27

Gleich zu Beginn ihrer Wanderung gebot der Priester Arminius zu schweigen. »Man nähert sich der Göttin nicht mit Geschwätz und Tändelei. Nutze den Weg, um dich zu prüfen. Du wirst alle Kraft brauchen.« Das waren die letzten Worte, die er von Istvaez hörte.

Zwei Tage benötigten die beiden zu Fuß. Arminius bewunderte das ungeheuere Blau des Meeres, eine tiefe, satte Farbe, ernster als das verspielte Azur des Mare Adriaticum, das er bei seinen Feldzügen in der Dalmatica gesehen hatte. Wasser und Wellen waren kräftig und rau, als sei das Ostmeer oder das Mare Suebicum, wie die Römer es nannten, die Wiege der Götter.

Bald darauf verschlang die beiden wieder ein dichter Wald, der zuweilen in eine sumpfige und morastige Senke führte, in der Gräser und Farne wucherten und umgestürzte Baumstämme im Einverständnis mit der Zeit still vermoderten. Arminius und Istvaez aßen nichts, tranken nur gelegentlich aus einer kleinen Quelle. Sie plagten sich mit Myriaden von Mücken, die sie bei lebendigem Leib auszusaugen schienen. Dann gab sie der Wald wieder frei, und sie standen unvermittelt vor einem Graben.

»Es ist soweit«, raunte Istvaez seinem Begleiter zu.

Die Sonne stand im Zenit, als sie das Hindernis über einen kleinen Holzsteg passierten. Dahinter erhob sich eine mächtige Palisadenwand. Arminius vernahm ein leises, aber stetes Trommeln. Der Priester lief rechts an den geschälten und geschwärzten Stämmen vorbei, deren Höhe zwei Manneslängen betrug und die so dicht beieinanderstanden, dass Arminius nicht einmal durch eine Ritze ins Innere zu spähen vermochte. Die Palisaden standen in einem Halbkreis, dem sie nun folgten. Das Trommeln nahm an Lautstärke zu. Arminius war es, als schlügen die Stöcke gegen die Innenwand seines Magens. Gut, dass dieser leer war – der aufwühlende Rhythmus hätte mit Sicherheit dessen Inhalt aufgewühlt. Schließlich standen sie vor einem Tor, das den Weg ins Innere des Heiligtums freigab.

Zwei bewaffnete Männer, von Istvaez als ›Hüter‹ angesprochen, erkundigten sich bei dem Priester nach seinem Begleiter. Nachdem er sie unterrichtet hatte, wurde Arminius gefesselt und auf einen kleinen Holzwagen gesetzt, den Istvaez hinter sich herzog, so aber, dass Arminius mit dem Rücken nach vorn saß und dadurch gezwungen war, zurückzuschauen. Er überblickte den Weg, den sie zurückgelegt hatten, nicht aber das, was vor ihnen lag. So sah er nicht, was auf ihn zukam. Jeder Möglichkeit, sich zu verteidigen, beraubt, fühlte er sich äußerst unwohl und vollkommen ausgeliefert.

Sie durchquerten ein zweites Holzwerk. Nach ein paar Schritten blieb Istvaez stehen, ließ sich auf dem Boden nieder und schloss die Augen. Nichts geschah, nur der eintönige Rhythmus der Trommeln war zu hören. Quälend langsam verrannen viele Stunden. Durch die Stricke und die dadurch erzwungene unbequeme Haltung starben Arminius allmählich die Glieder ab. Als die Sonne sich dem Meer näherte, Wind aufkam und es dunkler und kühler wurde, hatte er das Gefühl zu schweben, denn unterhalb seiner Gürtellinie war sein Körper nun vollkommen taub. Er spürte nur einen stärkeren Wind, der gegen seinen Rücken blies. Hinter ihm musste das Meer liegen, in dessen Brandung sich der Trommelklang einbettete.

Endlich, als es bereits dämmerte, drang ein menschlicher Gesang, dessen Worte er zunächst nicht verstand, an sein Ohr. Der Ton kam von unten her, wie Wasser aus dem Sumpf. Der Klang erfüllte die Luft. Istvaez wendete den Karren, auf dem Arminius saß, und dieser sah seine Vermutung bestätigt: Vor ihm lag das weite Meer. In der Ferne, dort, wo Himmel und Erde zusammenstießen, befand sich Tyrwal, dort wohnten die Götter und vielleicht auch er eines Tages. Doch noch war es nicht soweit.

Das Heiligtum thronte auf dem Sporn der Steilküste. Im Halbkreis, dessen Glied Arminius war, knieten zwei Dutzend Männer in langen roten und blauen Gewändern. Vor dem Horizont mit der blutrot im Meer untergehenden Sonne flog langsam eine bronzene Sonnenscheibe auf Rädern, die von zwei goldenen Pferden, die ebenfalls auf Rädern gelagert waren, gezogen wurde. Kunstvoll geschmiedet bewegte sich die Sonnenscheibe in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit von rechts nach links wie von Geisterhand getragen – der Sonnenwagen und die Sonnenpferde im Dienste von Sunna, der Tagbringenden.

Danach erschienen neun Wesen in schwarzen langen Gewändern, die seltsame Köpfe trugen. Im Profil erinnerten sie mit ihren verhüllten Armen und Händen und den Vogelmasken an übergroße Graureiher. Sie stellten eine Säule auf, die in den Himmel ragte. An zwei Querstreben hingen zwei schwarze Halbkugeln, die mit rot glühenden Feuerzeichen verziert waren. Als die Säule schließlich stand und die neun Wesen niederknieten, bewegte sich die Sonnenscheibe wieder von links nach rechts, nur dass sie diesmal, statt golden zu glänzen, schwarz und matt erschien, so als sei die Sonne verdunkelt. Sie war auch verdunkelt, denn nun brach die Nacht an, und Sunna reiste durch die Unterwelt, während ihre Schwester, Sinthgunt, die Nachtgebende, den Himmel beherrschte.

Jetzt verstand Arminius den Sinn des Rituals. Er erlebte die Reise der Sonne durch den Tag und durch die Nacht, die sich täglich vollzog und gleich gefährlich blieb, denn die Riesen und der große Fenriswolf wollten Sunna und Sinthgunt, Sonne und Mond, verschlingen, auf dass ewig dunkle Nacht wäre und sie ihre schaudervolle Herrschaft auf Erden errichten konnten. Die neun Wesen aber waren die Asen, die Beschützer der Sonne und des Mondes. Sie hatten die Irminsul errichtet, die Weltachse, die von der Unterwelt über die Mittelwelt, in der sie alle lebten, zur wirklichen Welt führte, zu Tyrwal.

Nun endlich verstand er die Bedeutung des alten germanischen Gesanges und tauchte in ihn ein:

»Von Süden die Sonne
Des Mondes Gesell
Schlang die rechte
Um den Rand des Himmels:
Die Sonne kannte
Ihre Säle nicht;
Die Sterne kannten
ihre Stätte nicht;
der Mond kannte
seine Macht noch nicht
Drei Wurzeln
gehen nach drei Seiten
von der Irminsul
Fenris wohnt unter einer
Unter der anderen die Riesen
Unter der Dritten das Schwertvolk.«

Nachdem Sinthgunt am Fuß der Irminsul verharrte, verstummten die Trommelklänge und Gesänge. Die Zeit stand still, denn Sunna und Sinthgunt hatten ihre Reise unterbrochen, und die Nornen hörten auf, das Schicksal zu weben. Selbst das Meer fiel in einen tiefen Schlaf, die Wellen hielten in ihrer ewigen Bewegung an, und die Brandung verebbte am Gestein der Küste. Tiefrot und gelb umzüngelt schossen von der Steilküste Flammen ohne Zahl nach oben und leckten verführerisch und gierig an dem weißen Küstenfelsen. Das Feuer, das seine züngelnden Feuerschwerter nun in einem dicken Rauch verbarg, war gefräßig und bereit, die Welt zu verschlingen. Doch wo Gefahr war, wuchs Rettung auch. Aus der schwarzen Wolke vor dem tiefblauen Himmel, die der inzwischen matt und ausgebleicht daliegenden See ihre dunkle Farbe geraubt hatte, und dem allerletzten Licht der Sonne, das im Schwarz der Wolke erstarb, schoss plötzlich ein Wagen von unten über den Rand der Steilküste, den zwei nackte Männer mit weißen Leibern zogen, und hielt auf die Irminsul zu. Auf dem Bock saß eine riesige Frau, dahinter erhob sich eine Art Gestell, das so groß war, dass es selbst die Riesin überragte. Ein dichter weißer Vorhang entzog dem Blick, was sich dahinter verbarg. Ein Vorhang wie geschwemmte Kreide.

Die Frau stieg vom Wagen. Sie trug einen Wolfskopf, ihren mächtigen Leib bedeckten bunte Felle. Eberzähne in den verschiedenen Farben und Gebein in unterschiedlicher Größe zierten die Kleidung. Ihr Gesicht hatte die Geheimnisvolle geschwärzt und vier weiße Streifen von innen nach außen gezogen. Das musste Gana sein, die Priesterin, die vor einem Menschenleben Drusus von der Albia, der heiligen Grenze, vertrieben und mit einem Schadenszauber belegt hatte, der ihm kurz darauf auch tatsächlich den Tod brachte. Sie verbeugte sich vor Nerthus, die sich hinter dem Vorhang befand, der ein Schutz für die Priester war, denn niemand, auch keiner ihrer menschlichen Diener durfte die Göttin je sehen – er wäre augenblicklich des Todes.

Arminius verfolgte das alles mit Staunen, Neugier und Furcht zugleich. Würdevoll schritt Gana zur Irminsul. Zwei blau und zwei rot gewandete Priester schleppten einen riesigen Bronzekessel herbei, der reich verziert war mit der Darstellung von Opferhandlungen. Arminius vermutete, dass ein mittelgroßer Mensch bequem Platz im Kessel gefunden hätte. Mit bloßen Händen nahm Gana aus den beiden Halbkugeln der Irminsul glühende Holzkohlen und schob sie in einen Haufen von Holzscheiten, die vor der Säule aufgeschichtet waren. Nach einer Weile brannten die Scheite lichterloh. Zwei andere Priester reichten ihr einen Stabdolch und eine Doppelaxt, beides aus geschmiedeter Bronze und uralt.

Dann trug ein Priester, den Arminius zum ersten Mal sah und der ein Gewand, das zur Hälfte rot und zur anderen Hälfte blau gefärbt war, ein Lamm herbei. Er hielt es über den Kessel, während Gana dem Tier mit der scharfen Doppelaxt die Halsschlagader öffnete, sodass sein junges Blut vom immer schlaffer werdenden Herzschlag in den Kessel gepumpt wurde. Nachdem das Tier ausgeblutet war, hieb Gana mithilfe der Doppelaxt vom leblosen Körper den Kopf des Lamms ab und warf ihn in den Kessel, in dem inzwischen das Blut zu kochen begann. Nun öffnete sie mit dem Stabdolch den Bauch des Opfertieres und entnahm die Innereien, die sie in eine Bronzeschale legte. Damit ging sie zu Nerthus und verschwand hinter dem Vorhang. Es dauerte eine ganze Weile, bis Gana wieder erschien und nun auch die Innereien, die Nerthus geprüft und offenbar für gut befunden hatte, in den Kessel warf. Sie wartete eine Weile, dann bückte sie sich und hielt ihr Haupt tief in den Kessel, um im Sud des Blutes und der Eingeweide zu lesen.

Aus dem Abgrund der Erde, aus den Wurzeln der Irminsul schien sich ihre Stimme zu befreien, die beladen war mit dem Wissen der Welt:

»Zeugt Nacht Zeit
Trägt Nacht Tag
Kreißt der Mond
Reißt der Himmel
Mächtig der Mensch
Ohne Arg der Adler
Beuglos der Bär
Doch aus Dunkelland
Rückt an der Räuber
Will fangen den Adler
Will binden den Bär
Will fesseln
Den Freien
Aber Tag Wächst
Aus Nacht
Schlimmes geschieht
We! wurt skihit –
Oh Irmintyr – König der
Könige – Schmied der Schwerter
Führ uns den Fürsten
Scharf wie die Schneide
Eisig wie Eisen
Feurig wie Flammen
Held der Helden
Heim ins Hirschland.«

Gana verstummte, erhob ihr Haupt und ging auf Istvaez zu. »Bringst du den König der Krieger?«, fragte sie ihn streng.

»Ich bringe einen Jüngling, der früher Ergimer hieß und jetzt Arminius genannt wird. Ob er der König der Krieger ist, weiß ich allerdings nicht.«

Gana wandte sich nun an Arminius: »Bist du der König der Krieger?«

»Nein, ich bin nicht der König der Krieger«, antwortete er beklommen. Ein Raunen ging durch die Priester. »Aber ich bin der, der es sein wird«, fügte er mit fester Stimme hinzu.

»Bist du sicher?«

»Ja, das weiß ich.«

»Warum bist du dann hier, wenn du alles weißt?«

»Ich werde nur König der Krieger sein, wenn die Götter der Krieger es genauso wollen. Mit ihnen ist alles, gegen sie ist nichts. Nerthus muss mich salben, Wotan mir beistehen und Tyr mir das Schwert führen.«

»Sag, was du wünschst!«

»Eure Fürsprache! Eure Hilfe! Euren Rat!«

»Mehr nicht?«

»Viel mehr noch, ich benötige nämlich das Wort der Göttin.«

»Was für ein Wort?«

»Das Wort von dem, was sein soll.«

»Das ist das Schwerste. Du weißt nicht, wie dein Reich aussehen soll?«

»Wie kann ich das wissen?«

»Du bist der König!«

»Ich bin Nerthus’ König, und es ist ihr Reich, wie es das Reich der Germanen sein wird, nicht mein Reich, sondern das Reich aller Germanen.«

Der Vorhang raschelte. Gana trat wieder zu Nerthus, blickte hinter den schweren Stoff und hörte eine ganze Weile zu. Arminius war, als vernähme er ein Wispern, das nicht von einer, sondern von tausend Stimmen herrührte, als flüsterten alle Gräser und alle Halme des Germanenlandes miteinander. Als Gana zurückkehrte, nahm sie die Doppelaxt und hielt auf ihn zu, die kultische Waffe fest mit den Fingern umspannt, so als wollte sie ihn damit erschlagen. Arminius schloss die Augen. Hatte er die Prüfung nicht bestanden, endete hier sein Weg?

Plötzlich fühlte er, wie die Stricke von ihm abfielen. Er wollte aufstehen, doch er stürzte, denn ihm waren inzwischen alle Glieder eingeschlafen. Zwei Priester eilten herbei und stützen ihn. Sie führten ihn zum Kessel. Das Feuer unter dem Behälter war unterdes erloschen und das Blut erkaltet. Sie setzten ihn hinein. Gana schöpfte mit einem bronzenen Kegel das Blut, so wie es kam, über seinen Kopf, seine Schultern, sodass es an ihn herabfloss. Dann gab sie ihm von den Innereien zu essen. Die Wärme des Lebens ging von dem Opfertier auf ihn über, drang durch alle Poren.

Gana schaute auf ihn herab. »Du bist der König.«

Jubel brach aus. »Der König ist da!«

Die Priester halfen Arminius aus dem Kessel heraus und führten ihn zu Nerthus. Langsam kehrte das Leben in seine abgestorbenen Gliedmaßen zurück. Er kniete vor dem Wagen. Dann hörte er Ganas Stimme, eine Stimme, die er niemals im Leben vergessen würde, so hoch, dass sie wie eine hauchdünne Sehne in sein Gehirn schnitt, immer aufs Neue:

»Vieles weiß ich,
Fernes schau ich: Der Rater Schicksal,
der Schlachtgötter Sturz
Brüder kämpfen
Und bringen sich Tod,
Brudersöhne
Brechen die Sippe;
Arg ist die Welt,
Schwertzeit, Beilzeit,
Schilde bersten,
Windzeit, Wolfszeit,
bis die Welt vergeht –
nicht einer will
den anderen schonen.
Vieles weiß ich,
Fernes schau ich:
Einen Saal seh ich
Sonnenglänzend,
mit Gold gedeckt,
wohnen werden
dort wackre Scharen,
der Freuden walten
in fernste Zeit.«

Gana kniete nun vor Arminius nieder und schaute ihm dennoch auf gleicher Höhe in die Augen. Jetzt erst entdeckte er, dass sie ein blaues und ein braunes Auge besaß.

»König, mit dir seien die Nornen, mit dir die Asen, mit dir die weisen Frauen, mit dir die Priester, die Gefolgsherren und die Krieger, die Frauen und Kinder unserer Stämme. Manches werden dir die Priester sagen, vieles aber musst du selbst erkennen, darin besteht deine Aufgabe!«

Damit erhob sich Gana und nahm wieder auf den Bock des Wagens Platz. Die Männer zogen den Wagen, wendeten und jagten die Steilklippe hinab. Zwei Priester geleiteten den König zurück zur Säule. Gesang und Trommelklang erfüllten erneut die Luft, Sinthgunt und Sunna setzten ihre Reise fort, die Zeit erwachte aus ihrer Erstarrung, die Wellen wogten wieder, die Brandung brauste von Neuem und die Nornen spannen wie eh und je eine Stunde wieder an die nächste. Die Welt füllte ihre Lungen mit Atem, und das Leben setzte wieder ein.

Die Priester ließen Arminius ihren Rat wissen. Nicht im kommenden, sondern im darauffolgenden Jahr solle er zuschlagen, erst gegen die Römer, dann gegen Marbod. Und er solle sich erst am Tag des Aufstandes als König zu erkennen geben, bis dahin war Vorsicht geboten. Denn überall hatte der Verrat seine Fallstricke ausgeworfen. Wem durfte man trauen? Niemand konnte das mehr sagen. »Brudersöhne/Brechen die Sippe«, hatte Nerthus verkündet.

Die Priester würden mit den Fürsten sprechen. Elda, so rieten sie, könne die Kunde zu den Frauen tragen. Arminius aber müsse Sorge tragen, dass die germanischen Hilfstruppen hinter ihm stünden, denn Germanien, das in tausend Stämme zerfallen war, existierte bisher nur in dieser von den Römern erschaffenen Streitmacht. Sie hatten Germanien in Gestalt der Hilfstruppen erst geschaffen, um es zu beherrschen, die Streitmacht, die sich nun gegen sie wenden sollte. In der Legion, die aus Cheruskern, Marsern, Brukterern, Chauken, Semnonen, Rugiern, Usipetern, kurz, aus Germanen der vielen Stämme bestand, würde die Freiheit geboren werden.

So war das Bündnis geschmiedet. Arminius schwor, dass er als König der Krieger die Freiheit bringen werde. An dem undenkbaren Tag, an dem er sie aber verraten würde, sollte ihn der vielfältige Tod treffen.

Und dann glaubte er auf einmal zu träumen. Die vogelähnlichen Wesen erhoben sich. Sie nahmen mit anmutigen Bewegungen ihre Masken ab und ließen die Gewänder herabgleiten. Vor ihm standen Frauen unterschiedlichen Alters in einfachen weißen Gewändern. In der Mitte aber entdeckte er zu seinem Erstaunen Elda. Hatte er sie nicht bei dem Fischer zurückgelassen? Die Priester der Nerthus oder die Wächter mussten sie während der beiden Tage, in denen er mit Istvaez zu Fuß zum Heiligtum unterwegs war, abgeholt und hierher gebracht haben.

Dann wurde ihm plötzlich heiß und kalt. Schlagartig wurde ihm nämlich bewusst, dass auch sie des Todes gewesen wäre, wenn er die Prüfung nicht bestanden hätte. Über dem weißen Kleid trug sie einen blauen Umhang, der mit einer goldenen Fibel, die Rubine zierten, zusammengehalten wurde. Ihr üppiges, blondes Haar bändigte eine Kappe aus Goldblech, die mit drei Reihen von Saphiren, Aquamarinen und Rubinen besetzt war. Um ihren Hals lag eine Kette aus Bernstein. Doch am hellsten und klarsten von allen Edelsteinen leuchteten ihre blauen Augen. Augenblicklich begriff Arminius, dass Nerthus die Vereinigung, die heilige Hochzeit forderte, die sie zu König und Königin machen würde.

Das Paar wurde durch das Heiligtum geführt, dann durch zwei hintere Durchgänge durch die Palisaden und über kleine, steile Stufen den im Mondlicht strahlend weißen Kreidefelsen hinunter geleitet. Am Strand stand eine kleine Hütte.

Istvaez legte ihre Hände ineinander. »Von nun an sollt ihr alle Nächte und alle Tage wie diese Nacht miteinander teilen. In Freud und in Leid, in Sieg und in Niederlage.«

Die Priester warteten, bis Arminius und Elda die Hütte betreten hatten, in der ein behagliches Feuerchen brannte, denn vom Meer drang eine empfindliche Kühle herüber, dann stiegen sie wieder die Steilklippe hinauf.

Die Sinne der beiden jungen Leute und ihre Körper, ihre Gedanken und ihre Gefühle hielten in dieser Nacht, in dieser Hütte am Strand Hochzeit. Ganz gleich, was die Zukunft auch für sie bereithalten sollte, sie gehörten zusammen, auf immer.

Am anderen Morgen erfrischten sie sich in den kühlen Wellen des Ostmeeres. Das kalte Wasser prickelte auf ihrer Haut. Sie genossen diesen Augenblick, der ewig hätte währen mögen, doch Heban wartete bereits mit den munter tänzelnden Pferden, ungeduldig wie Zukunft, die beginnen wollte.