José Laredo

alias Big Fate
alias Big Fe

30. APRIL 1992

 

8:14 UHR

1 Payasas Sofa ist aus den Siebzigern, total klumpig. Ich habe darauf die ganze Nacht keinen Schlaf gekriegt, die Knarre in der Hand habe ich nach jedem Auto gehorcht, das vorbeifuhr, jedes Mal sicher, das ist Jokers Gang, die zurückschlagen will – bis es vorbeigefahren ist und sie es nicht waren, und dann habe ich mir Gedanken um das nächste Auto gemacht.

Die Finger meiner rechten Hand sind völlig verkrampft, also schüttele ich sie erst mal aus und blinzele ins gelbe Licht, das oben durch die Vorderfenster scheint, über die alten gestreiften Vorhänge hinweg. Es ist Morgen. Das weiß ich.

Aber ich kann auch nicht mehr als ein paar Stunden hier gelegen haben, weil Payasa hinterher zuerst zu ihrer mamá musste, um ihr zu erzählen, was mit Ernesto passiert ist und wie sie denen, die es getan haben, die gerechte Strafe verpasst hat, aber was danach kam, das war hässlich. So Exorzist-mäßig. Stampfen, Heulen, Schreien. Heilige wurden angerufen. Payasita wurden Vorwürfe gemacht, aber Lil Mosco noch viel mehr. Wir sind erst weg, als ihre Tante rübergekommen ist – die eine, die nicht reden kann, weil sie als Kind in Mexiko ihre Zunge glatt abgebissen hat, als sie von einem Pferd getreten wurde – und die hat dann pozole gekocht, irgendwann weit nach Mitternacht.

Auf dem Rückweg bin ich bei Ernesto vorbei, um nachzusehen, ob die Leichenschneider ihn schon eingesammelt haben, hatten sie aber nicht. Die Stadt war zu sehr mit Brennen beschäftigt, schätze ich, seine Leiche lag nämlich immer noch in der Gasse, das schwarzweiß gestreifte Hemd seiner Schwester immer noch auf dem Gesicht wie diese traurigen Flaggen, die man über Soldatensärge hängt. Wenn dir das kein Loch in den Bauch reißt, dann weiß ich auch nicht, Mann.

Ich höre die Kühlschranktür auf- und wieder zugehen, dann Clever in Hausschuhen durch die Küche schlurfen, weil er zu faul ist, die Füße zu heben. Er hat Hunger, aber selbst holt er sich nie mehr als ein Glas Saft. Er wartet immer, dass ich was brate, vorher isst er nichts. Vielleicht Eier, obwohl nur noch vier da sind. Papas. Wir haben keinen Schinken mehr. Tomaten auch nicht. Bisschen chorizo ist noch da, aber die ist kalt. Haben wir gar nicht mehr gegessen nach allem, was gestern Abend los war.

Payasas Tür ist zu. Sie ist noch da drin mit Lorraine. Sie waren die ganze Nacht ruhig. Wie auf so ’nem Friedhof. Ich muss wissen, wie es ihr geht, aber ich bin nicht besonders scharf drauf, dass sie rauskriegt, was ich gemacht habe, denn der Scheiß nagt so heftig an mir, dass ich es bald nicht mehr verbergen kann.

Und es schmerzt auch irgendwie, und ich will nicht unbedingt drüber nachdenken, wenn ich nicht muss, also gehe ich zum Fernseher und schalte ihn an, drehe die Lautstärke ganz runter und lege mich wieder aufs Sofa. Ich erwarte dasselbe wie jeder halbwegs intelligente Gangster in L.A., versteht ihr? Recht und Ordnung, klar und gerade.

Also Cops in voller Montur, mit so Westen an, die den Scheiß unter ihre Kontrolle bringen. Sheriffs, die Schwachköpfe verhaften und sie hinten in vergitterte Streifenwagen sperren, zur Weiterbearbeitung: Aussagen. Fingerabdrücke. Fotos. Knast. Eben eine Horde Schläger in Uniform, die ein großes Netz über die Straße schleifen und darin die idiotas fangen, die Besoffenen, die Zugedröhnten – diejenigen, die viel zu lange auf der Party geblieben sind und jetzt für alles bezahlen müssen, was alle anderen angestellt haben.

Aber als der Bildschirm summend hell und das Knistern allmählich leiser wird, formt sich ein Bild aus den vielen zusammengemischten Farbklecksen, formen sich Straßenzüge. Rennende Leute. Leute, die Sachen wegtragen. Ich sehe nicht, was ich erwartet habe. Nicht mal annähernd. Ich sehe genau das Gegenteil.

Und ich blinzele, bis ich ganz sicher bin, dass ich das auch wirklich sehe, was da in Compton abgeht, wo jede Menge Scheiß auf der Straße liegt. Das sieht alles aus, als wäre ein Tornado da durchgefegt. Klamotten, Klopapier, kaputte Fernseher, Getränkedosen, irgendein herumwehendes Zeug, das wie Zuckerwatte aussieht, aber das kann es nicht sein. Auf keinen Fall. Überall zersplittertes Glas, auf Bürgersteigen, Bordsteinen, bis auf die Straßen, sieht aus wie glitzerndes Konfetti, das man niemals anfassen will.

Und Feuer. Scheiße. Feuer in Mülltonnen. Feuer in Eckläden. Feuer in Tankstellen, verdammte Scheiße! Feuer über Feuer, und der Qualm schraubt sich in den Himmel, als würde er ihn abstützen. Wie so Tischbeine. So sehen die Rauchsäulen aus.

Die Nachrichten schalten zu einer Hubschrauberkamera, und der Himmel – Mann, der Himmel ist gar nicht mehr blau oder so halbgrau wie an den schlimmsten Smogtagen. Sieht aus wie nasser Zement. So dunkles Grau, dass es fast schwarz aussieht. Und scheißschwer.

Da wird mir klar, dass ich ein Kriegsgebiet sehe. In South Central Los Angeles.

So als ob jemand den ganzen Scheiß, den ich fast mein ganzes Leben im Libanon gesehen habe, in eine Kiste gepackt und hergeschickt hat, und hier vor meiner Haustür kommt das ganze Chaos jetzt rausgeflogen. Echt Gazastreifen, Mann. La neta, Leute.

Und diese ganzen Bilder sagen mir das Gleiche wie allen anderen Idioten in dieser ganzen Stadt, die je einen bösen Gedanken in Kopf hatten: Verdammt, jetzt ist dein Tag, Homie. Felicidades, du hast im Lotto gewonnen!

Geh raus und spiel verrückt, sagen die Bilder. Nimm dir, was du kriegen kannst, sagen sie. Wenn du böse und stark genug bist, dann komm raus und nimm es dir. Wie so Teufelsnacht am hellen Tag.

Denn die Welt, in der wir leben, ist total auf den Kopf gestellt. Unten ist oben. Oben ist unten. Schlecht ist gut. Und Marken haben nichts zu sagen. Denn heute gehört die Stadt nicht den Cops. Heute gehört sie uns.

Mir geht so eine Art Stromstoß im Nacken rauf und runter, und ich kann gar nicht schnell genug zum Telefon greifen. So schnell meine steifen Finger können, wähle ich die Pager von fünf, sechs Homeboys an, die sollen ihre Ärsche hierher bewegen. Ich gehe im Kopf Nummern durch, bis ich an die zwölf angewählt habe, dann höre ich auf, weil sie es sowieso weiter verbreiten werden, so wie es sein soll. Wir brauchen Fahrbares. Wir müssen geballt auftreten, stark. Sieht jetzt schon so aus, als wären wir hintendran.

Schritt eins ist, in Lynwood was loszutreten. Also Chaos zu verbreiten, so wie es in Compton herrscht, denn das wird die Cops noch mehr ausdünnen. Im Kopf mach ich schon Pläne. Wo man zuschlägt. Was man rausholt. Wo man es versteckt. Ich greife wieder zum Hörer und rufe Lil Creeper an.

Wenn je ein Tag wie geschaffen war für diese Scheiß-cucaracha, dann heute. Ist nur auf der Welt, um zu klauen und abzuhauen und sich vollzudröhnen, für sonst nichts. Selbst total dicht, selbst im Halbschlaf kriegt er ein Schloss schneller auf als jeder andere. Das Zeug blättert sich in seiner Hand weg wie Alufolie. Kein Mensch sonst guckt sich ein Eisentor an und hat in zwei Sekunden raus, wie man es knackt.

Im Hörer piept es, dass ich meine Nummer eingeben soll. Ich tippe am Ende meinen üblichen Code ein, der bedeutet, dass er schnell zurückrufen soll, weil es wichtig ist, und wenn nicht, dann gibt es richtig Ärger. Dann kommt ein Homie ihn abholen.

Jetzt kommt Clever ins Wohnzimmer geschlurft und schlürft seinen Orangensaft aus so einem Dick-Tracy-Becher, die man bei McDonald’s kriegt. Er sieht auf den Bildschirm und bleibt stocksteif stehen, als ich den Hörer auflege.

Wir sehen beide zu, wie eine Apotheke in Vermont zerlegt wird, während der Reporter an der Ecke davon redet, dass dieser Mist nichts mit Rodney King zu tun hat oder mit dem Urteil, sondern dass es hier nur um Elendspack ohne Moral geht, das Gelegenheit kriegt, Böses zu tun, und er kann gar nicht fassen, dass sie diese Gelegenheit ergreifen. Und ich denke so: Echt jetzt?

Der hört gar nicht auf davon, dass dies nicht sein Amerika ist, das er kennt und liebt und an das er glaubt. Ich muss über den Schwachkopf lachen, der schon so lange in seiner schönen Vorstadt lebt, dass er überhaupt keinen Plan mehr hat, was wirklich abgeht, und an dieser Stelle meckert Clever los und sagt, was mir schon die ganze Zeit durch den Kopf geht.

«Willkommen in meinem Amerika, cabrón.»

 

 

2 Fate ist kein ganz gewöhnlicher Name, jedenfalls nicht im Spanischen. Ich habe noch von keinem anderen gehört, der so heißt. Manchmal werde ich gefragt, woher er stammt, wie ich dazu gekommen bin, aber ich antworte nie, weil ich mit zwanzig ’ne Kugel abgekriegt habe, und ich werde euch dafür nicht erzählen, wer geschossen hat oder aus welcher clica, denn das hab ich den Sheriffs auch nicht verraten, als die mich gefragt haben. Aber es war ein scheißgroßes Kaliber, und irgendwas muss an Hülse oder Geschoss defekt gewesen sein, denn selbst aus sechs Meter Entfernung ist es nicht ganz durchgegangen. Ein Steckschuss.

Ging bloß zwei, drei Zentimeter rein, aber ich habe unserer Nachbarin Mrs. Rubio die ganze Einfahrt vollgeblutet, unfassbar. Außer der Fahrt im Rettungswagen mit dem beschissen unfähigen Sanitäter, der meine Venen ums Verrecken nicht finden konnte, erinnere ich mich nur noch an die abuela selbst, die ganz ruhig rauskam und sich so indianermäßig neben mich setzte, ihr blaues Kleid ausbreitete und meine Hand drauflegte, auf den Stoff in ihrem Schoß, und dann hat sie davon geredet, dass ich una fe grande habe und dass ich überleben würde. Zuerst dachte ich, sie hat «fate» gesagt, und dass es also nicht mein Schicksal ist zu sterben, aber als sie es dann wiederholt hat, hab ich es richtig gehört. Una fe grande. Sie redete nicht von Schicksal, sondern vom großen Glauben. Aber es war schon zu spät, mein Hirn hatte schon das Wort fate registriert, und der Klang gefiel ihm, und ich schwor mir, wenn ich überlebe, dann trage ich diesen Namen.

Ich habe Payasa nie die ganze Geschichte erzählt, und jetzt weiß ich gar nicht mehr, wieso. Sie weiß von der Kugel, und sie weiß, dass eine abuela dabei war, aber nicht, dass die Oma mir den Namen gegeben hat, wenn auch nur versehentlich. Ich schätze, wenn man mit einem Menschen genug Zeit verbringt, dann stellt man sie nicht mehr in Frage, nicht ihre Herkunft, nicht ihren Namen, woher sie ihn haben und wieso. Ist einfach so. Wird akzeptiert. Aber jetzt will ich es ihr doch erzählen.

Vor langer Zeit hat Payasa mich mal gefragt, ob es mir manchmal leidtut, was ich getan habe. Damals habe ich nein gesagt, aber eigentlich ist es ein Ja. Ganz sicher ein Ja. Aber ich bereue nichts. Ich bin Soldat. Ich bin immer dahin gegangen, wo ich gebraucht wurde, und ich war immer sauber. Immer. Selbst als kleiner Homie, wenn in der Sackgasse beim Park Leute ausgezählt wurden, dann haben die älteren Homeboys mich immer in Frieden gelassen, weil sie wussten, ich war immer loyal. Mir musste nie jemand in den Arsch treten. Nicht ein einziges Mal.

«Du bist cool», haben sie dann gesagt, oder «Scheiße, dieser Homie ist korrekt», und dann haben sie mich den anderen kleinen Homies als Beispiel hingestellt, wie man sich richtig verhält. Das hat sich immer gut angefühlt.

Aber jetzt sind Leute hier im Wohnzimmer, denen ich sagen muss, was zu tun ist. Ich zähle fünfzehn von unseren 116 – und da sind die kleinen Homies noch nicht mal mitgezählt, die sich beweisen und einen Namen machen wollen. Ich schaue sie alle an, die Gesichter hier im Zimmer, und ich denke: Dafür tue ich, was ich tue. Für sie. La Clica. Mi Familia. Alles für sie. Darum musste ich Lil Mosco aufgeben.

Ja, das ist wahr. Ich hab’s getan. Von mir wird Payasa das nie erfahren, was soll ich schon dazu sagen? Trotzdem, wahr ist wahr. Und es tut mir echt leid, aber auch den Scheiß bereue ich nicht.

Grad jetzt allerdings, in diesem Augenblick, wünschte ich, sie könnte in meinen Kopf kriechen und meine Gedanken lesen, mit meinen Augen sehen und sofort begreifen, welche Entscheidung ich treffen musste, als die großen Jungs zu mir gekommen sind und gesagt haben, Lil Moscos Name steht auf der Liste. Er ist freigegeben, haben sie gesagt, und ich musste mich entscheiden: entweder ein Vollidiot, der dauernd Scheiße baut, oder die ganze Crew. Und das war’s, versteht ihr? Mit denen kann man nicht diskutieren, man kann sie nicht überzeugen, dass sie falsch liegen. Er musste weg. So was steckt man einfach ein wie ein Boxer, der weiß, dass er zu Boden gehen muss.

Hätte ich Lil Mosco nicht nach Riverside geschickt, wären wir alle zum Abschuss freigegeben gewesen. Wir alle. Überall. Immer. Das ist einfach Fakt. Und als ich das letzte Mal nachgerechnet habe, war 1 nicht gleich oder größer als 116. Das weiß sogar ich, und ich habe die Schule in der Achten geschmissen.

Aber die Sache mit Joker und Ernesto am selben Tag? Der Scheiß hat mich echt fertig gemacht.

Das schlechteste Timing aller Zeiten, und als der kleine Serrato vor der Tür stand, hätte ich Payasa beinahe alles erzählt, weil ich dachte, der Junge redet über Lil Mosco, und ich konnte nicht fassen, wie das überhaupt möglich ist, und erst ein paar Sekunden später hab ich gecheckt, dass es gar nicht so war! Hat mich getroffen wie ein Schwinger aus dem Nichts, dass Ernie ohne jeden Grund tot auf der Straße lag. Und als ich das begriffen hatte, wurde mir auch klar, dass ich Lil Mosco schon früher hätte aufgeben sollen, und das brannte mir auf der Seele. Und ich wusste auch, ich musste unbedingt dafür sorgen, dass Payasa tun konnte, was sie tun musste. Ich ließ sie ein paar Grenzen überschreiten und Sachen machen, die ich sonst eine chola nie hätte machen lassen, weil es hier um Vergeltung ging, und das war richtig und gerecht.

Aber Lil Mosco? Scheiße. Den musste ich aufgeben. Payasa wusste besser als jeder andere, was für einen kaputten Kopf der auf den Schultern trug. Darum habe ich ihm auch so viele Regeln mitgegeben. Nummer eins, keine Scheißdrogen. Nummer zwei, halte dich ans Tempolimit, Idiot. Und drittens, nimm niemanden mit. Musste ja sichergehen, dass er sich nur selbst ans Messer liefert. Und ich hab ihm sogar mein Auto dafür gegeben.

Lil Mosco hat sich selbst auf diese Liste geschrieben. Das ist einfach Fakt. Und ich musste dafür sorgen, dass wir am Ende nicht alle draufstehen. Denn es ging ja nicht nur um uns. Sondern auch um unsere Familien. Die großen Jungs können das, wenn sie wollen. Haben sie schon gemacht. Dagegen kannst du nichts unternehmen. Im Grunde hatte ich gar keine Wahl. Da bringt auch nachdenken nichts. Stellt euch vor, einer von den großen Nummern steht vor dem neuen Haus von Payasas Mutter und klingelt, und wenn der Türspion dunkel wird, weil sie den Kopf davorhält, dann drückt er den Pistolenlauf dagegen? Scheiße. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur dran denke.

Ich habe noch eine Regel: Ein Toter ist nicht so viel wert wie alle anderen. Auf keinen Fall.

Wäre Payasa früher aus ihrem Zimmer gekommen, hätte ich sie vielleicht zur Seite ziehen können, ehe die Homies hier waren, und ihr die Sache klarmachen.

Aber das mit Ernesto? Für den Scheiß fehlen mir echt die Worte. Das hat keiner kommen sehen, aber so ist dieses irre Leben eben. Das erwischt dich, wie es will, ob du bereit bist oder nicht, und manchmal nimmt es sich etwas, was es nicht sollte. Das ist manchmal das Einzige, worauf du dich verlassen kannst – das Leben nimmt.

Payasas Tür ist immer noch zu. Sie sagt nicht mal was, als ich anklopfe, also wandert mein Blick zu den Waffen, die in einem großen Haufen auf dem flachen Couchtisch liegen. Zwanzig Stück. Wird nicht reichen, wenn wir uns davor schützen wollen, was Jokers großer Bruder sich ausdenkt.

Ich mache also Pläne und überlege, ob wir nicht einfach bei Western Auto reinmarschieren sollen, die haben nämlich im Hinterzimmer auch Waffen. Pistolas. Magazine. Alles. Wieso in einem Laden für Autoersatzteile? Hab ich noch nie drüber nachgedacht. Wahrscheinlich, weil sich damit mehr Geld verdienen lässt als mit Stoßdämpfern und Bremsbelägen. Das ist Ghetto-Wirtschaft. Und gerade als ich das denke, klingelt das Telefon. Ich rechne mit Lil Creeper, als ich abnehme. Aber der ist es nicht.

Sondern Sunny vom Waffenladen am Long Beach Boulevard. Als ich seine Stimme höre, ist mir sofort klar, dass jede Moral über Bord ist. Er sagt, es sind bloß noch zwei Typen mit ihm in der Schicht, und der Laden ist dunkel. Sie sollen eigentlich auf die Waffen aufpassen, aber für einen guten Preis lässt er die Ladentür offen, und wir können einfach reinspazieren.

«Wie viel?», frage ich.

«Ähm», er macht eine längere Pause, um eine willkürliche Summe aus dem Ärmel zu schütteln, «dreitausend.»

«Klar», sage ich. Als ob der Wichser jemals so viel kriegen würde.

«Bar», sagt er.

«Wie soll ich denn wohl sonst bezahlen, du Penner? Mit Scheck?», frage ich. «Sorg einfach dafür, dass die Ladentür offen ist.»

Wie so ’n Avaro, der Typ. Verscherbelt seinen Job, verscherbelt die Leute, mit denen er arbeitet. Für so einen Scheiß habe ich keinen Respekt. Was Sunny allerdings nicht weiß: An jedem anderen Tag könnte er feilschen – heute nicht. Wenn oben unten ist, muss ich ihm keinen Cent zahlen. Und noch schöner ist, dass er endlich zurückkriegt, was für ein culero er war, als er nach der Prom mit meiner großen Schwester geschlafen und sie mit Tripper angesteckt hat. Mir scheißegal, wer seine Homies sind. Heute fängt er sich eine.

Aber das sage ich ihm nicht. Ich lege einfach auf und spanne den Hahn meiner Pistole. Das ist so ein alter Armeecolt. Auf dem Lauf steht Calibre 45. Und dann steht da noch Rimless Smokeless. Randlos, rauchfrei. Ich glaube, der gehörte mal dem Opa von irgendwem, aber egal. Seit fast einem Jahr gehört er mir.

Ich schaue auf die Uhr. Viertel vor zehn, und Creeper ist immer noch nicht aufgetaucht.

Hijo de su chingada madre, denke ich. Bestimmt sitzt er in irgendeinem Motel und hat das Geld, das ich ihm für die Glock und das nicht mal volle Magazin gezahlt habe, längst ausgegeben. Hat es sich direkt in die Venen gespritzt. Garantiert.

Ich überlege, ob ich ihm noch eine Minute geben soll, als Payasa aus ihrem Zimmer stolpert, Was geht zu Clever sagt, der gerade seinen Kram zusammenpackt, sich Apache schnappt, ihm irgendwas zuflüstert und ihn mit nach draußen zerrt, fast bis dahin, wo die kleinen Homies im Kreis auf dem Rasen stehen.

Ich bin nicht froh, das zu sehen, aber ich sage ihr auch nicht, dass sie es lassen soll. Durchs Fenster sehe ich, dass sie und Apache sich eine Zigarette teilen. Ist bestimmt was drin. Garantiert.

Mit jedem Zug von dem Scheiß rennt man bloß weiter vor dem richtigen Schmerz weg. Ich verstehe das, vor allem bei Ernesto, aber ich kann es nicht empfehlen. Nach meiner Erfahrung ist es am besten, nüchtern zu sein, wenn man seine Pflicht tut, und auch danach. So kann man sich den Dingen stellen, die man getan hat, und für sie geradestehen. So kann man sich besser klarmachen, dass die Motherfucker bekommen haben, was sie verdienten. Wenn Payasa mich je fragt, werde ich ihr das sagen. Aber nur dann.

Aus einer Minute werden zwei, von Creeper immer noch keine Spur. An einem Tag wie heute kann ich keinen Homie entbehren und auf die Suche schicken.

Also sage ich «Scheiß drauf» und gehe nach draußen.

 

 

3 Wir gehen im Pulk zu den Autos. Die kleinen Homies sind alles andere als cool. Sind aufgedreht wie Welpen auf einer Geburtstagsparty. Bellen und Balgen. Nur Clever, Payasa und ich steigen in Apaches Cutlass. Jetzt vermisse ich meinen Wagen noch mehr. Der steht bestimmt noch draußen in Riverside. Steht bloß da rum. Wenn ich ihn je wiedersehen will, muss ich ihn wahrscheinlich vom Abschlepphof holen. Aber zuerst muss ich ihn mal als gestohlen melden. Damit er nicht mit Lil Mosco in Verbindung gebracht wird. Und das kann ich erst machen, wenn ich was von den großen Jungs gehört habe. Klar, Mosco ist letzte Nacht nicht nach Hause gekommen, aber das muss nicht unbedingt heißen, dass die Sache erledigt ist. Ich muss also cool bleiben und das Schuldgefühl ertragen, das mir Löcher in den Bauch frisst.

Und ich denke nach, das ist mein größtes Problem, aber gerade als wir die Autos mit Soldaten vollpacken, die plündern und Chaos stiften sollen, fährt mein Vater in seinem kaputten alten Datsun vor. Das Teil ist grau und verrostet, und um die Scheinwerfer blättert die Farbe ab. Keine Kühlerfigur mehr drauf, nur noch ein heiler Scheinwerfer. Einfach nur … traurig, versteht ihr?

Die Karre hat er schon ewig, hatte er schon vor dem Tod meiner Mutter im Januar 1985 und bevor meine Schwester 87 zu meiner Tante gezogen ist. Und er hatte sie immer noch, als er mit einer anderen Frau zusammengezogen ist, mit der ich nicht so gut klarkam, und das war es dann mit uns. Ich konnte schnell woanders einziehen, denn la clica ließ mich nicht hängen, und so habe ich zuerst bei Toker und Speedy und denen gewohnt, später dann hier bei Payasa, Ernesto und Lil Mosco. Das hieß aber nicht, dass mein Vater mich nicht mehr geliebt oder sich nicht mehr um mich gekümmert hätte. Er machte sich ständig Sorgen, fragte ständig nach, ob ich mich gut benehme und so ’n Scheiß. Ich habe ihn nie angelogen, wenn er mich gefragt hat, aber ich habe auch nie ganz die Wahrheit gesagt.

Und in diesem Augenblick sehe ich durch die gesprungene Windschutzscheibe, wie die Sorge aus dem Gesicht meines Vaters schwindet, als könnte er nicht glauben, was er da sieht. Irgendwie war er wohl richtig beunruhigt, ob es mir in diesen Tagen gutgeht, und da steigt er ins Auto und kommt von Florence rauf gefahren, um nachzusehen, ob ich noch am Leben bin, und als er vorfährt, verteile ich gerade Homeboys auf mehrere Autos – und keiner von ihnen macht sich die Mühe, seine Knarre zu verstecken.

Mein Papa ist ja nicht blöd. Es macht sofort klick bei ihm. Ich, sein Sohn, bin nicht der Typ, um den man Angst haben muss. Ich bin der Typ, vor dem man Angst haben muss.

Sein Gesicht schmilzt irgendwie, seine Wangen sacken ab, als hätte er die ganze Fahrt über die Luft angehalten und erst jetzt rausgelassen, und er guckt mich direkt an, die Stirn zerfurcht, und dann schüttelt er den Kopf, so als ob er richtig, richtig enttäuscht ist, und dann legt er den Rückwärtsgang ein, setzt fünf Meter zurück, um zu wenden, und fährt. Schnell. Als er um die Ecke verschwindet, leuchten ein heiles und ein kaputtes Bremslicht auf. Das bleibt mir im Kopf hängen. Das eine kaputte Bremslicht, leuchtendes Weiß um rote Zacken.

Und dann ist er weg.

Der erste Mensch, mit dem ich danach einen Blick wechsle, ist Clever. Ein kurzes Nicken nur, das aber viel sagt. Er weiß von meinem Vater, und ich weiß von seinem, der sich verpisst hat, als Clever noch nicht mal laufen konnte. Ich sehe, dass er begreift, was mit mir los ist, aber gleichzeitig würde er alles dafür geben, wenn sein Vater sich überhaupt jemals um ihn gekümmert und nach ihm geschaut hätte. Ich sehe, was er denkt – Enttäuschung ist besser als Verschwinden –, darum schaue ich weg, denn daran kann ich nichts ändern.

Die älteren Homies wissen, die Sache geht sie nichts an. Aber die jüngeren, die es noch nicht besser wissen, sagen so Sachen wie: «Wer war denn der viejo

«Niemand», sage ich und meine es beinahe.

Das stellt sie einigermaßen zufrieden, und sie steigen weiter in die Wagen, sitzen aufeinander oder lassen die Beine hinten aus der offenen Heckklappe baumeln, als einer, total aufgedreht, einen schrillen grito ausstößt, so ay-ji-ji, und hätte er ein Pferd zwischen den Beinen, hätte er dem dabei die Sporen in die Seiten gerammt.

 

 

4 Ich habe es nicht geglaubt, bis es wahr wurde. Fernsehen ist Fernsehen, dem Scheiß kann man nie glauben. Außer heute. Und als wir uns auf der Atlantic durch den dünnen Verkehr schlängeln, packt uns auch das Fieber. Uns alle. Ist so ein verschwitztes Heute-können-wir-machen-was-wir-wollen-Gefühl. Fühlt sich an, als hätte man viel zu viel Kaffee getrunken. Fühlt sich an wie –

Ich sitze vorn, Beifahrerseite, und ich lasse mein Fenster runter und lege die Hand aufs Dach. Ich haue mit der Faust aufs Dach, so ba-bop, ba-bop, ba-bop. Der Rhythmus zu unserer Geschwindigkeit. Achtzig. Neunzig. Hundert Stundenkilometer.

Apache hat heute voll den Bleifuß. Normalerweise würde ich ihm sagen, er soll den Scheiß lassen und langsamer fahren, aber heute nicht.

Heute gibt es kein Tempolimit. Heute gibt es überhaupt kein Limit.

«Hey», sagt Apache nach einem ba-bop zu viel, «das ist mein Dach.»

Mein Blick sagt «Halt bloß die Fresse», und Apache sagt ganz schnell «’tschuldige».

Ich beuge mich vor ihn und schüttele ihn. «Ich verarsch dich doch bloß, Mann!»

Dann mache ich das Radio an. Ich drehe die Sender rauf und runter. Überall nur Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten. Berichte. Die Leute jammern, als ob heute nicht der großartigste Tag aller Zeiten ist, sondern eine Katastrophe oder so was. Ich schalte auf Mittelwelle. Da kommen zwar keine Oldies, aber immerhin etwas. Richtige Musik. Oder so was Ähnliches.

Ist so ’ne total schmalzige Scheißrockmusik. Was die gabachos «Classic Rock» nennen. Elektrische Gitarren und Klatschgeräusche. Ba-Ba-bada-ba, so klingt das Riff ungefähr. Der Song heißt «More Than My Feelings» oder so ähnlich.

Apache kennt ihn.

«Ach du Scheiße, Mann, Boston», sagt er, verzieht total das Gesicht und will schon ausschalten, aber ich schüttele den Kopf.

«Lass den Scheiß laufen», sage ich. Ich drehe sogar lauter, bloß um ihn zu nerven.

Wenn es jemand aus meiner Hood rausgeschafft hat, dann nur, weil er nicht mitgespielt hat. Und diesen Leuten kann man einfach nicht erklären, wie gut sich das anfühlt, wie stark man sich fühlt, wenn man mit seinen Brüdern zusammen ist und tut, was man will, und so ein Tag wie heute ist größer, als man sich das je hat träumen lassen, so ein Tag, wo man alles machen kann, aber das ist alles nur Träumerei, weil so was nie wirklich passiert, bis es dann irgendwann doch passiert …

Die Scheiß-E-Gitarren dröhnen um mich herum, und ich strecke die Hand nach oben und versuche, die trockene Luft zu greifen. Wie sie sich anfühlt, als sie um meine Handfläche streicht, das versuche ich mir ins Gedächtnis zu brennen, wie meine Hand davon beinahe kalt wird. Das will ich nie vergessen.

Ich ziehe die Hand wieder rein, als wir auf die Gage Avenue kommen, und das Gefühl lässt ein bisschen nach, weil man schon auf den ersten Blick sieht, dass hier echte Mad-Max-Scheiße am Laufen ist. Es wird geplündert, aber das sieht nicht wie im Fernsehen aus, die Leute rennen wie verrückt durch die Gegend, drücken sich durch die Löcher in den Ladeneingängen wie Ratten. Hier fliegt nicht so ein Zeug durch die Straßen, das wie Zuckerwatte aussieht, und es brennen auch keine Feuer. Es riecht nach Rauch, nach Holzrauch, aber da ist auch dieser scharfe, bittere Gestank von brennendem Plastik.

Wir fahren mit unserer Viererkolonne bei Western Auto vorbei, um nur mal die Lage zu checken, aber da stehen Motherfucker mit Gewehren auf dem Dach. Also treffe ich sofort die Entscheidung und sage: Scheiß drauf.

Apache dreht das Steuer rum, und wir nehmen wieder Tempo auf, verwandeln die Straße in so was wie eine Bobbahn, wie bei den Olympischen Spielen. Albertaville oder wo die das letzte Mal waren. So sind wir unterwegs. Bloß dass wir vier Wagen hintereinander sind, die durch den Verkehr gleiten, roten Ampeln den Finger zeigen, die Köpfe in alle Richtungen drehen, um zu sehen, ob auch andere Gangs den Kopf draußen haben, ob sie tun, was wir tun.

Wie wir an Mel & Bill’s Market vorbeifahren, bemerken wir ein paar weiße Typen, die wir noch nie gesehen haben und die ein paar Kisten Bier rausholen und in einen Truck laden, also steuert Apache direkt und schnell auf sie zu, tritt im letzten Augenblick auf die Bremse und malt Gummispuren auf die Straße, als wir ein paar Zentimeter vor den Kerlen quietschend zum Stehen kommen. Scheiße, Mann, sehen die schockiert aus. Aber noch viel schockierter, als ich meine Knarre ziehe und Apache mir Deckung gibt.

«Das ist nicht euer Viertel.» Dabei lächle ich kalt. «Ihr verpisst euch hier besser ganz schnell, so lange ihr noch könnt.»

Sie tun das Richtige, lassen die Bierkisten fallen, aber ich sage ihnen, sie sollen sie wieder aufheben und in unseren Lieferwagen stellen. Das machen sie. Dann sind wir weg. Richten die Augen auf das nächste Ziel.

 

 

5 Als wir uns einfach aus Scheiß noch eine carnicería vornehmen, ballert jemand mit einer abgesägten Schrotflinte die Sicherheitstür aus den Angeln und es knirscht, als der Gipsputz der Vorderwand Steinchen und Brocken ausspuckt, als würde er bluten. Die Leute überlegen nie, wie brüchig der Putz ist, wenn sie Sicherheitstüren einbauen. Sie denken nie daran, dass man bloß den aufbrechen muss und dann die Metalltür rausreißen kann. Ist ganz leicht. Danach treten wir das Glas aus der Ladentür und stürmen johlend hinein wie Indianer auf dem Kriegspfad, als wären wir in einem Western.

Drinnen ist kein Licht an, und der Geruch von Fleisch, das schon ein bisschen liegt, sticht uns in die Nase, weil der Strom schon eine Weile aus ist, seit gestern Nacht vielleicht oder heute Morgen ganz früh.

«Tüten», sage ich und zeige auf die Kassen. «Die ganzen Scheißpacken.»

Kleine Homies schnappen sich Plastiktüten, die Älteren und ich springen über den Tresen und reißen die Plastikvitrinen auf, tschack-tschack-tschack. So klingt das, wenn die Schiebetüren ans Ende der Schienen knallen, und das Geräusch hallt von den Glastüren der Kühlschränke an der anderen Wand wider und kommt zu mir zurück, und einen Augenblick geht mir durch den Kopf, wie schräg das alles ist. Niemand in der Nähe. Niemand, der uns aufhält. Ich versuche das alles aufzusaugen, versteht ihr?

Es gab schon viele Tage in meinem Leben, an denen ich nicht wusste, wo ich die nächste Mahlzeit herkriegen soll, für mich ist das hier also wie Weihnachten und Thanksgiving und Silvester und Geburtstag in einem. Und da bin ich nicht der Einzige. Während wir pfundweise Hackfleisch einpacken, johlen und schreien die Homies. Wir reißen Querrippen aus den Regalen und lachen. Wir werfen Lammhaxen über den Tresen, und die kleinen Homies sollen sie auffangen. Als eine runterfällt und der Bengel sie anscheinend nicht wieder aufheben will, schreie ich: «Das ist gutes Fleisch, Mann! Das waschen wir ab! Heb den Scheiß auf

Das macht er auch, und wir müssen das ganze Zeug zu fünft in die weißen Plastiktüten stopfen: acht ganze Hühner, Würste in so langen Ketten, dass man sie wie ein Lasso um den Kopf schwingen könnte, vier fette Rinderzungen und so weiter. Wir laufen rein und raus, schleppen so viel weg, wie wir können, füllen den Kofferraum von Apaches Cutlass bis zum Anschlag mit Fleisch. Wir springen sogar drauf, drücken es runter, damit es reinpasst, versteht ihr? Apache wehrt sich zuerst dagegen, weil er sieht, dass Tüten aufreißen, dass Blut raustropft und rote Spuren durch den Dreck auf seinem Ersatzreifen zieht und dann in den Teppich sickert, mit dem sein Kofferraum ausgelegt ist. Ich sage ihm, dass wir es später wieder sauber kriegen. Das lassen wir die jungen Homies machen, mit Schlauch und Seife und Schwämmen, während wir das Barbecue unseres Lebens abziehen, und damit ist er zwar nicht glücklich, aber er hält das Maul.

Ich knalle die Klappe zu und denke schon daran, wie wir den Grill anschmeißen und was für ein gutes Gefühl das sein wird, jeden einzelnen Homeboy abzufüttern, bis er nicht mehr laufen kann, und allein die Vorstellung macht mich so glücklich wie schon lange nicht mehr – jedenfalls bis ich Payasa ansehe.

Sie hat so einen Gesichtsausdruck, den ich nicht einordnen kann. Ihre Augen sind jedenfalls zugedröhnt, sie hat die PCP-Brille auf, aber da ist noch was anderes. Ich mache keine große Sache draus, aber es sind Tränen. Große Tränen.

Sie weint, und anscheinend weiß sie gar nicht, wieso, weil sie sich über die Augen wischt und dann ihre Hände anstarrt und dann wieder wischt, als könnte sie es nicht fassen. Wenn man das Zeug nimmt, passieren unvorhersehbare Sachen. Echt. Man heult, ohne zu wissen, warum. Man schreit los oder wird stundenlang total stumpf. Aber wie jede Droge macht es das, was man schon in sich hat, nur noch schlimmer. Und als ich Payasa so sehe, fällt mir wieder ein, wie Ernestos Leiche aussah, da in dieser Gasse.

Und wie sie nicht mal hinsehen konnte, wie sie die Hände vors Gesicht nahm, als wir vorbeifuhren, und ich sie anlügen musste, dass die Leiche schon abgeholt wurde. Dass er nicht mehr da war. Dabei war er noch da. Und Clever hat mich gedeckt, weil sie mir wohl nicht geglaubt und bei ihm nachgefragt hat. Er meinte, keine Sorge, sie haben ihn abgeholt, alles in bester Ordnung. Und auf dem ganzen Weg nach Hause sagte keiner mehr einen Ton.

Ich lenke keine Aufmerksamkeit auf Payasa. Im Gegenteil, ich sage allen, sie sollen wieder in die Autos steigen, und auf halbem Weg zum Waffenladen, als ich schon denke, alles ist cool, da beugt sie sich plötzlich aus dem Fenster und schießt fünf Löcher in die Seite eines Kombis, der so aussieht, als sitzen vielleicht ein paar Bloods drin. Und sie lacht total heftig, als der andere Wagen zum Straßenrand schert, über den Bordstein hoppelt und sich über den Parkplatz einer Ladenzeile davonmacht.

«Mosco wäre total begeistert von dem Scheiß», sagt sie. «Wo steckt der überhaupt? Schon wieder in irgendeinen Mist verwickelt, oder was?»

Das oder was gibt mir einen Stich. Aber sie will gar keine Antwort auf die Frage. Sie sagt bloß «Klar» und starrt weiter aus dem Fenster.

Ich sehe Clever an, Clever sieht mich an.

Er weiß nicht von Lil Mosco, aber irgendwie weiß er es doch. Er ist zu schlau. Als Mosco heute Morgen noch nicht wieder zurückgekommen war, da hat er sich gedacht, dass es mit ihm wahrscheinlich vorbei ist.

Keiner sagt mehr was, bis wir neben dem roten Backsteingebäude parken, an dem vorn in großen blauen Lettern GUN STORE steht. Wir schleichen uns in einer langen Schlange mit gezogenen Knarren um die Ecke. Ich bete im Stillen, dass Sunny wirklich so ein verkommenes Stück Scheiße ist, dass er die Ladentür offen gelassen hat, damit wir sie nicht aufschießen müssen.

 

 

6 Die Tür ist offen, gerade so. Zuerst sah es so aus, als wäre sie zu, aber als Apache dagegendrückte, hat sie sich bewegt. Da ich keine Ahnung habe, was uns erwartet, gehe ich zuerst rein, und alle gebückt. In der Mitte eine große freie Fläche mit Teppichboden. An drei Seiten – links, rechts und direkt vor uns – sind Glastresen. Dahinter hohe Glasvitrinen und darin ausgestellt verdammt schicke Knarren. Nur die Lichter in diesen Vitrinen sind an, helle weiße Röhren unterm Deckel, die das polierte Metall zum Glänzen bringen.

«Wird auch Zeit, raza. Scheiße!» Sunny lacht. «Ich halte hier schon seit mindestens einer halben Stunde die Stellung. Habt ihr mein Geld oder was, Mann?»

Ich entspanne mich und lasse die Pistole sinken, und als ich auf den Schatten hinten im Laden zugehe, gewöhnen meine Augen sich ans Dämmerlicht. Meine Homeboys sind direkt hinter mir, immer noch wachsam.

Sunny ist nicht meine raza. Er ist aus Lynwood, hier geboren und aufgewachsen, schon klar, aber er ist weiß, kein Chicano. Wollte aber immer unbedingt einer sein.

Als ich zu ihm komme, sehe ich auch, was er mit Stellung halten gemeint hat. Hinter einer Glasvitrine mit Kurzläufigen in allen Größen, Farben und Griffintarsien sehe ich zwei Typen nebeneinander auf dem Boden sitzen. Ein Weißer und ein Schwarzer. Sunny hat eine Knarre auf sie gerichtet.

Aber die beiden wirken nicht beunruhigt. Sie lesen zusammen eine Zeitschrift. Eine alte Ausgabe von People. Auf dem Cover ist dieses Arschloch von Beverly Hills 90210, der unter seiner Tolle die Stirn runzelt, als wäre sein Leben echt schwer zu begreifen. Darüber kann ich bloß müde lächeln.

Denn genau das ist Fake-L.A. – das L.A., das sich verkaufen lässt. Mein L.A. ist das nicht. Und ich wette, wer gerade vom Fernseher sitzt, weiß es inzwischen auch besser.

Aber wieso es so einen Scheiß wie die People in einem Waffenladen gibt – keine Ahnung. Wahrscheinlich kann es scheiß langweilig sein, einzelne Patronen zu verkaufen.

Ich spitze die Lippen und pfeife nach ihnen. Das haben sie gehört.

Der Schwarze klappt ganz langsam die Zeitschrift zu, beide setzen sich gerade hin, und das ist gut so, weil sie das jetzt sehen müssen.

«Du Wichser bist nicht meine raza», sage ich zu Sunny und halte ihm den Colt vors Gesicht, spanne den Hahn, ehe er seine Pistole gegen mich richten kann, und gebe ihm gerade genug Zeit zu begreifen, dass genau das passiert, wenn man die Tür offen lässt, um einen Wolf reinzulocken.

Früher oder später frisst er dich, Alter.

Pak. So klingt ein .44er, wenn er eine Kugel ausspuckt, die sich durch eine Nase, einen Schädel und ein Gehirn pflügt, ehe sie in einem Holzschrank steckenbleibt. Sunny ist schon tot, bevor er umfällt, und als er umfällt, kommt er ganz komisch auf. Er landet so im Hohlkreuz auf dem Hinterkopf und streckt sich gar nicht flach aus. Er bleibt einfach so gekrümmt auf dem Teppich kleben wie ein kaputtes Zelt.

«Gottverfluchte Scheiße», sagt der Weiße hinter mir, als ich dicht an Sunny herantrete, um ihm etwas zu sagen, obwohl er es nicht mehr hören kann.

Es ist nicht für ihn. Sondern für mich. Und für noch jemand anderen.

«Das ist für meine Schwester. Diese Hood hat ein gutes Gedächtnis, chavala», sage ich und wende mich dann Sunnys Geiseln zu. Ex-Geiseln.

«Da ihr mir jetzt so gut zuhört», sage ich ihnen in die Arsch-auf-Grundeis-Gesichter, «her mit euren Brieftaschen.»

Der Schwarze ist schnell. Er kennt die Nummer. Er wird sich nicht wegen irgendeiner Dummheit abknallen lassen. Aber der Weiße zögert. Cabrón.

So was kann ich mir nicht bieten lassen. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, und er krabbelt hektisch rückwärts in den Schrank hinter ihm, haut sich heftig den Schädel an und zuckt jammernd zusammen. Die kleinen Homies lachen sich im Chor schlapp darüber, aber Apache tritt rasch neben mich.

«Puto, das hier ist Mister Fate, der böseste Motherfucker in Lynwood, y que?» Apache kneift die Augen zusammen. «Wenn er dich ausrauben wollte, würde er dich zuerst von ihr abknallen lassen!»

Er zeigt auf Payasita. Wie aufs Stichwort legt sie den Kopf schräg und zieht eine so fiese Fresse, dass mir ein Schauer den Rücken runter bis in die Knie läuft. Ihre Augen sind innerlich ganz tot, und wer noch eine Spur Verstand im Kopf hat, sieht sofort, sie meint es ernst. Dieser Blick lässt einem das Blut gefrieren.

Der Weiße weiß es auch, denn er wird noch zwei Strich weißer und fummelt sofort an seiner Arschtasche herum, aus der er dann einen fetten sonofabitch zieht. So sagen Weiße das doch, oder? Hurensohn? So kaugummiartig zusammengezogen? Sonuvabitch? Mann, was für eine alberne Kurt-Russell-Scheiße. Hijo de su chingada madre rollt doch viel besser von der Zunge. Man kann auch noch ausspucken dabei, verstärkt die Botschaft.

Apache gibt mir die Brieftaschen, ich lasse das Bargeld stecken, ziehe die Führerscheine raus und lasse ihr Zeug dann auf den Boden fallen – genau in Sunnys Blutlache. Ich höre den Schwarzen aufstöhnen. Der hat wirklich was auf dem Kasten. Der weiß, was Sache ist.

«Also, die hier behalte ich. Für meine Sammlung.»

Ich nicke dem Weißen zu. «Wir wissen jetzt, wo du wohnst, Gary

Ich nicke dem Schwarzen zu. «Und wo du wohnst auch, Lawrence

Ich hocke mich hin, auf Augenhöhe mit den beiden. «Normalerweise lassen wir keine Zeugen am Leben.» Ich nicke ganz lässig in Sunnys Richtung. Sie verstehen, also gucke ich mir ihre Führerscheine an. Beide aus Kalifornien. Einer wohnt in Gardena, der andere in Wilmington. «Wir wissen, wo ihr wohnt. Und die Cops, die sind grad ziemlich beschäftigt, darum seht ihr das sicher als Gefälligkeit, dass es für den Kerl, der euch ’ne Knarre in die Fresse gehalten hat, schlecht gelaufen ist.»

Schlecht ist gut, denke ich.

Ich schaue mir noch mal Sunny an, dessen Augen immer noch offen stehen. Jedenfalls das eine, das ich sehen kann. Dickes Blut läuft aus dem Loch, wo mal seine Nase war, und tropft über das Auge und die Stirn auf den Boden wie Tränen, die rückwärtsfließen.

Ich blättere noch mal die Brieftasche des Weißen durch und finde Fotos von zwei kleinen Kindern, die ihm sehr ähnlich sehen. Zwei Mädchen in hübschen lila Kleidern.

«Wenn ihr also den Drang verspürt, irgendwem zu erzählen, wer euch heute befreit hat, dann kommt vielleicht jemand eure Kinder in der Schule besuchen.» Ich schaue Lawrence an, aber der sieht gar nicht hoch, ist irgendwie dauerhaft zusammengezuckt. Ich bemerke Garys Ehering und drehe mich zu ihm. «Oder wartet auf dem Parkplatz vom Supermarkt auf eure Frau oder so.»

Dabei zerfurcht sich sein Gesicht, ich gebe ihm also Zeit, es sacken zu lassen. Alles sacken zu lassen.

«Wir werden das nicht sein», sage ich. «Aber irgendjemand.»

Jemand wie Lil Creeper, zugedröhnt bis zur Schädeldecke, denke ich. Ich lasse sie die Augen schließen und eine Weile ruhig über ihre neue Lage Luft holen.

Als ich merke, die Drohung ist so tief eingesunken, dass die beiden sie nie wieder vergessen werden, sage ich ihnen, sie sollen sich ganz schnell verpissen, und sie sehen einander eine Sekunde an, bevor sie aufspringen und wegrennen. Die kleinen Homies lachen sich wieder schlapp und machen die beiden nach – ihre Gesichtsausdrücke, das Wegrennen in Zeitlupe –, aber nachdem ich die Hintertür zuschlagen und Motoren erst aufheulen und dann leiser werden höre, sage ich allen, sie sollen ausschwärmen.

Im ganzen Laden schlagen wir die Vitrinen ein. Wir schnappen uns mehr Knarren, als ich je im Leben gesehen habe. Pumpguns. Desert Eagles. Zwei halbautomatische AK-47. Auch Scharfschützengewehre, so richtiger Heckenschützenscheiß. Ist wie im Film.

Wie so eine bonanza. Aber nicht diese bescheuerte billige Westernserie. Eine richtige bonanza. Eine Goldader.

Und als ich mir eine Kalaschnikow greife, sage ich Clever, er soll eine der Neonröhren rausnehmen und einen anständigen Kabelbrand legen, um Sunnys Leiche zu beseitigen. So ein schönes, langsames Feuer, denn die meisten Idioten bringen die Brandexperten auf ihre Fährte, weil es zu schnell brennt, sagt Clever immer, dann liegt nämlich auf der Hand, dass irgendwas dem Feuer auf die Sprünge geholfen hat, Feuerzeugbenzin zum Beispiel oder ein Molotow-Cocktail.

Brandbeschleuniger, so nennt er das.

Während ich also Clever zuschaue, wie er so fette Gummihandschuhe überzieht und auf einen Schaukasten klettert, um an ein paar Deckenkabeln rumzumachen, muss ich die ganze Zeit an Lil Creeper denken und wie traurig der Penner sein wird, dass er den Beutezug seines Lebens verpasst hat.