12

Arminius marschierte zwischen seinem Bruder und dem Chatten. Sie durchquerten eine Villenlandschaft mit prachtvollen Gutshäusern inmitten fruchtbarer Pflanzungen. Zuweilen erblickten sie einfache Bauernhäuser zwischen kleinen Äckern oder auch lang gezogene und schmucklose Wohngebäude in der Nähe der Villen für die Sklaven. Zur Rechten zeichneten sich immer deutlicher die Umrisse einer Stadt ab. Aus Pflichtgefühl und aus Zeitvertreib memorierten sie lateinische Vokabeln, als plötzlich der Zug vor ihnen zum Stehen kam. Die römische Würde, die gravitas, missachtend, die ihm sonst so wichtig war, eilte Salvianus geschwinden Schrittes auf die drei zu. Sein hüpfender Gang und das unentwegte Pumpen der Unterarme erinnerten sie an ein aufgescheuchtes Huhn, und sie lächelten beim Anblick des heranflatternden Lehrers. Von Weitem schon rief Salvianus keuchend: »Kommt! Kommt, Kinder! Seht den Princeps!«

Den beiden cheruskischen Jungen verging augenblicklich das Lächeln, ihre Mienen wurden aufgeregt und ernst. Es verschlug ihnen den Atem. Gleich sollten sie mit eigenen Augen den großen Herrscher des Imperium Romanum sehen, Augustus, den Gebieter über Leben und Tod, den nicht wenige wie einen Gott verehrten. Welchem germanischen Kind war jemals diese hohe Ehre zuteilgeworden?

Arminius und die beiden anderen hatten Mühe, mit dem vorauseilenden Lehrer Schritt zu halten. Sie hasteten vorbei an den wartenden Legionären. Die Mittagssonne nahm derweil sanft in der Landschaft Platz. Als Arminius fast die Bahre mit dem toten Feldherrn erreicht hatte, riss ihn plötzlich jemand am Kragen zurück.

»Halt. Es ziemt sich für uns nicht, bei dem Toten und seinen Verwandten zu stehen«, raunte ihm Salvianus zu. Vor der Bahre warteten Tiberius, Antonia und Julius. Mit unbewegten Mienen schauten sie auf den Hügel, der sich vor ihnen erhob. Das Gras rechts und links neben der Via Aemilia hatte die Sonne gelb gebrannt. Noch war es voll und stark, dachte Arminius, und ist doch bereits dem Tod geweiht. Aber er wusste, dass alles, was jetzt starb, im Frühjahr wieder kommen würde, so Nerthus wollte. Deshalb opferten die Cherusker der Göttin Rinder und Dinkel – manchmal auch gefangene Feinde.

Das Wunder der Welt aber erschien zu Fuß. Ein Mann, etwas kleiner als Tiberius, mit einem eher gewöhnlichen Äußeren, ungepflegt, bärtig, die Haare struppig, bekleidet mit einer einfachen Tunika und einer weißen Toga schritt seelenruhig allein vom Hügel herab wie ein gewöhnlicher Kaufmann, den die Geschäfte in die Fremde führten. Und dennoch ging von dieser alltäglichen Erscheinung eine überlegene Ausstrahlung aus. Dieser Mann besaß eine so wichtige und außergewöhnliche Persönlichkeit, dass er es sich erlauben durfte, höchst einfach aufzutreten. Im Gegenteil, die stilsicher in Szene gesetzte Schlichtheit erhöhte nur seine Autorität.

Arminius erkannte, was Tiberius gemeint hatte, als er davon gesprochen hatte, jemand sei zum Herrschen geboren. Dieser Mann dort, der wie ein einfacher Kaufmann auf der abschüssigen Straße ausschritt, war eigens allein zum Regieren auf die Welt gekommen. Als Augustus den halben Weg zwischen der Hügelkuppe und dem Leichnam des Drusus zurückgelegt hatte, setzte sich – in deutlichem Abstand zu ihm – auch seine Prätorianerkohorte in Bewegung, seine persönliche Schutzgarde, die eine Sänfte mitführte.

Als sich der Kaiser näherte, legten Tiberius, Antonia und Julius ihre rechte Faust aufs Herz und senkten ehrerbietig den Kopf. Doch Augustus kam mit ausgebreiteten Armen und einem Blick, in dem Mitgefühl, Anteilnahme und abgrundtiefe Traurigkeit miteinander wetteiferten, auf sie zu. »Nicht doch, nicht doch!«, rief er. »Ihr seid die Trauernden. Euch gebühren Trost und Ehrerbietung, nicht mir! Habt ihr doch den Leichnam auf euren Händen aus dem kalten Germanien in die Heimat getragen. Und obschon das alles richtig ist, verzeiht mir, empfinde ich die weit größere Trauer, denn mir verbleibt der schlimme Dienst, den Verlust Roms, den Schmerz des Senates und das Leid des Volkes auf mich zu nehmen. Und wahrlich, welch größeres Missgeschick kann ein großes Volk treffen, als seinen besten Feldherrn zu verlieren!«

Obwohl Arminius’ Lateinkenntnisse bereits ausreichten, um den Princeps zu verstehen, begriff er doch nicht den Sinn der Ansprache. Aber sie faszinierte ihn, denn tief in seinem Innern spürte der wache Knabe, dass die Rede des Kaisers weniger dem ähnelte, was ein Mann dem anderen mitzuteilen hatte, sondern mehr dem Vortrag eines cheruskischen Sängers. Die Worte richtete Augustus nicht an den Einzelnen, sondern an die ganze Welt. In den Augen des Kaisers standen Tränen. Noch nie hatte Arminius einen Mann weinen sehen. Das galt bei den Germanen als weibisch, und doch minderten die Tränen des Augustus zu seinem Erstaunen nicht die Würde des Herrschers. Denn in seiner Trauer erkannte der Junge instinktiv auch eine gefährliche Drohung.

»Der Ehemann ist dir, meine teure Nichte, genommen worden, und dir, mein lieber Tiberius, der Bruder. Und dir …«, der Princeps beugte sich zu Julius hinunter und zog ihn an sich, »mein lieber Junge, der Vater. Nichts kann diesen Verlust ersetzen. Rom aber wurde ein kräftiger Schwertarm abgehauen. Schmerz ist deshalb in meinem Herzen. Selbst die Götter sind voller Gram. Erfüllen wir unsere traurige Pflicht. Lasst uns heute den Feldherrn heimbringen.«

Augustus sprach nicht sehr laut, dennoch verstanden ihn selbst die Legionäre der letzten Reihe. Seiner wohltönenden Stimme lauschte man gern. Anders als die raue Aussprache des Feldherrn wirkte die Stimme des Princeps geschmeidig und träufelte, wenn er es wollte, wie Balsam in den Ohren. Nun aber holte Augustus tief Luft. Den Arm um Julius’ Schultern gelegt brüllte er laut mit befehlsgewohnter Stimme: »Er soll zu seiner Ehre, zu Ehre seiner Familie in meinem Mausoleum in Rom ruhen. Soldaten, bringen wir euren Imperator nach Hause! Der heutige Tag gehört allein dem Klagen, der morgige aber der Rache!«

Und die Legionäre antworten wie mit einer Stimme: »So soll es sein, Caesar!« Denn für sie war er Caesar, der Kaiser, der Sohn des ersten, des vergöttlichten Gaius Julius Caesar.

Arminius fröstelte mit einem Mal, so kalt wurde ihm plötzlich ums Herz. Denn er begriff, dass der Mann, der dort von Rache sprach, auch die Macht besaß, seine Drohungen in die Tat umzusetzen. Der Herrscher nahm seinen Arm von Julius’ Schulter, und dieser wich einen Schritt zurück. Die Prätorianer langten unterdessen am Fuß des Hügels an. Der Sänfte entstieg nun eine Frau in einem dunklen Kleid. Ihr Haar verbarg eine schwarze Stola. Anders als der Kaiser wirkte sie kühl und zurückhaltend.

»Das ist Livia, die Frau des Augustus und Mutter des Drusus und des Tiberius«, flüsterte Salvianus seinen Schützlingen zu. Arminius wunderte sich über die Selbstbeherrschung, die Livia angesichts der Leiche ihres Sohnes bewahrte. Germanische Frauen wären längst in lautes Wehklagen ausgebrochen. Dann fragte er den Lehrer: »Und Augustus ist der Vater?«

»Nein, Tiberius und Drusus entstammen der ersten Ehe der erlauchten Livia.«

Nun staunte der kleine Cherusker noch mehr, denn die Gefühle des Stiefvaters für den Toten übertrafen offensichtlich die der leiblichen Mutter.

Arminius spürte, dass der Blick des Princeps auf ihm ruhte, doch Augustus sagte nichts und schien sich auch nicht nach ihm zu erkundigen. Es war eher ein kurzes, nachdenkliches Mustern. Nicht die geringste Kleinigkeit schien dem stets aufmerksamen Blick des Herrscher zu entgehen.

Augustus nahm Julius bei der Hand und trat mit ihm hinter der Bahre. Die Träger hoben den Toten auf, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Hinter der Bahre schritten der Kaiser und der Sohn des Feldherrn, es folgten die Sänfte mit der Mutter des Nero Claudius Drusus und schließlich dessen Ehefrau Antonia und sein Bruder Nero Claudius Tiberius. Dahinter reihten sich die Prätorianer vor den Legionären ein. Arminius, der das Ganze beobachtete, wurde von Salvianus mitgezogen, um mit ihm, Germir und dem Chatten wieder einen Platz am Schluss des Zuges einzunehmen. Allen voran schritt auf der sonnenerwärmten Reichsstraße ein Flötenspieler, der eine Totenklage in die mittägliche Landschaft blies, mit langen lydischen Intervallen, unsagbar traurig. Wie der Schrei einer Zikade, der sich endlos verlängerte.

Als sie endlich den Kamm des Hügels erreichten, klappte den cheruskischen Jungen vor Staunen der Unterkiefer herunter. Soweit das Auge reichte, säumten römische Bürger mit gesenkten Köpfen zu beiden Seiten die Straße, um dem Feldherrn die letzte Ehre zu erweisen. Soweit Arminius zu sehen vermochte, zog sich das Spalier der trauernden Bürger hin. Mit was für einem Volk haben wir Cherusker es hier nur zu tun?, hämmerte es in seinen Schläfen. Werden wir die Römer je besiegen können? Ihm wurde bang ums Herz. Hatte Segestes, Eldas Vater, doch recht mit seiner Ansicht, dass man mit den Römern im Bunde leben musste, wenn man nicht untergehen wollte?

Ticinum war eine jener eintönigen römischen Provinzstädte, in der das Leben der reichen Oberschicht einer nie enden wollenden Mittagsruhe glich. Nichts Ungewöhnliches passierte. Der Ehrgeiz dieser Leute erschöpfte sich darin, die eigene Macht am Orte auszubauen und es durch Handel und Ackerbau oder Steuerpacht zu einigem Wohlstand zu bringen. So verlief das Leben zwar langweilig, aber es war sicher. Hielt man sich von der Politik fern, so verschonte sie einen auch. Falls es einen jedoch danach gelüstete, Karriere zu machen, besonders wohlhabend und besonders einflussreich zu werden – was oftmals das Gleiche war –, dann empfahl es sich, der Heimat den Rücken zu kehren. Mächtig konnte man nur in Rom, dem Haupt der Welt, werden, nicht aber in diesem norditalischen Provinzstädtchen.

Lucius Cottus hatte dem Senat der Hauptstadt angehört. Nachdem aber viele seiner Jugendfreunde dem Gemetzel der Bürgerkriegszeit zum Opfer gefallen waren und schon in ihren Gräbern ruhten, hatte er sich in die Provinz zurückgezogen. Dort wurde er immer reicher und genoss die Freundschaft des Princeps, den er bereits zu einer Zeit mit Geld, Rat und Kontakten unterstützt hatte, als noch kaum jemand einen Denar auf den jungen ehrgeizigen Politiker setzte. Nein, Lucius hatte bereits in jungen Jahren weise beschlossen, es sei für ihn gesünder, der Erste in der Provinz zu sein anstatt der Zweite in der Hauptstadt.

Augustus vergaß Lucius Cottus das frühe Bekenntnis zu seiner Person und seine Hilfe nicht. Deshalb nahm der Kaiser mit seinem Gefolge auf der Durchreise nach Rom selbstverständlich im Stadthaus seines alten Freundes Quartier. Außerdem fand sich kein größeres und schöneres Haus in der Stadt als das des Lucius Cottus. Der Hausherr ließ es sich nicht nehmen, allen Gästen persönlich die Zimmer zuzuweisen und dafür Sorge zu tragen, dass sie sich waschen und stärken konnten.

Den Lehrer und die cheruskischen Knaben brachte man allerdings bei den Legionären und Prätorianern im kleinen Militärlager vor der Stadt unter. Den Chatten hatte man für seine Übersetzungsdienste mit großem Dank bedacht und nach Hause entlassen, weil man seine Hilfe nun nicht mehr benötigte. Die Kinder verstanden und sprachen inzwischen gut genug Latein, dass Salvianus mit dem Unterrichten fortan allein zurechtkommen würde.

Nachdem Antonia und Julius sich im hauseigenen Bad gewaschen und anschließend verköstigt hatten, zogen sie sich in das ihnen zugewiesene Zimmer zurück, das im ersten Obergeschoss des zweistöckigen Hauses lag. Es wirkte zwar nicht allzu groß, aber geschmackvoll eingerichtet. Und da es zum Innenhof hinausging, war es ungewöhnlich hell und luftig, weder stickig noch zu warm.

Ermüdet von dem zu Herzen gehenden Empfang, den die Bürger von Ticinum seinem Vater, seiner Familie und ihm bereitet hatten, begab sich Julius schon früh zu Bett. Er schloss gerade die Augen, als ein Sklave ihm mitteilte, dass Augustus ihn sogleich im Speisezimmer, das wegen der im offenen Karree aufgestellten drei Speisesofas Triklinium hieß, zu sprechen wünsche. Der Sohn des toten Feldherrn streifte eilig die Knabentoga über die Tunika, band sich die sandalenartigen Schuhe und wollte sich schon auf den Weg machen, als seine Mutter ihm übers Haar strich. »Hab keine Angst, mein Sohn. Er ist dein Großonkel.« Mit diesen Worten ließ Antonia ihn gehen. In seinem Rücken spürte der Knabe ihren nachdenklichen Blick.

Dass der Princeps ihn zu dieser späten Stunde zu sich befahl und noch dazu ins Triklinium, das eigentlich nur den Männern vorbehalten blieb, erfüllte Julius mit Stolz und Vorsicht zugleich. Was es auch war, das der Kaiser von ihm wollte, es konnte nur etwas sehr Wichtiges sein. Das Speisezimmer galt als der vielleicht ehrenvollste Raum in einem römischen Stadthaus, einem domus, das nur derjenige betreten durfte, den der Hausherr ausdrücklich eingeladen hatte. Anders verhielt es sich mit dem Atrium und dem anschließendem Tablinum, das jedem offen stand, der ein Anliegen vorbringen wollte. Diese Räume dienten der Repräsentation.

Der Sklave, dem Julius folgte, führte ihn über die Treppe hinab ins Erdgeschoss und an der Küche vorbei in einen langen Gang auf den von Säulenhallen umgebenen Innenhof. Von dort ging es in den Garten, in dem sich der Hausherr einen Pavillon hatte errichten lassen, der ihm auch als Sommerspeiseraum diente. Wie Julius wusste, besaßen die Häuser reicher römischer Römer meist mehrere, oft drei bis vier verschiedene derartige Säle, die je nach Anlass und Jahreszeit benutzt wurden. Ihre Anzahl und die Feinheit der Ausstattung galten als Statussymbol.

Vor dem Eingang des Pavillons loderten zwei Fackeln, deren Funken in den prächtig bestirnten Nachthimmel emporstoben. Der Sklave blieb stehen und trat zur Seite. Klopfenden Herzens betrat Julius den Pavillon. Um einen reich verzierten Tisch aus Elfenbein und Mahagoni standen in der üblichen Anordnung über Eck die drei großen Speisesofas. Auf dem rechten, das längs zu ihm stand, lag Lucius Cottus auf dem vorderen Platz, der ihm als Hausherrn traditionell zustand. Augustus hatte selbstverständlich den Ehrenplatz auf dem Quersofa hinter dem Tisch eingenommen, während auf dem linken Längssofa Tiberius lag. Freundlich sahen die Männer den Knaben an.

»Komm, leg dich zu uns. Leg dich zu deinem Onkel«, forderte ihn der Kaiser liebenswürdig auf. Julius’ Wangen glühten vor Aufregung – einem Jungen, der noch die Knabentoga trug, stand es nicht zu, beim Mahl zu liegen. Er musste wie die Frauen zu Tisch sitzen. Damit erwiesen ihm die Männer eine hohe Ehre, und es war nicht irgendjemand, der ihn so auszeichnete.

»Komm iss und trink mit uns.« Auf dem Tisch standen Rebensäfte und Wein, Wasser und das teuerste Getränk von allen: Eiswasser, das Cottus eigens aus den Alpen mit großem Aufwand herbeischleppen und dann in tief gegrabenen Eiskellern aufbewahren ließ. Auf der mit Intarsien verzierten Tischplatte drängten sich Platten mit gebratenem Fasan, gegrillten Pfauenzungen und einem gekochten Fisch, den Julius jedoch nicht kannte. Ihm fiel auf, dass Augustus Eiswasser trank, während Tiberius und Cottus freudig dem Wein zusprachen. Julius legte sich zu Tiberius, ließ aber einen Platz zwischen sich und ihm frei und schaute erwartungsvoll zum Princeps.

»Tiberius hat uns von deinen Abenteuern und deinem Mut berichtet«, sagte Augustus mit einem wohlwollenden Lächeln. »Erzähl uns, junger Mann, wie hat dir Germanien gefallen?«

Julius blickte unsicher zu seinem Onkel, der ihm aufmunternd zunickte. Dann murmelte er mit belegter Stimme: »Es ist ein Land für Tiere.«

»Und doch hat dein Vater sein Leben darangesetzt, es zu erobern.«

Julius lief rot an. Er bereute seine Antwort. Doch der Kaiser lächelte nachsichtig.

»Nichts auf der Welt wird je wie Rom sein.«

Lucius brach in ein derart dröhnendes Lachen aus, dass der Junge zusammenfuhr. »Doch, doch, Ticinum.«

Augustus warf dem Gastgeber einen Blick zu, in dem sich Missbilligung und Belustigung mischten.

»Mein lieber Lucius, ich fürchte, dir ist dein eigener Falernerwein zu Kopf gestiegen.« Julius war dem Gastgeber dankbar, dass er ihn von dem Zwang erlöst hatte, antworten zu müssen. Und der so liebenswürdig Getadelte hob, wie um das Gegenteil zu beweisen, seinen goldenen Becher, nahm einen kräftigen Schluck und sagte: »Was ist Rom, wenn Augustus nicht in den Mauern der Stadt ist? Ein Speisesaal ohne Speisen. Und was dagegen mein kleines, liebes Ticinum, wenn Augustus hier weilt? Ich will es euch sagen, dann ist Ticinum Rom, denn Augustus ist Rom, und wo Caesar weilt, da wird Rom sein.«

Die Männer schmunzelten. Julius bewunderte die elegante Schmeichelei des Hausherrn – man spürte die Absicht und war dennoch erfreut.

»Schlau, mein alter Freund, denn wenn ich widerspreche, müsste Augustus den Augustus wegen Majestätsbeleidigung anklagen. Und dennoch will ich es versuchen. Wie kann Augustus Rom sein, wo es Rom schon vor Augustus gab und nach seinem Hinscheiden weiter existieren wird?«

»Das mag sein, aber eine Welt ohne Augustus mag ich mir nicht vorstellen, deshalb bleibe ich dabei, für mich ist Rom Augustus, und wo Augustus ist, ist Rom. Und sollte das Undenkbare eintreten, dass Augustus eines Tages nicht mehr auf Erden weilt, dann habe ich mich hoffentlich längst zu den Ahnen aufgemacht und warte darauf, dass der vergöttlichte Augustus mich in meinem jenseitigen Triklinium besuchen wird.«

»Dagegen lässt sich freilich nichts sagen. Und besuchen werde ich dich auch dort, alter Freund, schon um deine Schmeicheleien nicht entbehren zu müssen. Aber du bist uns noch eine Antwort schuldig, Julius. Warum also wollte dein Vater das Land erobern, das du nicht haben willst?«

Julius schrak unmerklich zusammen, denn er hatte gehofft, dass Augustus ihr kleines Gespräch inzwischen vergessen hatte. Doch dann blickte er dem Herrscher offen in die Augen. »Weil mein Vater dieses Land unterwerfen wollte.«

»Und unterworfen hat«, fügte Tiberius hinzu.

»Glaubst du, dass wir Germanien als Provinz benötigen?«, fragte Augustus weiter.

»Mein Lehrer sagt, Rom ist ein Mann, der nicht aufgehört hat zu wachsen.«

»Ein schönes Wort von deinem Lehrer.«

»Ich glaube, dass alle Völker sich glücklich preisen können, wenn sie die Segnungen unserer Herrschaft genießen dürfen.«

»Wohl gesprochen, junger Drusus.« Julius fühlte sich geehrt und war in diesem Augenblick stolz, dass der Princeps ihn mit dem Namen seines Vaters angesprochen hatte.

»Weil dein Vater Germanien unterworfen und das Siegeszeichen an der Albis errichtet hat, sollen er und auch du, weil du ihn begleitet hast, und alle deine Nachkommen, kleiner Julius, den Namen Germanicus, Germanenbezwinger, tragen. So werde ich es in fünf Tagen anlässlich der Beisetzung von Drusus in meinem Mausoleum auf dem Marsfeld in Rom vor allen Senatoren, Rittern und Plebejern verkünden. Erweise dem Namen Germanicus, den dir dein Vater erfochten hat, Ehre, junger Mann.«

Julius strahlte vor Glück. Das gequälte Lächeln, mit dem sein Onkel Tiberius die Worte des Kaisers begleitet hatte, verunsicherte ihn nur kurz. Rasch tilgte er diesen gewiss falschen Eindruck aus seinem Gedächtnis. Augustus winkte einen Sklaven herbei und ließ seinen und den Becher, der bei dem Knaben stand, mit Wein füllen. Dann erhob er den Goldbecher. »Darauf lasst uns trinken, dass du von heute an Germanicus bist!«

Die Männer lachten den Knaben an, dann führten sie ihre Becher zum Mund. Der Junge tat es ihnen gleich, innerlich vor Freude jubelnd über diesen Namen. Es schien ihm, als sei der Name ein Versprechen, ein Gelübde seines Vaters, ihn sein ganzes Leben lang zu begleiten, als verbinde dieser Name Sohn und Vater über den Tod hinaus. Der Wein schmeckte süß und bitter zugleich.

»Deine erste Aufgabe, Germanicus«, fuhr Augustus fort, »besteht darin, dem jungen Germanen, den wir Arminius nennen, römisches Denken und römische Sitten unentbehrlich zu machen, denn wir wollen durch Germanen wie Arminius über Germanien herrschen. Lerne mit ihm, freunde dich mit ihm an, mach ihn dir und uns zum Bundesgenossen!«

In der Nacht konnte Julius lange nicht einschlafen. Verwirrende Bilder jagten durch seinen Kopf. Er stellte sich vor, dass er an der Albis stand, das Riesenweib über den Fluss kam, aus dem Boot stieg und vor ihm niederkniete. Laut rief sie in bestem Latein: »Heil dir, Germanicus, das Land jenseits des Flusses, das Land unserer Götter, unserer Heiligtümer und Reichtümer liegt ergeben offen vor dir. Betritt es, Herr! Nimm es in Besitz!«

Bald darauf, er wusste nicht zu sagen, wann, ging das Wachen allmählich in Schlummern über, die Bilder folgten ihm in den Traum. Doch wie wir das Spiel unserer Fantasie auch zu lenken verstehen, sind wir doch unseren Träumen ausgeliefert. Denn kaum hatte der Knabe im Traum das jenseitige Ufer erreicht, fielen die Germanen über ihn her und begannen, ihn bei lebendigem Leibe mit scharf geschliffenen Unterschenkelknochen auszuweiden. Er blutete, doch er starb nicht, er schrie, bis die Stimme der Mutter an sein Ohr drang und ihre Hände ihn aus dem Alb rissen. Schweißgebadet schaute er sie mit wirren, furchtsamen Augen an: was für ein schreckliches Land, dieses Germanien!