor. Im Innern befand sich ein zweites, ebenso mächtiges Bollwerk mit einem zweiten Trutzportal, das nun ebenfalls geöffnet wurde. Julius spähte hindurch und sah eine sehr lange und breite Straße, die von großen, teils prächtigen Gebäuden gesäumt war. Verglichen mit den Bauten auf dem Caelius, dem Esquilin oder gar dem Palatin in Rom erschienen ihm diese Gebäude freilich wie Hundehütten. Aber für römische Häuser in der barbarischen Einöde, die wacker als Vorposten der Zivilisation dienten, wirkten sie dennoch als Paläste der Hoffnung im trostlosen Reigen der ewigen Wälder, Berge und Täler.

Auf der Via Principalis, die es in allen römischen Militärlagern gab, zog die vom Schicksal oder nach anderer Auslegung die durch Schadenszauber geschlagene Armee ins Lager Aliso ein. Der Reisewagen hielt vor einem mächtigen mit einem Umgang versehenen Gebäude, auf dessen Empore der römische Adler prangte. Julius hörte, wie Galerius den Führern der Hundertschaften befahl, ihre Männer auf die Stuben der langen, schmalen Kasernengebäude zu verteilen. Je acht Legionäre wurden einer Stube zugewiesen. Sie bildeten die sogenannte Zimmergemeinschaft und nächtigten, einmal eingeteilt – wenn sie nicht versetzt wurden oder zu Tode kamen – ihre ganze Dienstzeit miteinander. Diese Zimmergemeinschaften bildeten, wie Julius sehr früh gelernt hatte, die kleinste Einheit der centuria, der Hundertschaft, und schufen damit den Rückhalt der Armee, das gegenseitige Vertrauensverhältnis, die Kameradschaft und die Zuneigung, die in den Kämpfen so überlebenswichtig war. Nur wer sich auf seine nächsten Kameraden verlassen konnte, hatte eine Chance, aus der Schlacht lebend herauszukommen. Diese Grundwahrheit hatte Drusus seinem Sohn eingehämmert: Das contubernium, die Zimmergemeinschaft, hatte Rom groß gemacht. Wenn der Legionär nicht mehr für seinen Kameraden einstünde, würde das Imperium zerfallen.

Der Lagerpräfekt geleitete den auf der Trage liegenden Feldherrn und seine Familie persönlich in die eigens für Imperatoren hergerichtete Wohnung in einem prunkvollen Haus. Auf dem Weg in die Unterkunft wurde Julius von einer bleiernen Müdigkeit überfallen. Nach den Anstrengungen des Marsches und den Aufregungen der letzten Tage sehnte er sich nur noch nach einem Bett. So trottete er mehr, als dass er ging, und hatte keine Augen mehr für das Lager.

Sie überquerten einen rechteckigen Hof, der von Säulengängen umgeben war, und betraten den linken Gebäudeflügel. In der marmorverkleideten Eingangshalle, einem Atrium, stand eine Büste des Kaisers Augustus. Sie bogen in den linken Flur und begaben sich gleich darauf in ein Zimmer mit einem großen Bett in der Mitte, von dem eine Tür in einen großzügigen Nebenraum führte. Behutsam legten die Träger den fiebernden Drusus auf das Eichenbett. Seine Wangen glühten. Der Lagerarzt begann mit der Untersuchung und hielt dabei mit dem Feldarzt ein kleines Consilium ab. Währenddessen zeigte der Lagerpräfekt Julius, Antonia und der Sklavin den angrenzenden Raum, in dem neben einem Tisch aus vergoldetem Kastanienholz, dessen Platte mit Intarsien aus Tiermotiven verziert war, zwei Betten standen. Kaum hatte sich Julius auf eine der beiden Schlafstätten sinken lassen, war er auch schon vor Erschöpfung eingeschlafen.

Er konnte nicht sagen, wie lange er dagelegen hatte, denn tief in Morpheus’ Reich drang ein Furcht einflößender Ton aus der Wirklichkeit. Vergebens mühte sich sein Unterbewusstsein, die grässlichen Laute in seinen Traum hineinzuweben. Von seinem eigenen Aufschrei schließlich geweckt, riss Julius die Augen auf und brach in ein hemmungsloses Weinen aus. Die chaldäische Sklavin, die bei ihm saß, schloss ihn rasch in die Arme.

»Tschu, tschu, ist ja gut, mein Prinz, ist schon gut.« Noch während die Sklavin sich mühte, den Jungen mit ihrem gutturalen Sprechgesang zu beruhigen, hörte er erneut den furchtbaren Lärm.

»Was ist das?«

»Die Wölfe.«

»Die Wölfe?«

»Ja, sie schleichen schon seit Stunden um das Lager und heulen, um den Tod hierher zu locken. Ein Soldat hat mir vorhin erzählt, dass junge Männer durch die Lüfte geritten seien und furchtbare Drohungen ausgestoßen hätten.«

»Junge Männer? Durch die Luft?«

»Ja, über das Lager hinweg. Das wilde Heer. Germanische Jungmannschaften, die sich im Krieg noch nicht bewährt haben und deren Totengeister nun toben.«

»Was bedeutet das?«, fragte der Junge mit weit aufgerissenen Augen. Statt einer Antwort nahm die Sklavin ihn tröstend in die Arme und suchte nach Worten, während sie immer wieder »Ach, ach« murmelte. Antonia erlöste die Chaldäerin schließlich von dem Zwang, dem Kind zu erklären, dass sein Vater im Sterben lag. Sie betrat das Zimmer und streckte die Hand nach ihrem Sohn aus: »Komm, es ist Zeit, sich von deinem Vater zu verabschieden.«

»Nein«, schrie Julius. Und es war nicht zu entscheiden, ob er nur nicht ans Todeslager des Vaters treten wollte oder ob er sich weigerte, für immer Abschied von ihm zu nehmen.

»Haltung, Julius! Du bist ein Römer! Komm jetzt!«, fuhr ihn die Mutter an. Er musterte sie, entdeckte aber in ihrem blassen Gesicht keine Gefühlsregung. Mit gestrafften Schultern stand sie vor ihm, die schönen braunen Augen wirkten großer als sonst und leer. Alles an ihr verkündete ›Haltung‹. Sie zog den widerwilligen Knaben an der Hand in das Sterbezimmer und schließlich an das Bett des Vaters.

Der Wundbrand hatte Drusus’ Lebenskraft völlig aufgezehrt. Das Haar des siechen Schlachtenlenkers klebte in Strähnen an der Stirn, aber seine Augen blickten ruhig, wenn auch erschöpft auf seinen Sohn. Stirn und Wangen glühten. Ausgekämpft, er hat ausgekämpft, durchfuhr es Julius, der in diesen Minuten an jedem anderen Ort der Welt lieber gewesen wäre, nur nicht hier, eher in der Arena mit wilden Tieren als am Sterbebett des Vaters. Er spürte den harten Griff der Mutter, die seine Hand fest umspannt hielt. Dann plötzlich ließ sie ihn los. Es war wie ein kleines Wunder. Julius brachte es über sich, an das große Eichenbett zu treten. Selbst als der Vater tastend seine Hand nahm, ertrug es der Junge das erste Mal seit ihrer Flucht von der Albis.

Sie spürten einander, der sterbende Feldherr die wachsende Kraft seines Sohnes und Julius das entweichende Leben seines Vaters, seine letzten Energien, die auf ihn überzugehen schienen. Mit schwacher, aber gefasster Stimme sprach Drusus: »Dein Onkel Tiberius wird sich um dich kümmern. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen.«

Julius spürte, dass der Vater gegen den Tod kämpfte, dass er um Wimpernschläge feilschte und focht, um seinen Sohn noch einmal anblicken zu können, dass ihm die Kraft für diesen Blick das Wichtigste auf der Welt war und dass er mit dem ganzen Körper darum stritt, bei ihm bleiben zu können.

»Vater!« Drusus sah seinen Sohn an. Aus Angst, dass seine Fragen ihr Ziel nicht mehr erreichten, stieß Julius hervor: »Warum bist du an der Albis umgekehrt?«

»Weil ich zutiefst erschrocken war.«

»Über die Kraft der Germanen, über die Gewalt ihrer Götter?«

Schon auf dem Weg in eine andere Welt flüsterte Drusus kaum hörbar: »Nein, über uns Römer, mein Sohn.«

Und mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen starb Nero Claudius Drusus, der größte Feldherr seiner Zeit, mit neunundzwanzig Jahren, während seine Finger noch die Hand seines Sohnes umschlossen, der nicht verstand, was ihm jetzt widerfuhr: Im Augenblick des Todes ging die Kraft des Vaters tatsächlich auf ihn über. Gleichzeitig durchdrangen ihn zwei gegensätzliche Empfindungen: die Wärme unermesslicher Kräfte und die Kälte des endgültigen Verlustes. Sieht der Sohn sein Ende im Tod des Vaters?