Obwohl er mit dem Bauch auf dem Widerrist des Pferdes lag und sein Kopf nach unten hing, fand Ergimer rasch heraus, wohin die Reiter jagten. Zu seinem Schrecken hielten sie auf das Lager der Cherusker zu, in dem sich zu dieser Stunde nur die Kinder der Stammesführer befanden, weil sich die Eltern auf dem Thingplatz berieten. Was hatten die Feinde vor? Wollten sie etwa die Söhne und Töchter der Fürsten als Geiseln nehmen? Der Junge traute es ihnen sogar zu, die Kinder niederzumetzeln. Er wusste inzwischen nur zu gut, dass die Legionäre vor nichts zurückschreckten, zumal die Kreuzigung ihrer Kameraden sie sicherlich bis aufs Blut gereizt hatte.
Der Anführer zügelte den Rappen, der wiehernd mitten auf dem Platz des cheruskischen Zeltlagers stehen blieb. Ergimer verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, sich umzublicken. Das Lager wimmelte zwar von Römern, aber nirgends sah er den Sohn oder die Tochter eines Cheruskerfürsten. Die Türfelle der Zelte waren heruntergelassen. Nichts erinnerte mehr an die freundliche Atmosphäre, die hier noch bis vor Kurzem geherrscht hatte. Lieder waren erklungen, die Knaben hatten sich im Speerwerfen geübt, ausgelassen herumgetollt, gescherzt und gespottet. Stattdessen nahm Ergimer jetzt nur die Atmosphäre der Gefahr und des Todes wahr, die von den Römern ausging. Angst schnürte ihm die Kehle zu.
Ergimer fiel auf, dass einige Legionäre Bärte und sehr langes Haar hatten. Zudem trugen sie wollene Hosen und Schlauchhemden unter den Kettenhemden. Verräter, dachte er verächtlich, Ubier oder Chatten, die sich nicht schämten, den fremden Kriegsknechten als Hilfstruppen zu Diensten zu sein.
Wie einen Sack Korn warf der Legionär den Jungen achtlos vom Pferderücken. Trotz des dumpfen Schmerzes, der ihn beim Aufprall auf dem Boden durchfahren hatte, sprang Ergimer sogleich auf die Füße und wollte fliehen, da hatte ein Chatte mit mächtigem, rotem Bart schon seinen Speer auf ihn gerichtet.
»Bleib stehen, Bürschchen!« Mit aller Verachtung, zu der er fähig war, spie Ergimer dem Mann ins Gesicht. Der lief rot an vor Wut und holte mit dem Speer aus. Doch der Knabe, nicht weniger zornig, ballte die Fäuste und machte noch einen Schritt auf den Verräter zu – in dem Bewusstsein, dass ihn gleich Walachurrâ nach Tyrwal bringen würde. Für ihn, der vor wenigen Tagen schon einmal auf dem Weg dorthin gewesen war, hatte diese Vorstellung jeglichen Schrecken verloren.
Doch bevor ihn die Spitze des pilum durchbohren konnte, hielt die befehlsgewohnte Stimme eines Römers, eines Mannes mit blitzendem Brustpanzer und golddurchwirkter Borte an der purpurnen Tunika, den Chatten zurück. Über seine Schultern lag locker der tiefrote Feldherrenmantel. Ergimer sah dem Germanen an, dass er nur widerwillig den Wurfspeer sinken ließ.
Neugierig musterte er den Römer, der den Befehl gegeben hatte. Ein harter Kriegsherr, ein Gesicht wie verwittertes Feldgestein. In seinen braunen Augen aber las der Junge eine abgrundtiefe Traurigkeit. Der Römer näherte sich Ergimer und betrachtete ihn eindringlich. Dann sprach er zu ihm in der fremden Sprache, die das Kind nicht verstand. Wie es seine Aufgabe zu sein schien, übersetzte der Germane in römischen Diensten.
»Pass auf, Dummkopf! Der mit dir redet, ist der große Feldherr Tiberius. Verbeug dich vor ihm. Er fragt dich, ob du der Sohn des Segimerius bist.«
»Mein Vater heißt Segimer! Und nie werde ich den Nacken vor einem römischen Hund beugen!«, erwiderte der Junge trotzig.
Für die Respektlosigkeit fing er sich von seinem Bewacher einen derben Stoß in die Seite ein. Er zuckte zusammen, hustete, richtete sich aber gleich wieder auf. Er dachte an seinen Vater und sah ihn vor seinem inneren Auge leibhaftig vor sich, wie er in der Nacht den Eindringlingen entgegengetreten war und auch, was er wenig später mit den Legionären gemacht hatte. Bei diesen Bildern huschte dem Jungen ein geringschätziges Lächeln über die Lippen, das den Römern galt, die sich noch so sehr als die Herren der Welt aufspielen konnten und doch besiegbar waren.
Sogleich raunte ihm der feindliche Germane zu: »Segimer können die Römer nicht aussprechen. Deshalb heißt dein Vater bei ihnen Segimerius. Und wie heißt du?«
»Ergimer!«
Auf Tiberius Zeichen hin fesselten die Legionäre den Jungen, drückten ihm ein schmutziges Tuch als Knebel in den Mund und schleiften ihn in eines der Zelte. Er brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das Halbdunkel des Zeltes gewöhnt hatten. Außerdem war es darin stickig, weil die Römer die Eingangsfelle heruntergelassen hatten, die gewöhnlich nach oben geklappt waren, um frische Luft einzulassen. In der Hütte kauerten bereits andere Kinder, ebenfalls gefesselt und geknebelt. Als er die Angst in ihren unsteten Blicken sah, überwand er seine Furcht und seine Wut und blinzelte ihnen zu, um ihnen Mut zu machen. Kinder fesseln, das können sie, diese Hundskerle, dachte er grollend.
Längst hatte er das Gefühl dafür verloren, wie lange er nun schon so dasaß. Die Fesseln schnürten ihm inzwischen das Blut in den Armen ab. Und die Zeit verfloss im Grau des endlosen Wartens. Nach einer Ewigkeit spürte er eine Unruhe, die plötzlich im Lager anhob. Aufgeregte Stimmen erfüllten den Platz, Stimmen, die nach Kindern fragten oder riefen. Die Männer und Frauen waren bei der Rückkehr vom Thing durch die Anwesenheit der Römer überrascht worden und sorgten sich nun um das Leben ihrer Nachkommen. Schließlich hörte Ergimer die Stimme seines Vaters aus dem Sprachgewirr heraus. Segimer gebot den anderen zu schweigen, bevor er die Römer zur Rede stellte. Und wieder übersetzte der verfluchte Chatte: »Warum brichst du den Frieden?«
»Weil ihr ihn gebrochen habt. Ihr habt zwölf römische Soldaten gekreuzigt und die anderen erschlagen!«, erwiderte Tiberius barsch. Er wollte weder Zeit noch Worte verschwenden. Schon gar nicht mit einem Barbaren.
»Soldaten?«, höhnte der Vater. »Wie können Steuereintreiber Krieger sein? Wie Blutsauger Helden? Männer, die Kinder erschrecken und das Vieh töten?«
Ergimer fuhr bei einem Geräusch zusammen, das er inzwischen kannte: Schwerter wurden gezückt! Und er hörte, wie sein Vater spottete: »Welche Angst musst du erst vor meinem Schwert haben, wenn du schon vor meinen Worten zitterst!«
Jetzt vernahm Ergimer eine andere Stimme, die des Segestes, des Vaters von Elda. »Wir haben uns geeinigt, Imperator. Die Cherusker sind bereit, sich mit Rom zu verbünden. Wir sind auch bereit, Tribut zu entrichten.«
»Keine Steuern!«, forderte Segimer.
»Dann nennen wir die Steuern Tribut. Geschenke an Verbündete!«, entgegnete der Römer zynisch.
»Wo sind unsere Kinder?«
Offenbar auf einen Wink des Imperators hin betraten zwei Legionäre das Zelt, packten Ergimer grob und schleiften ihn hinaus. Wie er vermutet hatte, standen die zwölf cheruskischen Fürsten mit ihren Frauen den Römern gegenüber. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, dass andere Soldaten auch seinen älteren Bruder Germir herbeizerrten. Als Segimer seine Söhne sah, wollte er einen Schritt auf sie zu machen, wurde jedoch von gezückten römischen Schwertern daran gehindert.
Kurz und knapp teilte Tiberius dem zornigen Fürsten mit, dass er seine Söhne als Unterpfand für den geschlossenen Vertrag mit nach Rom nehmen würde. Die anderen Kinder befänden sich, gefesselt zwar, aber wohlauf, in den Zelten. Die Frauen hielt nun nichts mehr. Sie drangen in die Zelte ein, um ihre Kinder zu suchen. Der Feldherr ließ es geschehen, Frauen interessierten ihn nicht. Die cheruskischen Gefolgsherren aber verharrten in ihren Positionen, denn noch war nicht alles besprochen.
Nur zu gern hätte Ergimer die Römer angebrüllt, dass er nicht nach Rom wolle, doch der Knebel hinderte ihn am Sprechen.
Segimer wandte sich an Segestes: »Warum meine beiden Söhne, warum nicht einen Sohn von mir und einen von dir?«
»Weil du derjenige von uns bist, der immer gegen den Vertrag war. Sogar auf dem Thing noch mussten wir dich überstimmen. Und weil du es warst, der die Legionäre gekreuzigt und damit Krieg und Tod über unsere Häupter gebracht hat. Dass deine Söhne in Rom sind, soll dich immer daran erinnern, den Vertrag treu einzuhalten.«
Segimers Gesicht lief rot an vor Zorn. »Bist du schon ein Knecht der Römer?«, fragte er mit gefährlich leiser Stimme.
»Nein, ein Freund, kein Knecht. Diese Freundschaft ist das Beste für unser Volk. Es wäre dumm, sich diesen mächtigen Nachbarn zum Feind zu machen, anstatt von ihm zu lernen und mit ihm zu handeln.« Dann lächelte Eldas Vater hintersinnig: »Du solltest mir danken, deine Söhne bekommen in Rom die beste Ausbildung, die man sich denken kann. Hör auf, in der Vergangenheit zu leben, Segimer! Eine neue Zeit ist angebrochen!«
Doch Segimer hörte ihm längst nicht mehr zu. Er wandte sich an Tiberius: »Gewähre uns zwei Tage Aufschub, damit sich meine Söhne von ihrer Mutter verabschieden können.«
»Wer sagt mir, dass du sie nicht verstecken wirst?«
»Du hast mein Wort, dass ich sie dir in zwei Monden an einen Ort bringen werde, den du bestimmst!«
»Warum sollte ich dir glauben? Nimm Abschied, Barbar!«
Atemlos hatte Ergimer den Wortwechsel verfolgt. Was er hörte, raubte ihm fast die Sinne. Er sollte seine Heimat verlassen. Man wollte ihn nach Rom bringen, weit weg von seinem Vater, seiner Mutter, seinen Freunden, und auch von Elda. Aber das würde sein Vater niemals zulassen. Niemals. Der Mann, der die römische Übermacht gefällt hatte, würde auch seine Söhne befreien. Ergimer klammerte sich an diese Hoffnung, und umso mehr er sich ihr hingab, umso ruhiger wurde er.
Segimer verabschiedete sich von Germir, dann trat er zu Ergimer, nahm ihm den Knebel aus dem Mund und umarmte ihn.
»Du wirst uns doch befreien. Nicht wahr, wir müssen nicht nach Rom?«, flüsterte der Junge hastig.
»Nein, mein Sohn, ich kann nichts tun … wir haben auf dem Thing Frieden beschlossen«, antwortete der Vater leise mit gebrochener Stimme.
Ergimer schossen die Tränen in die Augen, und er fühlte sich plötzlich leer, von seinem Vater verlassen, ja verraten. Er wandte den Kopf ab, weil er ihm nicht mehr in seine Augen sehen wollte. Ihm war, als stürze seine Welt ein. Plötzlich hörte er Eldas Stimme, die vom Wald herbeigelaufen kam.
»Nein, nein Vater. Das kannst du nicht zulassen!« Alle Augen richteten sich auf sie, und Ergimer schalt sie in seinem Inneren, denn er fürchtete, dass die Römer auch sie verschleppen würden. Mutig trat sie vor den Feldherrn und sagte: »Nimm mich statt Ergimer!« Der Chatte übersetzte.
»Pah, was soll ich mit einem Mädchen?«, sagte Tiberius und wandte sich ab. Segestes zog seine Tochter grob zu sich und brüllte sie an: »Was hast du dich da einzumischen?«
»Wir sind keine Römer, wir sind Cherusker, Vater! Wir alle, Männer und Frauen, Mädchen und Jungen! Jeder darf reden! So ist es Brauch!« Der Widerspruch seiner Tochter vor aller Augen reizte den Fürsten, und er ohrfeigte sie kräftiger, als er eigentlich gewollt hatte. Sie spuckte Blut.
»Ist das deine neue Zeit, dass die Frauen nicht mehr mitreden dürfen, Segestes?«, höhnte Segimer. Die Verachtung, die in den Worten mitklang, ignorierend befahl Segestes seiner Tochter barsch, zu ihrer Mutter zu gehen. Sie habe hier nichts zu suchen. Doch sie hörte nicht auf ihn. Ihre Blicke trafen sich mit denen Ergimers. Schnell huschte sie zu ihm und umarmte ihn. Dann nahm sie ihr Amulett ab, ein kostbares Amulett aus Bronze und Mondstein, und legte das Lederband, an dem es hing, um seinen Hals. »Es soll dich beschützen! Wo du auch sein magst! Ich bin bei dir.«
»Und ich bei dir!« Rasch löste auch Ergimer seinen Glücksbringer vom Hals, in dessen Gold ein seltsames Wesen eingeschlossen war, ein Schutzgeist, wie der Junge glaubte. Sie blickten an sich hinab auf ihre getauschten Amulette, die sie zum Schutz vor bösen Geistern und Verwünschungen trugen. Dann umarmten sie sich noch einmal, fest und fester, als ob sie so miteinander vollkommen verschmelzen könnten, dass nichts auf der Welt sie mehr zu scheiden vermochte.
In diesem Moment sprengte ein römischer Bote in gestrecktem Galopp ins Lager. Sein Rappe war fast weiß vor Schaum und Schweiß. Der Bote fiel mehr vom Pferd, als dass er abstieg, und taumelte erschöpft zum Feldherrn. »Imperator, Antonia schickt mich. Du sollst, so schnell es geht, nach Aliso kommen, wenn du deinen Bruder noch lebend antreffen willst.«
»Drusus?«, entfuhr es dem Feldherrn halb fragend, halb verwundert. Eilig gab er den Befehl zum Aufbruch. Die Reiter der Hundertschaft saßen auf. Der Centurio ergriff Ergimer brutal an Arm und Bein und riss ihn von Elda fort, die nun ihrerseits derb von ihrem Vater am Arm gepackt wurde. Sie trat nach ihm, biss und versuchte vergebens, sich zu befreien.
Der Legionär legte Ergimer erneut vor sich auf den Widerrist, während Segimer wie angewurzelt stehen blieb und keinen Finger rührte, um ihn zu befreien. Germir erging es ebenso. Kurz und barsch befahl Tiberius: »Galopp!« Und schon sprengten die Reiter davon.
Elda entwand sich ihrem Vater und rannte ihnen hinterher. Doch so flink sie auch war, so sehr sie auch ihre ganze Kraft einsetzte, sie vermochte sie nicht mehr einzuholen. Wieder war es, als flöge sie über den Boden, doch nicht schnell genug. Im Gegenteil, die Römer entfernten sich mit ihrer menschlichen Beute unaufhaltsam.
Keuchend blieb Elda stehen und brach in ein verzweifeltes Schluchzen aus. Immer wieder rief sie Ergimers Namen. Diese lang gezogenen und durch die wachsende Entfernung immer leiser werdenden Rufe waren das Letzte, was der Junge von dem Mädchen hörte, mit dem er noch vor wenigen Stunden am Bach in der Senke gespielt hatte. Auf seiner Brust brannte Eldas Amulett.