Kaum ein Jahr war vergangen, als Flavus tatsächlich zum Centurio der germanischen Leibwache des Augustus befördert wurde. Arminius und er sahen sich nun häufiger, doch nur für kurze Zeit. Der Kaiser übertrug Gaius Caesar die Aufgabe, nach Kleinasien zu gehen, um in Armenien wieder einen den Römern genehmen Fürsten einzusetzen. Auch beauftragte er ihn damit, die Parther, ein stets gefährliches und widerspenstiges Volk, das alles daransetzte, im Mittleren Orient zur Großmacht aufzusteigen, in die Schranken zu weisen. Arminius sollte den Enkel des Augustus bei dieser seiner ersten großen Mission als Staatsmann und Feldherr begleiten, um Erfahrungen im Umgang mit den Provinzen, den Verbündeten und den Feinden zu sammeln. Außerdem sollte er seine praktischen Kenntnisse der Reitertaktik erweitern. Wenn er sich bewährte, wollte man ihm bald schon ein eigenes Kommando übertragen. Und auch Germanicus sollte nicht in Rom bleiben, auch für ihn war es Zeit, Dienst und Ausbildung im Heer zu beginnen. Er wurde Lucius Domitius Ahenobarbus, dem Befehlshaber der Rhenus-Armee, zugewiesen.
Der letzte gemeinsame Tag der beiden Freunde in Rom bedeutete auch die letzten Stunden ihrer Kindheit – Militärdienst und Kampf, Politik und Krieg erwarteten sie bereits. Doch an diesem Tag wollten Arminius und Germanicus noch einmal Rom und ihre Freundschaft genießen. Und man ließ sie gewähren.
Den Vormittag hatten sie in den Thermen verbracht, zunächst ein Warmwasserbad genommen und ausgiebig geschwitzt. Dann suchten sie gemeinsam die Latrine auf, denn das warme Bad hatte ihre Verdauung gefördert.
Eine Latrine bestand aus einem an der Stirnseite offenen Rechteck. Darin verliefen rechts, links und hinten drei Bänke mit zwanzig oder dreißig Latrinenlöchern. Da es ja in den Mietshäusern keine Toiletten gab, suchten die meisten Römer zur Verrichtung ihrer Notdurft die peinlich sauberen öffentlichen Latrinen auf. Hier ließ sich die Zeit, die man für sein Geschäft benötigte, in angenehmer Unterhaltung verbringen. Zuweilen wurden auch Geschäfte ganz anderer Art abgeschlossen. Selbst Römer, die in ihrem Haus über einen eigenen Abtritt verfügten, suchten der Gespräche wegen die öffentlichen Bedürfnisanstalten auf. Als Arminius das erste Mal in eine öffentliche Toilette mitgenommen worden war, verstörte ihn das sehr, denn er war es gewohnt, zum Zwecke der Entleerung im Wald zu verschwinden und die Angelegenheit allein und ohne Zeugen zu erledigen. Er hatte einen hochroten Kopf bekommen beim Anblick der nebeneinandersitzenden Männer in der Latrine, der eine mit entspanntem, der andere mit verkniffenem Gesicht, schwatzend, furzend und scherzend. Die Gespräche selbst wurden lieblich vom Rauschen der Wasserkanäle untermalt, die sich unter der Latrinenverkleidung oder vor den Sitzbänken entlangzogen, unterbrochen nur durch das gelegentliche Plumpsen der herabfallenden Exkremente, die sogleich vom fließenden Wasser erfasst und in eine der Kloaken Roms gespült wurden, die allesamt in den Tiber mündeten.
Nachdem der Knabe sein Befremden überwunden hatte, empfand er die römische Sitte, sich mit eigens dafür an Stöcken befestigten Schwämmen zu säubern, die anschließend in einer vor den Sitzbänken entlanglaufenden Rinne mit fließendem Wasser ausgespült wurden, als ausgesprochen angenehm und erfrischend. Das war besser als die nassen Blätter zu Hause, die zudem im Winter nicht zur Verfügung standen. Seit Arminius in Rom lebte, war Schluss mit den gelegentlichen, sehr schmerzhaften Wunden an seinem Hinterteil. Mit der Zeit gewöhnte er sich sogar daran, dass sein stilles Geschäft in ein öffentliches verwandelt wurde.
»Wo werden wir bloß unseren nächsten Haufen setzen, Bruder?«, fragte Germanicus in gespieltem Ernst.
»Mögen die Götter es uns inmitten römischer Bürgerärsche tun lassen«, antwortete Arminius.
»Bei Jupiter, wohl gesprochen. Nur um es zu wissen, wo verrichten die Germanen ihr Geschäft?«
»Heimlich im Wald.«
Germanicus verzog angewidert die Miene. »Kacken sie etwa allein? Ohne Gesellschaft? Barbaren!« Er wollte es nicht glauben. »Nicht einmal ein Windchen, das sie miteinander teilen?«
»Das schon. Zuweilen auch eine Böe oder eine Sturmbrise, manchmal glaubt man auch, Gott Donar wohne in den Eingeweiden eines Mannes oder einer Frau, aber nur die Winde sind öffentlich und allen Nasen zugänglich. Um sich jedoch von den Werken ihres Magens und Darms zu trennen, verstecken sich die Cherusker. Niemand darf sie dabei beobachten.«
»Harte Zeiten stehen mir bevor.« Germanicus war kurz davor, in Selbstmitleid zu versinken. Entsetzt schüttelte er den Kopf. »Allein mit meinen Exkrementen!«
»Und wie ist es im Osten?«, wollte Arminius seinerseits wissen.
»Ach«, log Germanicus, »da kacken die Leute erst gar nicht.«
Arminius sah ihn erstaunt an. Der fuhr mit großer Ernsthaftigkeit fort: »Da sind sie so geizig, dass sie sich ohnehin von nichts trennen können.«
»Dummkopf!«, schimpfte Arminius, der dem Freund beinahe auf dem Leim gegangen wäre. Aber er hatte auch so viele fantastische Geschichten über den Osten gehört, dass er wie viele andere Römer meinte, im Osten sei alles möglich.
»Na, würde ich nicht Germanicus heißen, müsste ich auch nicht in den nassen und finsteren Norden.«
»Du sprichst von meiner Heimat.«
Germanicus ging nicht darauf ein. Dass der Freund in dieser Wildnis zur Welt gekommen sein sollte, konnte er sich inzwischen nicht mehr vorstellen, denn aus dem kleinen, zottigen Germanen, mit dem er sich einst auf einem Schiff geprügelt hatte, war längst ein ansehnlicher römischer Jüngling geworden.
»Und würdest du nicht Arminius heißen, müsstest du auch nicht nach Armenien, Prinz Blauauge.«
So verließen sie unter Scherzen froh und erleichtert die Latrine, erfrischten sich im Kaltwasserraum, schwammen und tauchten eine Weile in dem großen Bassin, dessen Boden mit einem Mosaik aus springenden Delfinen verziert war. Anschließend gingen sie in das Theater, das der Tiberinsel gegenüberlag und nach Marcellus, dem verstorbenen Onkel des Germanicus, benannt worden war.
Sie nahmen weit oben in einer der letzten Reihen Platz. Es war, als säßen sie am oberen Rand eines Trichters und schauten auf die tief unter ihnen liegende Bühne herab. Gegeben wurde zunächst eine Pantomime, in der es um eine Frau ging, die ihren Mann begrub und in seinem Grabmahl verhungern wollte, um ihm in den Tod zu folgen, währenddessen jedoch mittels einer List von einem römischen Soldaten verführt wurde und so wieder Gefallen am Leben fand.
Die beiden Jünglinge amüsierten sich prächtig. Germanicus stieß seinen Freund lachend in die Seite: »Gut, dass wir Soldaten werden. Übrigens, wir lernen die trauernde Witwe nachher kennen. Würde sie dir gefallen? Ich hab da etwas arrangiert.« Arminius schaute ihn fragend an, doch Germanicus lächelte nur verschmitzt.
Inzwischen hatte eine ursprünglich griechische Komödie begonnen, in der die Frauen, erbost über die ständigen Kriege der Männer, den ehelichen Beischlaf verweigerten, wenn ihre Männer nicht zur Vernunft kämen und endlich Frieden schlossen. Arminius fand das Stück sehr interessant, doch Germanicus winkte nur höhnisch ab: »Typisch Griechen, lassen sich von jedem Weiberrock beherrschen.«
Die anschließende Tragödie ermüdete die beiden so sehr, dass sie einnickten. Vom Schlussapplaus geweckt packte Germanicus den Freund am Handgelenk und zog ihn eilig mit sich. Gegen den Strom der Zuschauer, die das Theater verließen, arbeiteten sie sich bis hinunter zur Bühne. Dort empfing sie ein Sklave, führte sie durch den Bühneneingang aus dem Theater zu einer kleinen Taverne unmittelbar am Tiber. Er deutete auf einen großen, mit Wein, Wasser, Speisen und Blumen gedeckten Tisch. Kaum hatten sie sich niedergelassen, da stürmten auch schon die hungrigen und durstigen Schauspieler herein und setzten sich zu ihnen. Ganz Mann von Welt, lobte Germanicus die Aufführungen, besonders die Schauspieler, und ließ sich auch eingehend über die Darbietung aus, die sie verschlafen hatten. Arminius staunte.
»Honig!«, schrie Germanicus zum Wirt hin, nachdem er den Wein gekostet und die Miene verzogen hatte. »Ist der etwa vom vatikanischen Hügel, oder hast du uns gleich Essig serviert? In den Wein muss dringend Honig.« Dienstbeflissen schleppte der Wirt in einer Karaffe flüssigen Honig herbei, goss ihn in den Wein und verrührte das Ganze. Germanicus kostete erneut und lobte den Wirt, der nun vom Halunken zum Meister aufgestiegen war. Arminius bewunderte den Freund für seine Leutseligkeit, für die Gabe, eine ganze Tafel zu unterhalten und wie von selbst zum Mittelpunkt der Gesellschaft zu werden.
Als er vom Wasserabschlagen wieder in die Taverne trat, war es, als habe sich ein Schleier vor seine Augen gelegt. Alles wirkte milder, sanfter gezeichnet. Auch hatte er das Gefühl, sich auf einem schwankenden Boot zu befinden. Die Schauspielerin, die in der Pantomime das trauernde Eheweib, das sich zur feurigen Geliebten des Soldaten mauserte, gegeben hatte, stand plötzlich vor ihm und lächelte ihn verführerisch an. Germanicus hatte eine andere Schauspielerin untergehakt und zog sie schwankend mit sich. Bevor er mit ihr in den Hinterräumen verschwand, drehte er sich noch einmal zu dem Freund um, lächelte schief und raunte: »Zeit für die Kavallerie!«
Die Frau vor Arminius küsste ihn auf den Mund, der ihm mit einem Mal riesig und flammend rot vorkam, dann griff sie nach seiner Hand und zog ihn durch den Gastraum in einen Flur und schließlich in einen finsteren Korridor, von dem ein paar Zimmer abgingen. Sie waren kaum in einem schlecht beleuchteten Raum angekommen, da befreiten ihre Hände ihn von der Toga, griffen beherzt unter seine Tunika und öffneten den Unterleibswickel, der zu Boden glitt. Arminius spürte die Wärme, die sich in einem Punkt versammelte und herauswollte, die Sehnsucht, in die Dunkelheit zu fließen. Er sah die Frau an. Es war nicht Elda.
»Nein«, sagte er und blickte in zwei verwunderte Augen.
»Nein!«, wiederholte er entschieden.
»Willst du einen Knaben?«
»Nein, ich will gar nicht!«
Die Frau grinste gewöhnlich. »Da sagt mir meine Hand aber etwas anderes.« Ihre Stimme klang unangenehm vertraut. »Entspann dich.« Jetzt spürte er die Trunkenheit schwer wie Blei, er wollte fort, konnte sich jedoch nicht lösen und sank ins Nichts, dabei sich verströmend … Wie lange das ging, wusste er nicht.
Das Nächste, was er wahrnahm, war eine Kerze, die den Raum ein wenig beleuchtete, und die Frau, die nun über ihm wippte, und deren Gesicht zu zerfließen schien. Er stieß sie von sich. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich den Wickel um den Unterleib geschlungen und die Tunika übergezogen hatte. Die Toga legte er sich einfach über die Schulter. Instinktiv spürte er, dass er in seinem Zustand die Kunst, sie mit perfektem Faltenwurf um den Körper zu schlingen, nicht mehr beherrschte. Als er endlich das Zimmer verließ, schaute er sich aus Scham nicht nach der Frau um. Er tastete sich durch den dunklen Flur bis zum Hintereingang und gelangte von dort ins Freie.
Die frische Luft traf ihn wie ein stumpfer Holzblock an der Stirn. Er schwankte und wankte immer weiter, bis er nah am Ufer auf die Knie sank. Als er versuchte, sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht zu schaufeln, verlor er das Gleichgewicht und fiel mit dem ganzen Oberkörper in den Fluss. Aber es war gut, es war gut so. Das kühlende Nass erfrischte ihn. Mehrmals tauchte er den Kopf unter. Dann steckte er sich den Finger in den Hals und erbrach. Er zog sich aus und badete im Tiber. Danach fühlte er sich besser, legte sich nackt ins Gras und schaute in den Sternenhimmel.
»Tiberinus, der Flussgeist, ist ans Ufer gekrochen. Was sagt man denn dazu?« Es war Germanicus. Arminius richtete sich auf, der Freund setzte sich zu ihm.
»Besser?«
»Ja.«
»Unser letzter Abend. In ein paar Stunden schon geht es in die Welt hinaus, bis an die Grenzen des Imperiums.«
Sie schauten auf die Silhouette der Stadt, auf die Tempel, die Gesteinsmassen der Mietshäuser, Theater und Arenen, auf das an unterschiedlichen Stellen gespenstisch in der Stadt aufflackernde Licht der Fackeln.
»Wenn ich in Germanien bin, soll ich jemanden etwas von dir bestellen?«
»Ja, sag meinem Vater, dem Cheruskerfürsten Segimer, dass ich lebe und dass es mir gut geht.«
»Verlass dich auf mich.«
»Und …«, begann Arminius und hielt inne. Etwas warnte ihn davor, weiterzusprechen.
»Und?«, fragte Germanicus. Arminius spürte, dass er einen Fehler beging, doch er verdrängte die dunkle Anwandlung und schaute dem Freund ins offene Gesicht.
»Sag auch Elda, der Tochter des Segestes, dass ich an sie denke. Und beschütze sie, wenn ihr Gefahr drohen sollte!«
»Sie muss etwas ganz Besonderes sein, wenn du nach so vielen Jahren immer noch an sie denkst.«
Als er den neugierigen und vor allem unternehmungslustigen Blick des Freundes sah, wusste Arminius, dass es falsch gewesen war, von Elda zu sprechen.