Miguel “Miguelito”
Rivera Junior
alias Mikey Rivera
4. MAI 1992
9:00 UHR
1 Als mein Wecker klingelt, habe ich den Beat eines Songs von den Specials im Ohr, also trete ich die Bettdecke weg, suche das richtige Tape und stecke es ins Tapedeck. Ich drücke auf Play bei «A Message to You, Rudy», als mein Vater gerade an die Stelle klopft, wo meine Zimmertür wäre, wenn ich eine hätte. Wir renovieren gerade das Haus. Ehrlich gesagt renoviert er das Haus – mal wieder.
Wo meine Zimmerwand war, steht jetzt ein hölzernes Gitterskelett aus Stützbalken, zwischen die ich Bücher gestopft habe, weil es wie ein leeres Bücherregal aussah, aber auch, weil ich so wenigstens ein bisschen mehr Privatsphäre habe. Ich kann ihn trotzdem noch sehen, wie er über die Rücken meiner Skinhead-Schundromane von Richard Allen linst.
Mein Vater ist Bauunternehmer. Er hat sein Diplom als Bauzeichner am Santa Monica City College gemacht, aber damit fängt er eigentlich gar nicht viel an. Hauptsächlich verkauft er Fliesen und macht Sanitärinstallationen – Badezimmer, Küchen, solches Zeug. Er kann damit prahlen, dass er beide Bäder in Raquel Welchs Gästehaus in italienischem Marmor eingerichtet hat. In seinem Geschäft – Tile Planet – hängt ein gerahmtes Bild von ihr mit Autogramm an der Wand. Der Laden ist am südlichen Ende der Western Avenue, wo so ein Stück von Palos Verdes nach San Pedro reinragt. Von da oben kann man ganz L.A. sehen. Man kann drauf runterschauen. Ich glaube, darum gefällt es meinem Vater auch so gut. Er schaut gern auf Sachen runter, und noch lieber auf Leute.
«Du musst nicht anklopfen», sage ich zu ihm, schalte aber nicht die Musik aus. «Die Wand ist offen.»
Er versteht die Ironie nicht. Er macht einen kleinen Schritt in mein Zimmer und fragt: «Willst du Frühstück oder was?»
Ich schaue ihn einen Augenblick an, während der Ska zwischen uns herumhüpft. Mein Vater hasst diese Musik. Sie geht ihm auf die Nerven, weshalb ich sie natürlich noch viel toller finde.
«Nein?» Mein Vater verschränkt die Arme. «Ich habe Frühstück gemacht, und du willst keins?»
«Ich überlege», sage ich.
«Na dann», seine Stimme klingt verärgert, «überleg schneller.»
Als mein Vater die Arme aus der Verschränkung löst, will er mir damit sagen, dass ich zu lange für meine Antwort brauche. Vor sechs Jahren hätte das bedeutet, dass gleich was Schlimmes passiert, weil er seinen Willen nicht bekommt, aber jetzt ballt er bloß noch die Fäuste. Dabei spannt sich die Narbe an seiner Linken und läuft dunkelrot an. Schon beim Anblick dreht sich mir der Magen um. So lange hieß das, jetzt kommt das Schlimmste. Dunkelrot hieß, bald hatte ich blaue Flecken. Er sieht, dass ich auf die Narbe schaue, und öffnet die Fäuste. «Ich habe eine einfache Frage gestellt», sagt er dann.
«Na gut», sage ich, damit er mich in Ruhe lässt. «Ich esse mit.»
Durch die Fächer zwischen den Balken sehe ich ihm nach, über Bücher hinweg oder an ihnen vorbei. Ich sehe nur die schwarze Welle seiner Haare an Harper Lees Wer die Nachtigall stört und Studs Terkels Der große Krach aus meinem Kurs «Große amerikanische Bücher» vorbeiziehen. Als mein Vater in die Küche am anderen Ende des Hauses geht, verliere ich ihn aus den Augen, aber ich höre ihn noch mit Tellern und Besteck klappern.
Zwischen uns läuft es schon lange schlecht. Seit ein paar Tagen allerdings benimmt er sich anders. Er achtet tatsächlich auf mich. Aber warum macht er mir Frühstück? Ich schätze, er will irgendwas von mir.
Mein Vater hat sich immer als Teil der Beat Generation betrachtet – nur hat er das etwas zu wörtlich genommen. Als ich noch kleiner war, habe ich gedacht, es gehört einfach dazu, ständig verprügelt zu werden. Sagen wir mal so: Wenn ich Glück hatte, war es der Gürtel. Wenn ich Pech hatte, war es die Gürtelschnalle. Mein Rücken ist ziemlich vernarbt. Eine weiße Exfreundin hat mich mal gefragt, ob mich eine Granate getroffen hätte. Und das war nicht wirklich witzig gemeint. Mein Vater war schon immer jähzornig, und ich bin Einzelkind, und so lief das dann also, bis ich dreizehn wurde und ein Messer zog, als er mich mal wieder schlagen wollte. An dem Tag hat er sofort und für immer damit aufgehört. Und das Schrägste war: anstatt mich anzubrüllen hat er bloß gelächelt und gesagt, er sei stolz, dass ich meinen Mann stehe, und dann ist er weggegangen, so als würde ich ihn endlich nicht mehr enttäuschen.
Das hat mich lange Zeit schwer beschäftigt, weil ich immer darüber nachgrübelte, wie oft er mich gar nicht aus Wut, sondern aus Berechnung geschlagen hatte. Das fühlte sich aber noch schlimmer an, also versuche ich inzwischen nicht mehr drüber nachzudenken. Mit seiner Enttäuschung war es allerdings noch nicht vorbei. Er hat bloß andere Dinge entdeckt, über die er enttäuscht sein kann. Zum Beispiel darüber, dass ich in der ersten Nacht der Unruhen mit Kerwin Acid genommen habe und wir mit den Choppern rumgefahren sind.
Er war nicht besonders erfreut zu hören, dass wir nach Bränden Ausschau gehalten haben, nur um sie anzuglotzen. Ich konnte ihm einfach nicht klarmachen, dass es sich total gelohnt hat, dass ich Vögel und Drachen aus den Flammen in die Luft hab steigen sehen, Tausende und Abertausende, die irgendwann schwarz und zum Nachthimmel wurden. Als ich ihm das erzählt habe, hätte er mir beinahe den Roller weggenommen, was ich sogar verstehen konnte. Man kann nicht einfach ein bewusstloses Mädchen mit nach Hause bringen, ohne in allen Einzelheiten zu erklären, wie es dazu gekommen ist – jedenfalls nicht bei meinem Vater.
2 Ich habe einen Vespa-Roller, einen P 125. Wir nennen die Dinger Chopper, wir basteln ständig daran herum. Wenn ich einen zu Schrott fahre, ist es leichter, ihn wieder hinzuschrauben, als einen neuen zu besorgen. An meinem habe ich den Motor frisiert. Jetzt bringt er statt 75 Stundenkilometer fast 150. Man hört das Heulen des Motors meilenweit. Ich habe die Abdeckungen entfernt und die Gabel verlängert. Ist praktisch so eine Road-Warrior-Karre wie aus Mad Max.
Auf dem Ding fuhr ich also am Morgen des zweiten Tages von Kerwin nach Hause, und als ich gerade in unsere Straße eingebogen war, sah ich so einen zappeligen Typen, der einen brennenden Molotowcocktail auf Momos Haus warf. Ich konnte es nicht fassen. Da ist also dieser Junge, wahrscheinlich jünger als ich, ganz in Schwarz gekleidet, aber oben auf der Stirn, direkt am Haaransatz, klebt eine weiße Serviette an getrocknetem Blut fest. Neben ihm auf dem Rasen vorm Haus war ein Van geparkt. Als ich den Typen sah, habe ich den Motor ausgestellt und bin näher rangerollt, weil ich nicht wusste, was er vorhatte. Er stand ganz lange mit der schon brennenden Flasche in der Hand vor dem Haus.
Ich war schon sicher, dass sie ihm in der Hand explodiert. Es sah aus, als würde er mit sich selbst reden, flüstern, und die ganze Zeit nicht merken, wie ernst die Lage schon war, und irgendwann muss er sich tatsächlich die Hand verbrannt haben, weil er aufschrie und das Ding so fest er konnte Richtung Haustür schleuderte. Danach drehte er sich sofort zu seinem Van um, und dann sah er mich an, als ob er irgendwas mit mir anstellen wollte, aber stattdessen fuhr er bloß weg.
Ich bin dann zur Tür gegangen, weil ich nachsehen wollte, ob sich irgendwas von Momos Sachen noch retten ließe, aber als ich den Kopf durch die Tür steckte, sah ich als Erstes ein Mädchen mit dem Gesicht nach unten auf dem Wohnzimmerfußboden liegen, und alle Gedanken, die ich vorher im Kopf hatte, lösten sich in Luft auf.
Neben ihr kletterte ein großes zuckendes Dreieck aus orangeroten Flammen die Wand hoch, wie im Film, bloß lauter und richtig heiß. Schon aus einem Meter Entfernung kräuselten sich alle Haare auf meinem rechten Arm zu kleinen schwarzen Knubbeln zusammen, und ich hatte bloß noch einen Gedanken: das Mädchen an den Fußgelenken rauszuschleifen. Dabei habe ich ihr das Kinn und die Wange ziemlich fies an der Betonveranda aufgeschrammt, ehe ich sie auf dem Rasen hatte und auf den Rücken drehen konnte. Sie war bewusstlos und hat geblutet, und ich wurde panisch und habe nach ihrem Puls gesucht.
In meinem Zimmer drücke ich bei den Specials auf Stop. Wie gut, dass ich Duschen sowieso überbewertet finde, bei uns ist nämlich mal wieder das Wasser abgestellt – hat irgendwas mit der Arbeit an den Leitungen zu tun. Ich stelle da gar keine Fragen mehr. Ich trage Deo auf, schnappe mir ein blaues Fred-Perry-Polo, klappe den Kragen hoch und hänge mir rote Hosenträger um. Dann noch meine fleckig gebleichte Jeans an, so weit umgeschlagen, dass man jeden Zentimeter meiner schwarzen Docs sehen kann. Mein Vater sieht mich jeden Morgen so und verdreht die Augen. Ich habe es ihm schon so oft erklärt, aber er weiß immer noch nicht, was ein Rude boy ist oder warum sein mexikanisch-amerikanischer Sohn unbedingt einer sein will.
Er begreift nicht, dass Kultur für meine Generation was ganz anderes bedeutet – dass wir uns das aussuchen können. Es geht nicht mehr um die gleichen Sachen wie damals, als er in meinem Alter war. Heute ist hier alles nur noch cholo-Scheiß. Gangster-Kram. Das ist so egozentrisch. Er begreift gar nicht, dass die Musik mich gerettet hat. Der Ska, Two Tone, Trojan Records, das hält mich aus dieser Welt raus. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, mein Alter wäre glücklicher, wenn ich auch Gangster wäre, weil das seiner eigenen Geschichte näher ist, auch wenn er nie darüber redet – auch wenn er noch andere Narben hat, die bestimmt nicht von Baustellen stammen, obwohl er das behauptet.
Aber meine Mutter, die versteht mich. Die ist froh, dass ich nicht voll drin bin. Sie ist überhaupt der Grund, dass ich noch zu Hause wohne, obwohl ich schon seit einem Jahr mit der Highschool fertig bin. Sie ist jetzt schon auf der Arbeit. Sie hat gestern Abend einen Anruf gekriegt, dass das Buchführungsbüro, bei dem sie arbeitet, heute wieder aufmacht, nachdem es wegen der Unruhen letzte Woche geschlossen war. Sie ist früh losgefahren, als ich noch gar nicht wach war, weil ihr die Berichte über Heckenschützen in den Fernsehnachrichten Angst gemacht haben. Wenn sie nicht da ist, fällt es meinem Vater und mir noch schwerer, so miteinander zu reden, dass es nicht wie Streiten klingt.
3 Mein Vater sitzt am Küchentisch, als ich dazukomme, und schüttet Ketchup über sein Omelett, weil er der einzige Mexikaner der Welt ist, der es nicht mit Salsa isst. Er sagt, er kann es essen, wie er will, weil er es bezahlt.
Ich setze mich ihm gegenüber und frage sofort: «Was möchtest du, Dad?»
«Wie meinst du das, ‹was möchte ich›?» Er wedelt mit der Gabel. «Ich möchte was essen.»
«Schon klar, aber warum hast du für mich auch was gemacht? Was ist dein Motiv?»
Er schnaubt verächtlich und nimmt einen Bissen. «‹Motiv›? Du siehst zu viel fern, mijo, wenn du solche Wörter benutzt.»
Er spottet nur deshalb so, weil er sich ertappt fühlt. Er will tatsächlich etwas von mir. Ich muss bloß abwarten. Ich sehe aus dem Küchenfenster auf den halb gefliesten Brunnen im Garten, den mein Vater immer noch nicht fertig hat.
Er ist wie ein kreisrunder, dreistöckiger Hochzeitskuchen gebaut, mit einem Graben drum herum, und er sieht aus wie ein Friedhof der kaputten Regenbögen, weil die Kacheln grün und rot, blau und gelb, lila und weiß sind, alles wild durcheinander. Die guten Fliesen verwendet mein Vater für seine Aufträge, aber zu Hause spart er lieber und verfliest die Scherben aus dem Laden. Waisen nennt er sie und sagt, er muss ein Heim für sie finden, das ist seine Buße. Ich habe ihn zwar danach gefragt, aber er hat es mir nie erklärt.
Mein Vater starrt mich volle dreißig Sekunden an, als wäre ich ein Arschloch. «Ich möchte, dass du mit nach Compton kommst, um nach dem alten Haus zu sehen. Nimm einen von deinen Freunden mit. Schwer zu sagen, wie sicher es da draußen ist.»
Ich glaube, ich kann Kerwin anrufen, inzwischen wird er bestimmt wach sein, aber ich denke mir auch, wenn ich das tue, kann mein Vater auch etwas für mich tun.
«Okay», sage ich, «aber ich möchte beim Krankenhaus vorbeifahren und nach Cecilia sehen.»
Mein Vater seufzt. «Das Mädchen bringt nichts als Ärger. Von der musst du die Finger lassen.»
«Ich will nur sichergehen, dass es ihr gutgeht», sage ich.
Ich hatte gar nicht vor, Momo wegen Cecilia anzulügen. Das ist einfach so passiert.
Ich sitze bloß im Haus und schaue mir im Fernsehen an, was so abgegangen ist in der Stadt, und plötzlich steht Momo in unserem Vorgarten und hinter ihm ein Auto voller cholos. Damit hatte ich nicht gerechnet, darum habe ich Panik gekriegt und bin nach draußen gegangen. Und im nächsten Augenblick habe ich auch schon gelogen, als er mich nach ihr gefragt hat. Und zwar deshalb, weil es sich so anhörte, als würde er sie umbringen, wenn ich ihm verrate, wo sie ist.
In Wahrheit ist sie nämlich gar nicht weggelaufen. Sie hatte viel Rauch eingeatmet, aber das war nicht alles. Sie war echt weggetreten. Es war echt nicht schön anzusehen, wie reglos sie war, fast schon tot, und bloß Hustenanfälle brachten sie ab und zu in Bewegung. Ich legte sie im Honda meiner Mutter auf den Rücksitz und fuhr zum St. Francis Medical Center an der Kreuzung MLK und Imperial. Ich habe die Formulare für sie ausgefüllt, so gut ich konnte, aber im Grunde hatte ich bloß einen Vornamen, weil ich sie vor Monaten kurz kennengelernt hatte, und Momos Adresse. Als man sie in die Aufnahme schob, habe ich ihr gesagt, ich würde nach ihr sehen, und das habe ich ernst gemeint.
Aber jetzt grade guckt mein Vater mich an, als sei ich so dämlich und wollte was mit dem Mädchen eines Drogendealers anfangen. Die würde ich noch nicht mal anmachen, wenn ich sie attraktiv fände – was ich nicht tue –, weil ich nämlich Momo erzählt habe, dass sie gesund und abgehauen ist und nicht dass sie hier in Lynwood an einem Beatmungsgerät hängt. Ich habe so schon genug Ärger am Hals.
«Na gut», sagt mein Vater schließlich.
Wir sind tatsächlich miteinander verwandt. Er sagt es in genau dem gleichen Tonfall, wie ich vorhin gesagt habe, ich würde mit ihm frühstücken, so als wäre es überhaupt nicht gut, aber er macht es trotzdem. Er wird mich zum Krankenhaus fahren.
Wir haben einen Deal.
4 Mittags fahren wir los Richtung Krankenhaus, aber als wir auf dem MLK sind, fragt mein Vater, ob ich Mittagessen will, und als ich antworte, dass ich keinen Hunger habe, ignoriert er das und fährt trotzdem auf den Parkplatz von Tom’s Burgers. Das ist schon eher typisch mein Vater, denke ich, hört nicht richtig zu und macht sowieso, was er will. Tom’s ist direkt gegenüber vom Krankenhaus. Ich glaube, er macht das aus Prinzip. Er wollte eigentlich gar nicht herkommen, darum wird er es so lang wie möglich rausschieben.
Drinnen ist viel los. Wir gehen an den Spielautomaten vorbei zur Theke, um zu bestellen. Ein kleiner schwarzer Junge sitzt an einem Ballerspiel, zwei Freunde feuern ihn an. Tom’s ist ein lokaler Laden, gut genug für die Gegend – das Essen ist billig, reichlich und gelegentlich schmackhaft –, und da hier wieder überall Familien sitzen und zu Mittag essen oder Paare sich Pommes teilen, macht es den Eindruck, als würde das Leben zur Normalität zurückkehren, jedenfalls ein bisschen. Es ist noch nicht so, dass sich Fremde spontan zulächeln, aber ich habe das Gefühl, den anderen geht es ähnlich wie mir. Die Blicke zucken nicht unruhig hin und her. Die Leute beugen sich nicht tief über ihr Essen. Alle versuchen bloß, ihr Leben weiterzuleben.
Vor uns warten acht Leute, es ist total verräuchert von zu vielen Zigaretten. Die ganze Zeit, die wir in der Schlange stehen, wünsche ich mir nur, wir wären bei Tam’s am Long Beach Boulevard. Da gibt es die besten Chili-Cheese-Pommes. Ich weiß, Tam’s und Tom’s, da kann man schnell durcheinanderkommen, aber nicht, wenn man in Lynwood aufwächst. Alle Menschen, die ich kenne, finden Tam’s besser, bloß ist das eben nicht neben dem Krankenhaus, Tom’s aber schon.
«Überleg dir schon mal, was du willst», sagt mein Vater. «Wenn wir dran sind, will ich auch bestellen.»
«Na gut», sage ich, und schon steht wieder eins der Rivera-Lieblingsthemen im Raum.
Mein Vater weiß immer, was er will, und wenn ich es nicht weiß, egal, worum es geht, wird er wahnsinnig. Manchmal nutze ich das zu meinem Vorteil, aber an einem Tag wie heute, wo ich gar nicht richtig hungrig bin und eigentlich gar nicht hier sein will, tue ich ihm gern den Gefallen und schaue mir die Speisekarte hinterm Tresen an. Ich schätze, ein Cheeseburger reicht. Da bin ich auf der sicheren Seite. Kein Thousand Island Dressing, keine Zwiebeln. Aber jalapeños. Den Ketchup kann ich selbst drauftun. Der steht immer an der Würzstation.
Als wir mit Bestellen dran sind, sage ich dem Mädchen hinterm Tresen, was ich will, und sie schreibt es auf. «Ist das alles für Sie?», fragt sie.
«Das ist alles», sage ich.
«Das reicht nicht für dich», sagt mein Vater, «und ich hab auch keine Lust, mir nachher anzuhören, dass du Hunger hast. Geben Sie ihm noch Pommes dazu.»
Ist das peinlich. Es wäre natürlich weniger peinlich, wenn das Mädchen am Tresen nicht so verdammt süß wäre – ist sie nämlich. Auf ihrem Namensschild steht Jeanette, und ich will mich gerade für meinen Vater entschuldigen, als der Typ hinter mir meinem Vater auf die Schulter tippt. Mein Vater schüttelt ihn ab, aber er hat schon zum Vortrag angesetzt.
«Sir, ich würde Ihnen niemals zur Last fallen wollen, aber ich habe Hunger. Ich bin Diabetiker. Ich habe nicht mehr richtig gegessen, seit die ganze Sache hier losgegangen ist.» Es klingt, als würde er von einer Liste ablesen. «So ein Bursche namens Terry flussaufwärts von mir ist angezündet worden …»
So redet er weiter. Was er sagt, könnte stimmen, es könnte auch eine Nummer sein, die er immer abzieht, aber das bezweifle ich irgendwie. Ich sehe, wie mein Vater ihn mustert, einen Schwarzen, der bessere Tage gesehen hat. Er sieht aus wie ein Penner. Ein erschöpfter Schwarzer mit heller Haut. Kann höchstens eins fünfundsechzig groß sein in seinem langen schwarzen T-Shirt, der Trainingsjacke und der schmutzigen Shorts, aus der dünne Stöckchenbeine ragen. Er stützt sich auf einen mit Federn geschmückten Gehstock. Das Haar hat er hinten zu einer Art Pferdeschwanz zusammengeflochten, ausgefranst und schlaff, und die Nase hinunter hat er eine lange Narbe, geformt wie ein C, so als hätte ihm jemand einen Nasenflügel abschneiden wollen und ihn knapp verfehlt. Seine Wangen sind mit schwachen Sommersprossen gesprenkelt, und er sieht total stoned aus – die Pupillen so sehr geweitet, dass auf beiden Seiten bloß schmale Ringe der blauen Iris zu sehen sind.
Mein Vater sagt ihm, er soll bestellen, was er möchte, was wirklich schräg ist, denn so was macht mein Vater nie. Der Typ bestellt einen Cheeseburger mit Bacon und Pommes mit extra Gewürzsalz. Dann sagt er mir, ich hätte einen wirklich guten Menschen zum Vater, und fragt nach meinem Namen, also antworte ich: «Mikey.» Dann fragt er meinen Vater und bekommt Miguel zur Antwort. Er erzählt uns, dass er James heißt, dass er sich freut, uns kennenzulernen, was er natürlich vor allem ist, weil mein Vater ihm was zu essen kauft. Ich sehe schon, wie mein Vater abschaltet, als James ihm noch mal für seine Freundlichkeit dankt. Er hat seine gute Tat getan, und jetzt will er seine Ruhe.
Während dieses Gesprächs beobachte ich, wie Jeanette die Bestellung notiert und auf James’ Zettel handschriftlich «Zum Mitnehmen» notiert, was gut ist, denn jetzt fängt James von Vietnam an, dass er Veteran ist und wie wenig Anerkennung es in diesem Land dafür gibt, ehe er wieder das Thema wechselt und vom Fluss erzählt.
Die Leute beobachten uns, als mein Vater bezahlt. Solange er auf das Wechselgeld wartet, starre ich auf eine Bodenfliese, so eine mit hunderttausend verschiedenen Steinchen drin, ganz plattgedrückt. Mein Vater wüsste, wie das heißt.
Schließlich unterbricht er James. «Hör mal, ich hab dir was zu essen gekauft, das bringen sie dir gleich, also setz dich allein irgendwohin. Wir haben unsere eigenen Probleme. Wir müssen nicht auch noch deine hören.»
Das klingt vielleicht ein bisschen kaltherzig, aber es stimmt. Alle haben Probleme. So ist es einfach. Am besten, man sagt den Leuten direkt, was Sache ist, was man für sie tun kann und was nicht.
«Verflucht noch eins», sagt James, «man muss ja nich gleich unverschämt werden.»
Keine Ahnung, wo man verflucht noch eins sagt, aber sein Akzent klingt nach Südstaaten, jedenfalls nicht nach Kalifornien. Er spricht so einen weichen Singsang, der gar nicht zu seinem abgerissenen Äußeren passt. Ich versuche ihn noch einzuordnen, da packt mein Vater mich schon am Ellbogen, doch ich mache mich los und starre ihn böse an. Er erwidert meinen Blick, seufzt und geht zu einem Tisch in der Ecke. Ich gehe zur Würzstation und hole Ketchup, eine Flasche Tapatío und Servietten. James folgt mir.
«Erzählt mir, ich soll mich allein hinsetzen», sagt er, «ganz schön widersprüchlich. So was würde Unsere Liebe Frau nie machen. Sie würde das niemals sagen.»
«Payasa», sagt eine männliche Stimme an einem Tisch hinter mir. «Kümmer dich um den Scheiß.»
5 Ein muskulöses Mädchen, ein ganzes Stück größer als ich, steht vom Tisch auf, an dem sie mit drei Typen sitzt, und tritt zwischen James und mich. Sie ist eine echte chola. Das sehe ich schon daran, wie sie mich von der Seite anschaut. Sie hat hellbraune Augen, so wie braunes Bierflaschenglas, wenn das Licht durchscheint.
«Entschuldigung», sagt sie, «macht der Typ dir Ärger?»
«Nein», sage ich, «ist schon okay.»
«Na gut», sagt sie zu mir, aber dann dreht sie sich zu James um und tritt dicht vor ihn. «Du gehst besser nach draußen, wenn du essen willst, was dir diese netten Leute besorgt haben. Das hätten sie nicht tun müssen. Ich hätte es nicht gemacht.»
Ich schiebe mich zu dem Tisch, an dem mein Vater sitzt, und sehe, dass James jetzt so ein irres Glitzern in den Augen kriegt.
«Ist das Land der Freien», sagt James zu dem Mädchen. «Ich bin Veteran, verflucht noch eins.»
«Ja, das haben wir beim ersten Mal schon verstanden», sagt sie. «Vielen Dank für deinen Einsatz. Und jetzt tu uns allen einen Gefallen und halt die Fresse.»
Da klappt James’ Kinnlade runter, er fängt empört an zu schnaufen und zieht den Ärmel seiner Trainingsjacke hoch, um zwei lange Narben zu zeigen, die seinen Unterarm hinablaufen.
«Eine Machete.» James fährt mit dem Zeigefinger über den Arm. «Ich bin Veteran, verflucht noch eins, ihr Hurensöhne! Land der Freien!»
Ich bin kein Experte, aber die Wunde könnte wohl von einer Machete stammen. Ich schaue meinen Vater an, ob er das Gleiche denkt, aber der sieht nach unten, liest einen Teil der Zeitung, die er nach dem Frühstück mitgenommen hat. BRADLEY HEBT HEUTE AUSGANGSSPERRE AUF lautet die Titelschlagzeile, und darunter KEINE VORHERSAGEN ZUM TRUPPENABZUG.
«Scheiße», sagt Payasa. «Das ist doch gar nichts.»
Ich rutsche auf die hölzerne Sitzbank und starre immer noch Payasa an, die jetzt ihr Hemd hochzieht und einen ganzen Schwarm von Narben an der Seite ihres Bauchs zeigt.
«Das da ist keine Narbe», sagt sie zu James. «Das hier sind Narben.»
Es sieht so aus, als hätte ein Blinder versucht, römische Zahlen auf ihren Leib zu schreiben, hauptsächlich Is, ein X und ein V. Ich brauche einen Augenblick, um zu erkennen, dass es sich um alte Stichwunden handeln muss. Ich zähle zehn und bin noch nicht fertig, als sie das Hemd wieder runterlässt.
«Das Land der Freien», sagt sie, «aber nur, wenn man seinen verfickten Beitrag zahlt.»
Ich glaube, gleich haut sie ihm eine.
Das scheint James auch zu denken, denn er macht einen Schritt zurück.
«Ich hab schon bezahlt», sagt er, oder vielmehr jammert er. Irgendwie hat er den Wettkampf verloren, ich weiß gar nicht genau, wie, aber die Sache ist gelaufen, denn er wirkt jetzt anders, gebeugter. «Ich habe meinen Beitrag mit Blut bezahlt, jawohl. Mit Blutgeld. Dies ist eine schwarze Stadt!»
Den Leuten im Laden war die Sache schon unangenehm, bevor auch noch die Hautfarbe ins Spiel kam. Dieser Satz teilt das Publikum in zwei Hälften: Es steht etwa Fifty-fifty zwischen Latinos und Schwarzen, dazu kommt eine samoanische Familie. Ich merke, wie die Leute im Stillen Partei ergreifen und zu allem bereit sind, sollte irgendwas passieren. Mein Vater nimmt die Flasche Tapatío vom Tisch und dreht sie in der Faust um, als wollte er damit zuschlagen, wenn nötig. Das geht so still und ruhig vor sich, dass ich es beinahe übersehen hätte. Er wendet nicht mal den Blick von der Sportseite und dem Artikel LAKERS LASSEN SICH NICHT VOM PLATZ FEGEN.
Payasa lacht. Das löst die Spannung im Raum aber kein bisschen. Im Gegenteil.
«Nein», sagt sie, «das hier ist keine schwarze Stadt, aber vielleicht solltest du noch ein bisschen hierbleiben. In zehn Jahren wird es nirgendwo mehr Spare Ribs geben, nur noch Taco-Stände.»
James platzen fast die Augen aus dem Kopf. Er sieht aus, als würde er gleich explodieren.
«Und weißt du auch, warum? Weil wir mehr ficken als ihr», fährt sie fort. «Wir kriegen mehr Kinder als ihr, und wir bleiben hier. Wir haben schon gewonnen. Ist bloß noch eine Frage der Zeit.»
James macht den Mund auf, aber das Mädchen hinter der Bestelltheke entschärft die Lage, indem sie ihm sein Essen in der Take-Away-Tüte reicht. Er starrt Jeanette an. Ihre Lippen sagen stumm Geh einfach, und ihm geht wohl auf, dass der Vorschlag nicht übel ist, denn er geht rückwärts zur Tür, ohne Payasa aus den Augen zu lassen.
«Na also», sagt die chola mit selbstzufriedener Miene, «hab ich mir doch gedacht. Ihr könnt alle weiteressen. Alles unter Kontrolle. Die Show ist vorbei.»
Sie setzt sich wieder, mein Vater stellt die Flasche Tapatío wieder auf den Tisch, zieht sich den Blechaschenbecher heran und eine Packung Nelkenzigaretten aus der Tasche. Ich werfe ihm einen Blick zu, der ihm zeigt, was ich davon halte, mit einem Raucher essen zu müssen, aber den wirft er mir gleich wieder zurück.
«Was denn? Beim Essen mache ich sie aus», sagt er.
Von unserem Tisch aus sieht man auf der anderen Straßenseite den gläsernen Turm von St. Francis, an ein rechteckiges Gebäude gepappt und mit einem kleinen Kreuz obendrauf. Daneben beginnt eine Ladenzeile mit weißer Fassadenverkleidung, die mein Vater grauenhaft nennen würde. Am Ende der Reihe liegt ein kleines Kreditbüro, vor dem mit Gewehren bewaffnete Wachleute stehen. Zwei Häuser weiter kommt ein Nagelstudio, aber das ist geschlossen. Nichts davon ist so interessant wie Payasa.
Ich sehe sie wieder an und den Tisch, an dem sie sitzt. Sie sitzt mit dem Rücken zu mir und rollt die muskulösen Schultern. Das Haar trägt sie rechts und links zu zwei straffen Zöpfen geflochten. Sie sehen ein bisschen aus wie Kleine-Mädchen-Rattenschwänze, bloß cooler und irgendwie härter. Ich habe eigentlich noch nie ein richtiges weibliches Gangmitglied gesehen. Hier und da mal ein Mädchen in einer Gruppe, aber keine, die so aufsteht und Sachen regelt.
Ich beobachte ihren Tisch einen Augenblick, und dann wird mir klar, warum ausgerechnet sie eingreifen musste. Die drei Typen sind alle verletzt. Man braucht kein Fuchs zu sein, um sich zu denken, dass sie gerade aus dem Krankenhaus kommen. Einer sitzt im Rollstuhl, ein Bein hochgelegt. Außerdem hat er den Arm in einer Schlinge. Der Magere neben ihm hat einen Verband um den Kopf, und ich merke, dass er auf die Hand meines Vaters starrt – ich nehme an, auf die Narbe. Seine Augen sind so tot wie die meines Vaters manchmal, wenn keiner mitkriegen soll, was er denkt; aber irgendwas geht in dem Typen vor, denn er schiebt sein Essen weg und dreht sich mit dem ganzen Körper zum Fenster. Warum wohl, frage ich mich.
In letzter Zeit versuche ich, die Augen nach Geschichten offen zu halten, und ich bin sicher, es muss einfach eine gute Story sein, wie diese vier in diesem Zustand hierhergekommen sind. Außerdem möchte ich denen, die das angerichtet haben, auf keinen Fall begegnen, denn die vier sehen schon hart genug aus. Ich gehe aufs El Centro Community College und lerne Unternehmensführung für Kleinbetriebe, weil mein Vater es will, damit ich ihm mit seinem Laden helfen kann, aber eigentlich will ich Schriftsteller werden, darum belege ich heimlich Englischkurse, wann immer es sich einrichten lässt.
«Mein Burger ist verbrannt», sagt der Typ im Rollstuhl. «Wir hätten zu Tam’s gehen sollen.»
«Mach dir keinen Kopf», sagt der Größte. Sein teilweise tätowierter Arm steckt in einer frischen Gipsschiene, ganz ohne Unterschriften darauf. «Wenn ich kochen könnte, müsstest du das nicht essen, aber ich kann nicht, und Tom’s ist in der Nähe, so einfach ist das. Gern geschehen.»
Er hört sich an wie mein Vater – ein Ernährer, der sich mehr als nur ein bisschen ausgenutzt fühlt.
«’tschuldigung, mein Fehler», sagt der andere.
Danach reden sie nicht mehr viel, und mir fällt auf, dass sie ziemlich erschöpft wirken. Mein Vater und ich essen auf, aber ich leiste noch trotzigen Widerstand, indem ich die Pommes nicht anrühre, die er bestellt hat. Er isst sie und starrt mich dabei die ganze Zeit an.
Als wir gehen, spüre ich wieder Blicke auf uns ruhen, aber ich drehe mich nicht um. Wir gehen auf den Parkplatz, und ich sehe einen Bus an der Norton Avenue stehen. Eine Seite ist vollkommen von Graffiti bedeckt, aber ich kann die Buchstaben nicht lesen. Vielleicht ein F und noch was. Ein P oder vielleicht ein K? Sieht eher aus wie ein K. Ich gehe hin und steige über eine kleine Mauer auf den Parkplatz der Bank nebenan. Von da kann ich die Rückseite des Busses sehen, und was dort steht, kann ich ganz deutlich lesen – da steht ERNIE. Auf dem unteren Arm des letzten E steht noch R.I.P. – Ruhe in Frieden.
Ich frage meinen Vater: «Hast du das gesehen?»
«Klar», sagt er und sucht in der Tasche nach dem Autoschlüssel.
Ich frage ihn, was er davon hält.
«Ich glaube, der ist gestorben», sagt mein Vater und zuckt die Achseln.
Dann steigt er ein, aber ich sehe weiter den Schriftzug an, weil er zum Ansehen gemacht ist. Neben mir springt der Pick-up an. Ich trete einen Schritt zurück. Mir kommt der Gedanke, dass du so etwas nur bekommst, wenn du jemandem viel bedeutest und wenn dir etwas richtig Trauriges zugestoßen ist. Es ist eine Ehrung, und sie soll wahrgenommen werden. Nicht jeder, der sie sieht, wird berührt sein, aber alle werden wissen, dass du existiert hast. Ich frage mich, was wohl Ernies Geschichte war, was er durchgemacht hat, dass sein Name sich so auf der Rückseite eines Busses wiederfindet.
Mein Vater hupt nach mir.
«Okay, ist ja gut! Ich komme», sage ich. «Du musst nicht gleich hupen!»
Mein Vater schreit aus der Fahrerkabine durchs geschlossene Fenster. «Du wolltest doch unbedingt ins Krankenhaus!»
Er hat recht. Natürlich hat er recht, aber eins hat sich seit Beginn der Unruhen geändert: Ich nehme die Dinge jetzt stärker wahr. Ich sehe, ich beachte meine Stadt wieder richtig. Vorher habe ich sie gar nicht mehr bemerkt. Durch L.A. zu fahren, das war bloß immer der Übergang von der einen Beschäftigung zur anderen, Essen oder Abhängen mit Freunden, aber jetzt, nach fünf Tagen, nachdem die Nationalgarde angerückt ist, nachdem sogar die U.S. Marines angerückt sind und die Stadt wieder sicher gemacht haben, ist das Herumfahren selbst die Beschäftigung.
Einen letzten Blick werfe ich noch auf ERNIE, ich hoffe, er hatte ein gutes Leben, das beste Leben, das er unter diesen Umständen haben konnte, und dann kommt mir das albern vor, schließlich habe ich ihn ja gar nicht gekannt, also steige ich einfach in den Pick-up, und wir fahren los.
6 Auf dem Weg zu Cecilias Zimmer in der Akutversorgung belausche ich im Fahrstuhl, der nach Ammoniak und Donuts riecht, das Gespräch zweier Krankenschwestern über die Ereignisse im Wartesaal der Notaufnahme von St. Francis am Freitagabend.
«Da kamen so zwei Gangster rein und haben mit Pistolen rumgewedelt», sagt die Kleinere der beiden. «Kein Mensch wusste wieso, aber so war’s. Und die beiden marschieren direkt auf so eine Familie zu, die mit Verbrennungen von einem Hausbrand reingekommen war, nur leichte Verbrennungen, aber immerhin, diese Familie wartet auf Versorgung, alle halten sich feuchte Lappen an den Arm oder in den Nacken, und da kommen diese Gangster rein und halten ihnen Pistolen ins Gesicht, sogar einem kleinen Mädchen.»
Die große Krankenschwester macht ein besorgtes Geräusch. «Wie alt war denn das Mädchen?», fragt sie.
«Kann nicht älter als elf oder zwölf gewesen sein», sagt die Kleine. «Das Komischste war, dass diese beiden Gangster anscheinend gar nichts wollten. Sie wollten niemanden berauben. Sie haben nicht nach Brieftaschen gefragt. Sie wollten die Leute bloß terrorisieren, verstehst du? Wollten da bloß rumstolzieren und auf hart machen.»
«Ich hab noch nie erlebt, dass Homeboys auftauchen und ohne Grund so was abziehen. Die haben bestimmt irgendwen gesucht und konnten ihn nicht finden.» Die Größere schnieft. «Wie lange hat das Ganze denn gedauert?»
«Zwanzig Minuten», sagt die andere. «Dann sind vier Nationalgardisten reingekommen, haben die Gewehre auf sie gerichtet und ihnen gesagt, sie sollten schnellstens verschwinden, sonst hätte das Ganze ernsthafte Konsequenzen. Das haben sie tatsächlich so gesagt. Ernsthafte Konsequenzen.»
An dieser Stelle piept hinter mir dreimal schrill der Pager der einen Schwester. Ich weiß nicht, welcher von beiden er gehört, weil mein Vater und ich als Letzte in den Fahrstuhl gestiegen sind und uns höflich mit dem Gesicht zur Tür gestellt haben, aber ich merke, dass sie beide nachsehen.
«Die Pflicht ruft», sagt die Größere und steigt im vierten Stockwerk aus, als wir dort halten.
Wir wollen in den sechsten Stock, und zu meiner Erleichterung bleibt die Kleinere bei uns.
«Entschuldigen Sie, dass ich gelauscht habe», sage ich, «aber ich würde gern wissen, was danach passiert ist.»
Sie betrachtet mich einen Augenblick, als würde sie abwägen wollen, ob ich es wert bin, den Rest zu hören. Sie hat schwarze Haare, blaue Augen und eine kleine Stupsnase wie eine Skisprungschanze.
«Die Gangster haben sich tatsächlich zurückgezogen und so was Ähnliches gesagt wie ‹Okay, Mann, ist ja gut, kein Problem, wir wollten bloß ein bisschen Spaß haben›.»
«Wow», platze ich heraus, «so was ist ‹ein bisschen Spaß haben›?»
Sie zuckt die Achseln und legt den Kopf schräg, versucht vielleicht zu entscheiden, ob ich behütet oder bloß naiv bin, weil Gangster in dieser Gegend ständig allen möglichen Mist machen, und warum sollten sie nicht noch verrücktere Sachen anstellen, wenn niemand sie daran hindert? Ich bin weder das eine noch das andere, behütet oder naiv – aber woher soll sie das wissen? Sie macht mich bloß nervös, weil sie so hübsch ist. Ich frage mich, ob sie das merkt. Mein Vater merkt es. Ich spüre, wie er neben mir grinst.
Jetzt wird die Stille fast peinlich, aber ich möchte wissen, ob die Geschichte noch weitergeht. «Und das war’s? Sie sind einfach gegangen?»
«Ja», antwortet sie, «sie sind gegangen, und als sie weg waren, haben alle Anwesenden applaudiert.»
«Cool», sage ich. Nicht die beste Reaktion, aber immerhin habe ich was gesagt.
Als wir im sechsten Stock aussteigen, danke ich ihr, weil sie mir erzählt hat, wie das Ganze ausging, und sie zwinkert mir mit ihren blauen Augen zu und sagt «Kein Problem», als die Tür zugeht.
7 Die Besuchszeit hat schon um halb elf begonnen, aber wir sind nun erst um kurz nach eins hier. Krankenhausflure sind für mich alle gleich: weiße Wände, weiße Bodenfliesen, Neonlicht; unpersönlich, sauber, hallend. Am Empfang verrät uns eine Krankenschwester mit eigenartiger Schichtfrisur, die aussieht wie ein grauer Kohlkopf, dass Cecilia gerade fertig sein dürfte mit dem Mittagessen und dass man vorhat, sie zu entlassen oder vielmehr in die –
An dieser Stelle unterbricht sie sich.
«Entschuldigung», sagt sie, «sind Sie Angehörige? Das darf ich Ihnen nämlich nur sagen, wenn Sie Angehörige sind.»
Ich sage nein, bevor mein Vater es tut, denn das würde er.
«Gut für Sie», sagt die Schwester. «Sonst müsste ich nämlich Personalien und Versicherungsdaten aus Ihnen rausquetschen. Wir haben in letzter Zeit zu viel gratis gearbeitet.»
Sie reicht uns ein Klemmbrett mit dem Anmeldeformular für Besucher, und während ich meinen Namen und den meines Vaters eintrage, erzählt uns die Krankenschwester, das ganze Krankenhaus hätte viel zu viele Patienten. Im Moment versuchten sie bloß zu behandeln und wieder zu entlassen. Dann nennt sie uns Cecilias Zimmernummer. Als wir dort ankommen, steht die Tür offen.
Das Zimmer, in dem sie liegt, ist eigentlich für zwei gedacht, aber außer den beiden Betten steht noch eine Liege an der Wand, unter dem Fernseher. Die ist leer, genau wie das andere Bett. Vor dem Fenster sehe ich sechs Stockwerke unter uns das Grün vom Lynwood Park. Der Park hat ein Baseballfeld und einen Spielplatz, der mit gelbem Absperrband begrenzt ist.
Ich klopfe an den Türrahmen. Cecilia steht neben dem Bett und zwängt sich in eine Jeans. Ihre Haare hängen vom Duschen glatt und schlaff herunter und liegen schwer auf den Schultern. Dort hinterlassen sie einen wachsenden feuchten Fleck auf dem T-Shirt mit der Aufschrift THE CITY OF LOS ANGELES MARATHON, YOUR LIFE, 1989. In diesen Sachen habe ich sie nicht hergebracht.
«Altkleider.» Als hätte sie meine Gedanken gelesen. «Ist das zu fassen? Die Krankenhaustypen erzählen mir alle, meine Klamotten wären zu verräuchert gewesen. Ein Gesundheitsrisiko, mussten vernichtet werden. Die lügen, ich sag’s dir.»
Sie nestelt am obersten Knopf der Jeans herum. Sie ist noch blasser als beim letzten Mal, wenn das überhaupt möglich ist, als ob sie in der Zwischenzeit zehn Pfund abgeschwitzt hätte. Aber die Kratzer an Kinn und Wange sind verschorft. Alles in allem sieht sie besser aus.
«Sie wollen mich zu ’nem Therapeuten schicken, aber den Scheiß mach ich nicht mit.»
Sie redet ganz seltsam. Es ist, als ob wir zwar da sind, und sie nimmt uns auch wahr, aber dann auch wieder nicht. Ihre Worte sind anscheinend gar nicht an uns gerichtet, es klingt eher so, als wollte sie das bloß irgendwem erzählen, der gerade vor ihr steht.
Sie redet weiter. «Diese Krankenhausleute halten sich für ganz schlau, sie meinen, ich hätte noch Glück, dass sie mich nicht wegen illegalem Drogenkonsum anzeigen, aber wie wollen sie mich denn anzeigen, wenn sie nicht mal meinen vollen Namen wissen?»
Darüber lacht sie, als wäre sie richtig clever, und der durchdringende Blick meines Vaters brennt mir den Satz Ich hab dir doch gesagt, das Mädchen ist kaputt in die Wange, aber ich beachte ihn gar nicht.
«Ich muss zurück zu Momo», sagt sie.
Wow. Das ist wirklich das Letzte, was ich hören will. Ich weiß gar nicht, wie ich darauf reagieren soll, aber immerhin bekomme ich überhaupt etwas heraus: «Ich glaube, das ist keine so gute Idee. Das hier könnte für dich doch, na ja, ein Neuanfang sein.»
Als ich das gesagt habe, kriegt sie so einen irren Blick, als hätte ich was ganz Wahnsinniges vorgeschlagen.
«Und was für eine gute Idee das ist», sagt sie. «Ich will Momo. Der kann mein Neuanfang sein.»
Ich habe schon das Gefühl, dass ich absaufe, also riskiere ich was. Ich habe keine Wahl.
«Es ist besser für uns beide, wenn du dich nicht erinnern kannst, wie du ins Krankenhaus gekommen bist. Momo glaubt, ich habe dich gerettet und es ging dir gut, und dann hast du mir einunddreißig Dollar geklaut und bist abgehauen. Kannst du dir diese Zahl merken, falls er dich danach fragt? Einunddreißig?»
Sie schaut mich angewidert an, dass ich so was überhaupt vorschlage. «Wieso sollte ich ihn anlügen? Ich würde ihn nicht anlügen. Nicht Momo. Ich liebe ihn.»
So geht es hin und her, ich versuche sie zu überreden, meine Version Momo gegenüber zu bestätigen, sie will nicht, wir kommen also keinen Schritt weiter, und ich ziehe frustriert und besorgt ab, weil ich Angst davor habe, was passieren könnte, wenn Momo herausfindet, dass ich gelogen habe. Wenn er das nämlich erfährt, wird er wissen wollen, warum, und das Letzte, was so ein fieser Typ in so einer Situation hören will, ist dass du seine Freundin bloß vor ihm schützen wolltest.
Im Flur sagt mein Vater kein Wort zu mir, und im Fahrstuhl auch nicht – nein, das hebt er sich bis ins Foyer auf. «Glaubst du nicht, dein Leben wäre jetzt viel einfacher, wenn du sie einfach da drin hättest verbrennen lassen? Wenn du dich nicht hättest da reinziehen lassen?»
Ich antworte nicht. Ich steuere bloß auf den Ausgang zu und gehe weiter.
«Hör mir zu», sagt mein Vater zu meinem Rücken, «du solltest dir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Ich sag dir, wenn sie zu ihm zurückgeht, okay. Gut. Wäre nicht das erste Mal, dass eine Frau zu einem schlechten Kerl zurückkehrt. Und wen interessiert es, was sie ihm erzählt?»
Bei all seinen Fehlern, mein Vater hat meine Mutter nie geschlagen.
Ich bleibe stehen. Ich drehe mich zu ihm um und frage: «Wie meinst du das?»
«Ich meine, dass sie ein Junkie ist, hijo. Wach mal auf! Das weiß niemand besser als Momo, denn er hat sie wahrscheinlich dazu gemacht. Er weiß schon, dass er ihr nicht trauen kann, weil sein Haus abgebrannt ist, als sie darauf aufpassen sollte. Egal, was ihr über die Lippen kommt, es wird immer wie eine Entschuldigung klingen oder wie ein Alibi. Es spielt also gar keine Rolle, was sie ihm erzählt. Selbst wenn er zu dir kommt und dir Fragen stellt, bist du immer verlässlicher als sie. Er wird eher dir glauben.»
Er zieht die Augenbrauen hoch, und ich frage: «Woher weißt du das eigentlich alles?»
Mein Vater seufzt wieder und betrachtet den Bodenbelag unter seinen Füßen. Er ist aus Kunststoff, soll aber aussehen wie weißer Stein. Er tritt mit der Spitze seiner Arbeitsschuhe dagegen, weil er es für billigen Schund hält, aber er hat auch Verständnis dafür, weil es so leicht zu reinigen ist.
Er hebt den Blick wieder und sieht mich an, als wüsste er nicht recht, was er mir sagen soll, dann zuckt er die Achseln. «Dein Alter Herr weiß mehr, als du denkst.»
Das ist typisch für ihn, mir zu sagen, dass er etwas weiß, ohne was Genaueres rauszulassen. Dagegen kann man nichts machen. Mein Vater ist Experte für alles.
«Ich mache mir Gedanken, dass er sie umbringt, wenn sie zu ihm zurückgeht», sage ich.
«Um dieses Mädchen musst du dir keine Gedanken machen», antwortet er. «Du bist zu sensibel, mijo. Habe ich dich nicht hart genug erzogen? Was jetzt passiert, geht dich nichts mehr an.»
Da haben wir’s. Früher oder später führt jedes Streitgespräch zwischen uns immer zu der Feststellung, dass ich zu sensibel bin.
«Bist du wirklich der Meinung», frage ich, «der Versuch lohnt sich nicht, selbst wenn man vielleicht ein anderes Leben rettet?»
Die Stirn meines Vaters kräuselt sich, und er sieht traurig aus, als er sich auf die Hemdtasche klopft und seine Nelkenzigaretten herauszieht und langsam eine aus der Packung nimmt.
Mit diesem braunen Stäbchen zeigt er auf mich. «Du hast ihr doch schon das Leben gerettet, als du sie aus dem Haus geschleift hast, hijo. Aber du kannst die Menschen nicht vor sich selbst retten. Der Rest ist ihre Sache, und glaub mir, Junkies werden dich immer enttäuschen, und dann tut es dir irgendwann leid, dass du es überhaupt jemals versucht hast.»
Das geht ihm so schwer über die Lippen, als hätte er womöglich selbst schon mal versucht, einen Junkie zu retten, und als wäre er damit gescheitert. Das ist komisch, und ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll, bis heute habe ich meinen Vater nicht mal das Wort verwenden hören. Also breche ich den Blickkontakt ab und schaue auf die Uhr. Wir hätten Kerwin längst abholen sollen, aber ich muss ihn nicht anrufen. Er wird vor seinem Haus sitzen, wenn wir kommen, einfach nur da sitzen und warten.
Mein Vater lässt mich stehen und geht raus in einen Spätnachmittag, der hinter den Schiebetüren weiß und heiß aussieht. Er rechnet damit, dass ich ihm folge, aber er gibt mir einen Augenblick Zeit. Vor den Türen fahren Autos, sehr langsam und vorsichtig. Es sieht aus, als ob die Welt langsam wieder in Gang kommen will, aber zuerst mal nach rechts und nach links schaut, bevor sie es versucht.
8 Als wir Kerwin aufsammeln, der vorm Haus wartet, genau wie ich dachte, kann er es sich aussuchen: hinten auf der Ladefläche sitzen oder sich vorn bei meinem Vater und mir mit reinquetschen. Er nimmt die Ladefläche, und das ist gut so, denn er ist groß und schwarz, fast eins neunzig, er hat breite Schultern und einen ziemlichen Bauch. Mein Vater und ich sind froh, die Kabine nicht mit ihm teilen zu müssen. Kerwin lehnt sich mit dem Rücken ans Fahrerhaus und streckt die Beine vor sich aus. Einen Ellbogen stützt er auf den Pappkarton, den mein Vater da hinten immer stehen hat. Ich öffne das Fenster zwischen uns, und wir unterhalten uns schreiend.
Kerwin fängt an. «Weißt du noch, wie diese Schwarzen mit Reifen nach uns geworfen haben, als wir neulich nachts so auf die Feuer abgefahren sind?»
Ich schaue meinen Vater an, aber der ist mit den Gedanken woanders, also antworte ich, wie ich will. «Ist das tatsächlich passiert? Ich dachte, das hätte ich halluziniert.»
«Hundert Prozent echt», sagt Kerwin und lacht.
Kerwin und ich spielen zusammen in einer Band namens Forty Ounce Threat. Ich spiele Bass und singe. Kerwin spielt Leadgitarre. Wir machen hauptsächlich Oi!-Musik, Straßen-Rock-’n’-Roll.
Ich kümmere mich ums Radio, während mein Vater Richtung Süden nach Compton reinfährt. Ich finde den Sender KRLA und hoffe auf Soul, aber sie spielen eine Doo-Wop-Band, die ich nicht kenne. Im Rückspiegel sehe ich Kerwin mit dem Kopf nicken, als wir vom Imperial Highway nach links auf die North Alameda einbiegen, und ich kurbele das Fenster herunter, um die Stadt vorbeiziehen zu sehen.
Wir fahren nur sechs Straßen weiter. Die Gegend hier ist eher ein Industriegebiet und hat anscheinend von der Randale nicht so viel abgekriegt. Es gibt Autoglas-Werkstätten, Granitschleifer, Holzhändler. Wir fahren an Del Steel vorbei, ihr Lagerhaus sieht unberührt aus. Sie machen Metallverzierungen, und gelegentlich arbeitet mein Vater mit ihnen zusammen. Die Lagerhäuser mit den Tonnendächern von L&M Steel sehen ebenfalls in Ordnung aus. Mein Vater sagt, in den 60ern hat diese Gegend richtig gebrummt, das Geschäft blühte, aber jetzt liegt alles im Sterben. Aus China kommt billigerer Stahl, und der ist auch schon vorgeschliffen oder wärmebehandelt. Dazu kommt, dass amerikanische Arbeiter zu teuer sind. Die Produktion wandert seit einiger Zeit woandershin. Das war schon vor der Rezession so.
Als der Song zu Ende ist, verkündet der DJ, dass Bürgermeister Bradley die Ausgangssperre aufgehoben hat. Das war es also. Die Unruhen sind vorbei.
«Willkommen in der Normalität.» Der Sarkasmus des DJs ist deutlich zu hören.
Mein Vater schnaubt verächtlich.
Mir kommt die Straße gerade tatsächlich normal vor. Jedenfalls so normal wie vor den Unruhen. South Central ist so, wie ich es immer gekannt habe: meistens ruhig, die Leute kümmern sich um ihren Kram und arbeiten hart. Aber die ganze Welt hält Los Angeles jetzt für eine Stadt voller wütender Schwarzer, voller Brandstifter und Gangmitglieder. Die Leute denken sicher, was mit Rodney King passiert ist, war ein Einzelfall, doch sie wissen nicht, dass jeder hier einen Rodney King in der Nachbarschaft hat, jemanden, den die Cops windelweich geprügelt haben, aus gutem oder schlechtem Grund. Und vielleicht ist er auch nicht schwarz. Vielleicht hat er braune Haut.
Als wir an der Banning Street vorbeikommen, sehen wir das erste zerstörte Gebäude. Aber vorher riechen wir es. Ich weiß nicht, ob ich mal wusste, welcher Firma dieses Lagerhaus gehört, jetzt ist es jedenfalls nur noch ein Skelett, die verkohlten Knochen zweier Wände stehen noch. Vor den weißen Wänden der Halle dahinter sehen sie eher aus wie eine Kohlezeichnung als wie ein ehemaliges Bauwerk. Davor hackt ein alter Mann mit Raiders-Cap mit einer kleinen Handaxt auf das Dach ein – das Dach, das eingebrochen ist und jetzt auf Bodenhöhe liegt. Ich kurbele mein Seitenfenster hoch und frage meinen Vater, was sie da früher gelagert haben.
«Werkzeugmaschinen», sagt er.
«Weißt du, wem es gehört?»
Weiß er nicht. Wir biegen von der North Alameda auf den El Segundo Boulevard ein, und ich sehe die Willard Elementary School an der Ecke. Die ist nicht abgebrannt, aber aus irgendeinem Grund hat jemand den Zaun mit einem Seitenschneider aufgetrennt, was mich auf den Gedanken bringt, dass womöglich jemand die Schule ausrauben wollte, aber ich denke nicht weiter darüber nach, weil ich damit rechne, gleich unser zweistöckiges Mietshaus zu sehen, weiß mit schwarzem Dach, dreizehn Wohnungen, direkt neben der Schule – aber da ist nichts mehr.
Nur leerer Raum, wo vorher unser Wohnblock stand.
«¡Hijo de su chingada madre!» Mein Vater richtet sich auf, rückt ganz nach vorn auf die Sitzkante. «Alles, was ich aufgebaut habe – für ’n Arsch.»
Mehrmals haut mein Vater mit der Hand aufs Lenkrad. Ich zucke zusammen, aber irgendwie bin ich auch froh. Vor ein paar Jahren hätte ich diese Schläge abgekriegt.
Als wir näher kommen, sehen wir die Überreste: Eine leere schwarze Hülle saugt die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf. Hier und da leuchten noch kleine Teile nicht verbrannter weißer Wand auf. Der Rest ist schwarz. Meine Augen tasten sich weiter voran zum viktorianischen Haus – das unversehrt wirkt –, aber dahinter, auf dem nächsten Grundstück, steht kein zweiter Apartmentkomplex, wie ich es erwartet habe, früher das Spiegelbild des ersten, gleicher Grundriss und alles: weiße Wände, schwarzes Dach, dreizehn Wohnungen. Jetzt ist da auch nichts mehr. Es ist immer noch ein Spiegelbild, bloß ein schwarzes, denn jetzt steht das alte Haus unbeschädigt zwischen zwei schwarzen Ruinen, zwei unserer Häuser sind komplett niedergebrannt worden.
Das Atmen fällt mir schwerer, als mein Vater an unserem Haus vorbeifährt und in die kleine Gasse einbiegt, die am Grundstück entlangführt. Von da haben wir gute Sicht auf das, was vom zweiten Gebäude übrig ist: Zwei geschwärzte Stützpfeiler ragen wie verkohlte Torpfosten aus den Trümmern. Wir parken direkt im Dreck neben seinem unversehrten Haus. Queen-Anne-Stil nennt man die Art zu bauen, an dem Haus werkelt er herum, seit ich neun bin. Den weißen Lattenzaun vorn hat mein Vater selbst gebaut. Dahinter steht ein symmetrisch gebautes Wohnhaus, einstöckig mit Dachgeschoss und zwei spitzen Türmchen, die zu beiden Seiten der Haustür aufragen, weshalb es von vorn aussieht wie ein Gesicht mit rechteckigen Fensteraugen, mit der Tür als Nase und der flachen Veranda als Mund.
Klar bin ich froh, dass wenigstens dieses Haus überlebt hat, aber ich muss immer noch verarbeiten, dass die beiden Mietshäuser komplett weg sind, und da erst fällt mir etwas ein, das mir mit meinem Kurs in Unternehmensführung schon vor Tagen hätte aufgehen sollen.
«Dad», frage ich, «sind wir ruiniert?»
9 Eine dämliche Frage. Die Antwort liegt vor meiner Nase. Seit ich Buchhaltung lerne, hat mein Vater mir die Kreditbelege der letzten Monate gezeigt. Er versucht mir beizubringen, wie das Geschäft zu führen ist, wenn er nicht mehr da ist. In diese drei Immobilien hat er insgesamt über eine Million Dollar gesteckt. Um so viel Geld zur Verfügung zu haben, steckt er bis zu den Augenbrauen in Hypothekenkrediten.
Weil mein Vater nämlich nie am Material spart, wenn er etwas renoviert; aber da er ja irgendwo sparen muss, verzichtet er auf sämtliche Versicherungen außer gegen Erdbeben. Er denkt sich, wenn er schnell genug mit dem Renovieren ist, kann ihm nichts passieren. Das viktorianische Haus ist die einzige Ausnahme. Es wurde im Jahr 1906 erbaut, als der Sunset Strip noch eine große Wiese voller Weihnachtssterne war. Das ist versichert. Das ist sein Baby.
Mein Vater hat die Augen geschlossen und holt tief Luft, die als Husten wieder herauskommt. Ich ertrage es nicht, ihn so zu sehen, also zerre ich Kerwin die Gasse entlang, wo früher mal eine uralte Zapfsäule stand, neben einem riesigen Avocadobaum, groß genug für einen Hollywoodfilm.
Kerwin bricht das Schweigen flüsternd. «Der ganze Besitz deines Vaters ist verbrannt?»
«Alles außer dem hier.» Ich deute mit dem Kinn auf das Haus. Das hat mein Vater den Kellys abgekauft, einer der letzten weißen Familien, die Compton verlassen haben.
«Früher stand hier mal eine Zapfsäule», sage ich und zeige auf eine lange Spur kahler Erde im Garten, wo kein Gras mehr wachsen kann.
Kerwin will wissen, wieso, also erkläre ich ihm, dass das Haus älter ist als alle Tankstellen. Mein Vater kauft und verkauft seit ungefähr zehn Jahren Immobilien. Meine Mutter sagt immer, er wollte South Central aufwerten, besser machen, also hat er ein Gebäude gekauft, renoviert und wieder verkauft; dann zwei. So spielte sich das ein. Nach vier Verkäufen erwarb er den Fliesenladen an der Western Avenue, und jetzt hat er fünf Immobilien: drei in Compton, eine in Watts und eine in Lynwood, aber das viktorianische Wohnhaus in Compton mit den Gewölbedecken, mit zwei Schlafzimmern, Bibliothek und Arbeitszimmer, das war immer die Krönung.
«Das hier war der Traum meines Vaters», sage ich. «Der Beweis, dass er nicht nur gut, sondern auch schön bauen kann. Glaubt meine Mutter jedenfalls. Ich hatte ganz lange den Eindruck, dass er nur hier glücklich sein kann. Er hat mich an den Wochenenden immer mitgenommen, als er es renoviert hat.»
Ich weiß noch, dass die Säge immer in der Küche stand. Jahrelang roch das Haus nach frisch gesägtem Holz, und überall lag Sägemehl herum. Ich brachte ihm immer, was er brauchte – einen Hammer, einen Schraubenschlüssel. Mit vierzehn lernte ich von ihm, wie man Lampen anschließt. Er hat nie viel Grund gesehen, stolz auf mich zu sein; aber die Arbeit, die ich damals mit ihm gemacht habe, das weiß ich bis heute, war eine der wenigen Gelegenheiten. Dazu hat auch beigetragen, dass ich nie irgendwo runtergefallen, nie auf einen Nagel getreten bin. Ich war vorsichtig. Das musste ich aber auch, da der Gürtel die Strafe für jeden Fehltritt war.
«Das Viertel hier hat sich schnell verändert», sage ich. «Von diesen alten Häusern sind jede Menge abgerissen worden. Dann wurden Lagerhäuser und Werkhallen gebaut, aber das hast du ja beim Herfahren gesehen. Und bald wollte niemand mehr an dieser Straße wohnen.»
Kerwin zuckt die Achseln. «Wer wohnt schon gern neben einer Lagerhalle?»
So eine Frage braucht eigentlich keine Antwort, aber ich gebe ihm trotzdem eine. «Niemand.»
Obwohl die Nachbarschaft sich so veränderte, renovierte und baute mein Vater immer weiter an dem Haus. Wir hielten uns über Wasser, indem wir vier Wohnungen in dem einen Mietshaus und fünf im anderen vermieteten, aber das viktorianische Haus konnten wir weder vermieten noch verkaufen.
«Ist jetzt bloß noch ein Überbleibsel aus alter Zeit, am falschen Ort, aber das ist es schon lange. Das Schlimmste daran ist, die Leute in der Umgebung wissen das. Sie wissen, dass niemand darin wohnt, und wenn die Leute so was wissen, dann passieren schlimme Sachen.»
«Was für schlimme Sachen?» Kerwin kommt aus South Central. Er weiß, was in dieser Gegend für schlimme Sachen passieren, aber er kann es einfach nicht lassen, er muss fragen. Kann vielleicht keiner von uns. Ist vielleicht einfach nur menschlich.
«Eine Leiche wurde auf unserem Grundstück abgelegt, da in der Gasse. Das haben wir herausgefunden, als zwei Sheriffs bei uns zu Hause in Lynwood vor der Tür standen und meinen Vater zum Verhör mitnehmen wollten. Vielleicht so zwei Monate später gab es eine Massenvergewaltigung im Garten, unterm Avocadobaum.»
Ich zeige auf den Baum. Wir stehen gar nicht so weit weg vom damaligen Tatort, und ich schaue auch deshalb hin, weil irgendwas daran komisch aussieht. Er sitzt nicht bloß voll, die Äste hängen nicht bloß schwer von Früchten herab, weil wir dieses Jahr gar nicht zum Pflücken gekommen sind, sondern am Fuß des Baumes ist irgendwas, hinter dem mächtigen Stamm. Die Dämmerung ist schon ziemlich weit fortgeschritten, darum kann ich die Gestalt beim besten Willen nicht erkennen. Für einen Hund ist sie zu groß, aber sie sieht danach aus. Ein liegender Hund, unter dem Baum hingestreckt.
«Moment.» Ich senke die Stimme wieder und flüstere. «Siehst du das?»
Kerwin kauert direkt neben mir auf der Erde.
«Ja», flüstert er zurück.
«Sind das?» Ich kneife die Lider zusammen und versuche die länglichen Formen am Boden zu erkennen, die vom Stamm wegragen. Es ist doch kein Hund. «Sind das Beine?»
«Ja», sagt Kerwin. «Scheiße, das sind Beine.»
10 Aus der Distanz würde ich sagen, die Beine sind nackt, und ziemlich behaart. Am Ende des rechten Beins, am rechten Fuß, sitzt eine weiße Socke. Wir rücken gemeinsam vor, Kerwin und ich. Beim Näherkommen schlagen wir einen Bogen und sehen, wie schmutzig die Sohle der weißen Socke ist, fast schwarz. Als Nächstes sehen wir den Körper, zu dem das Bein gehört, an den Stamm gelehnt, aufrecht sitzend, mit ausgestreckten Beinen.
Ich höre Kerwin hinter mir atmen. Er hat so einen Mini-Baseballschläger von den Dodgers bei sich, muss er von zu Hause mitgebracht haben. Das Ding ist aus Holz, vielleicht dreißig Zentimeter lang, so was wird manchmal in limitierter Auflage verteilt, wenn man zu einem bestimmten Spiel geht.
«Ist er angeschossen?», will Kerwin wissen. «Erstochen, oder was?»
«Ich sehe kein Blut», sage ich.
Inzwischen ist zu erkennen, dass dieser Mensch keine Hose anhat, bloß rotbraune Boxershorts. Am Oberkörper trägt er drei Flanellhemden übereinander, bei allen sind die Manschettenknöpfe offen, die Ärmel hochgeschoben zu den Ellbogen. Schwer zu sagen, ob die Brust sich hebt und senkt, weil so viel Stoff darauf liegt.
«Fass du ihn an», sage ich zu Kerwin. «Stups ihn an oder so was. Mal sehen, ob er sich bewegt.»
«Nein, du.»
«Du hast doch einen Schläger!», sage ich.
Kerwin schaut auf seine Hand und stellt fest, dass er das Mistding tatsächlich in der Hand hat, dann zuckt er die Achseln – vielleicht stößt er ihn damit an, vielleicht auch nicht.
Da bemerke ich etwas am Arm des Typen.
«Hey», sage ich, «siehst du das?»
Ich zeige darauf. Kerwin kneift die Augen zusammen. Ich auch.
«Ja», sagt Kerwin. «Ärgh.»
Aus der Armbeuge des Typen ragt eine Spritze, aber eigentlich keine ganze Spritze. Bloß die Nadel. Sieht fast so aus, als wollte jemand die Spritze haben, und die Nadel steckte gerade im Arm, also hat man das verdammte Teil einfach abgeschraubt und die Nadel in ihm stecken lassen wie eine halbe Sicherheitsnadel, die durch die Haut gegangen ist. Drumherum sieht man getrocknetes Blut, ein paar Tropfen und Streifen, und den Unterarm entlang hat er ein Tattoo in langen Frakturbuchstaben, wie die Titelschrift der Los Angeles Times.
Ich zeige darauf. «Was steht da?»
Kerwin muss den Kopf schräglegen, um es lesen zu können. Ich mache das Gleiche, aber die Schrift ist nur schwer von dem ganzen Blut und Dreck auf seiner Haut zu unterscheiden. Ich möchte es am liebsten abwischen, lasse es aber.
«Sleepy», sage ich. «Ich glaube, da steht Sleepy.»
«Ist er tot oder was?» Kerwin hat die Hand vor dem Mund. «Er sieht tot aus.»
«Keine Ahnung», sage ich, aber ich glaube es auch. Seine Gesichtshaut ist halb von einem vor Dreck starren Vollbart bedeckt, aber der Rest hat dieselbe Farbe wie die vollen Aschenbecher meines Vaters. Ameisen krabbeln durch die Haare an seinen Beinen, manche von ihren Bissen sind so rot und geschwollen, dass ich sie auch im schwachen Licht erkennen kann.
«Nun mach schon», sage ich, und als Kerwin zögert, stupse ich ihn mit der Schulter an. «Mach endlich.»
Kerwin pikst den Typen mit dem Schläger. Er hält das dicke Ende auf seine Brust, direkt übers Herz, und drückt. Ein bisschen Luft kommt heraus, wie ein Seufzer oder so was, und wir springen beide zurück, aber die Augenlider des Typen zucken nicht. Sie bewegen sich kein Stück.
Ich denke laut nach. «Das könnte doch irgendwie so eingeschlossene Atemluft gewesen sein, oder?»
«Woher soll ich denn das wissen? Jetzt bist du dran. Aber eins kann ich dir sagen», Kerwin reicht mir den Schläger, «ich bin echt froh, dass wir das hier nicht auf Acid machen.»
«Ich auch», sage ich.
Ich weiß nicht, was ich mit dem Schläger anderes machen soll als das, was er gerade gemacht hat, also lasse ich ihn bloß in der Hand hängen, mache einen Schritt auf den Mann zu und strecke die andere Hand nach seinem Gesicht aus.
Kerwin dreht beinahe durch. «Mikey, was machst du da?»
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und ich weiß nicht, was in meinem Kopf vorgeht, nur dass ich wissen muss, ob er flach atmet, und wenn ich seinen Atem am Finger spüre, dann weiß ich es ganz sicher, aber ich komme nicht ganz dran, also gehe ich noch einen Schritt dichter ran. Aber als ich den Fuß aufsetze, trete ich mit der Sohle knirschend auf irgendwas. Ich schaue nach unten und mache schnell wieder einen Schritt zurück, denn es war die Hand des Typen. Die habe ich im Halbdunkel überhaupt nicht gesehen. Als mir das gerade klar wird, höre ich Kerwin hastig nach Luft schnappen, ich schaue hoch in das Gesicht des Typen, und er hat die Augen offen.
Ich mache einen Satz nach hinten, pralle gegen Kerwins Schulter und schaffe es irgendwie, auf den Beinen zu bleiben. Der Typ zieht sein Gesicht so zusammen. Er schnalzt ein paarmal mit den Lippen, ehe er den Mund aufmacht.
«Was soll das, du Idiot?» Die Worte kommen ihm ganz langsam und staubig über die Lippen. Es klingt gar nicht, als wäre er irre, bloß verwirrt und ausgedörrt. «Wieso trittst du auf meine Hand?»
Ich antworte ihm nicht, Kerwin auch nicht. Wir machen uns eilig davon, gehen rückwärts und lassen ihn nicht aus den Augen, diesen Typen, den wir für eine Leiche gehalten haben und mit dem wir uns ganz bestimmt nicht unterhalten wollen. Der Typ aber redet weiter mit uns, sagt dauernd Hey, während wir uns entfernen, als wollte er unsere Aufmerksamkeit, aber wir gehen ganz schnell vors Haus, zu meinem Vater.
«Ach du Scheiße», sagt Kerwin. «Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt gekriegt. Fuck!»
Das geht mir genauso. Ich weiß nicht, was ich krasser finde: dass wir eine Leiche gefunden haben oder dass sich die Leiche als lebendig herausgestellt hat.
Als wir meinen Vater auf der Veranda wiedertreffen, sieht er durch das Fenster rechts neben der Haustür. Meine Stiefel knirschen auf Glas, noch bevor ich erkenne, dass die Fensterscheibe, durch die er schaut, gar nicht mehr da ist. Sie ist rausgebrochen, und mein Vater starrt durch den leeren Rahmen. Als ich über seine Schulter schaue, rutscht mir der Magen in die Kniekehlen, aber was ich sehe, erklärt jedenfalls den Mann unterm Baum.
11 Hier haben Junkies gehaust, und zwar mehr als nur der Typ unterm Baum. Eine ganze Horde. Vielleicht haben sie die ganze Zeit der Unruhen hier verbracht. Drinnen stinkt es wie im Affenhaus. In der Bibliothek mit den fest eingebauten Bücherregalen ist der Fußboden übersät von Ampullen, einer zerbrochenen Glaspfeife und ein paar Spritzen ohne Nadeln. In der Ecke, wo ich mir früher immer eine Höhle aus zwei Sägeböcken und einer Plane gebaut habe, um dann eine Kabellampe darunterzuziehen und die Schatzinsel zu lesen, liegt ein Haufen zerknüllter Zeitungen, mit denen unsere ungebetenen Gäste sich die Ärsche abgewischt und die sie dann aufbewahrt haben. Ich habe keine Ahnung, warum irgendwer so was tun sollte, aber die Badezimmer will ich mir danach lieber gar nicht erst ansehen.
«Einer von denen sitzt noch unterm Avocadobaum», sage ich.
Mein Vater nickt. Er denkt ein wenig darüber nach und sagt dann: «Schöner Schneewittchen-Scheiß, was? Wer hat in meinem Bettchen geschlafen … Sah er gefährlich aus?»
«Nein», sage ich. «Er hat sich nicht mal bewegt.»
Mein Vater schaut dahin, wo wir hergekommen sind, zum Umriss des Avocadobaums vor dem lilaschwarzen Dämmerlicht, aber auf keinen Fall kann er den Körper auf diese Entfernung erkennen, und er macht auch nicht den Eindruck, als würde er ihn interessieren.
Er spuckt von der Veranda und sagt: «Lassen wir ihn da.»
Dann nimmt er seine Nelkenzigaretten aus der Hemdtasche und zündet sich eine an. Er nimmt einen Zug und atmet Rauch aus. «Dieses Haus ist befallen», sagt er.
Kerwin schaut mich besorgt an. Ich kenne den irren Blick meines Vaters schon, kenne ihn besser als jeder andere, und wenn ich die Ader an seiner Stirn pulsieren sehe, weiß ich, dass er auf dem dünnen Seil des Zorns balanciert. Als er sich zu mir wendet, sehe ich einen Funken in seinen Augen.
«Wie hat dieser Junge Momos Haus abgefackelt?», fragt er.
Ich bin in Gedanken immer noch beim Typen unter dem Baum, aber ich komme zur Besinnung. «Er hat einen Molotowcocktail durch die Haustür geworfen.»
«Das war’s?», fragt mein Vater nach.
«Ja.»
«Gut», sagt mein Vater und geht zum Pick-up.
Ich schaue meinem Vater zu, wie er den Karton auf der Ladefläche zu sich heranzieht und aufklappt. Er nimmt eine dreiviertelvolle Glasflasche mit Whiskey, dreht den Deckel ab und stopft einen Lappen so weit in den Hals, wie es geht.
«Oh Mann», sagt Kerwin und macht einen Schritt rückwärts. «Will er etwa –?»
Ich sehe mich um, ob uns irgendjemand von der Straße beobachtet, aber da ist niemand. Wir sind ganz allein.
«Dad?», sage ich.
Aber er hört mir gar nicht zu, als er an mir vorbeimarschiert – ich höre den Schnaps dabei in der Flasche schwappen –, und als er zur Veranda kommt, die wir von eigener Hand mit neuen Bohlen belegt haben, nimmt er die Nelkenzigarette aus dem Mund und hält sie an den Lappen.
«Es ist meins», sagt mein Vater. «Ich kann es umbringen, wenn ich will.»
12 Meine Gefühle in diesem Augenblick sind verwirrend. Ich will nicht, dass er es tut, aber ich verstehe ihn. Die ganze Arbeit, die er hineingesteckt hat – die wir hineingesteckt haben –, und die viele Zeit, die wir damit verbracht haben. Das alles geht in Flammen auf, kaum dass die Flasche in der hinteren Ecke der Bibliothek landet und die Zeitungen sowie den unteren Teil eines eingebauten und immer noch leeren Bücherregals entzündet.
Ich mache einmal die Augen zu, und schon sitzt mein Vater wieder im Pick-up und lässt ihn an. Das Radio geht wieder an, als er aufs Gaspedal tritt. Dann rutscht er rüber zur Beifahrertür und macht sie auf. Ein Song von den Shirelles schallt heraus, «Dedicated to the One I Love», mitten im Refrain, und mein Vater schreit darüber hinweg nach mir.
«Mijo, steig ein! Wir fahren!»
Aber ich kann nicht. Ich bin damit beschäftigt, dem alten Haus beim Sterben zuzusehen.
«Kerwin, verdammt noch mal», sagt mein Vater, «steig ein.»
Als Kerwin einsteigt und die Tür zuschlägt, schreit mein Vater wieder nach mir.
«Muss ich dich selbst hier reinschleifen?»
Ich merke gar nicht, dass meine Beine sich bewegen, aber ich muss wohl gehen, denn plötzlich sitze ich auf der Ladefläche, mit dem Rücken an der Fahrerkabine, so wie Kerwin vorhin, und ich höre ihn zu meinem Vater sagen: «Er ist drin!»
Der Pick-up rast rückwärts aus der Gasse, und ich sehe den El Segundo Boulevard auf mich zukommen, als mein Vater viel zu schnell um die Ecke biegt und die beiden rechten Reifen vom Boden abheben. Ich wäre direkt von der Ladefläche geflogen, wenn Kerwin nicht seine Hand auf meiner Schulter gehabt hätte.
Ich will ihm gerade danken, da sagt er: «Ich hab dich!»
Ich schaue wieder nach hinten und bin mit dem Gedanken beschäftigt, ob dies wohl der letzte Brand der Unruhen ist, oder ob irgendwo anders Menschen aus anderen Gründen das Gleiche tun. Ich verstehe die Logik meines Vaters. Das Haus ist die einzige Immobilie, die er feuerversichert hat, also soll er sie ruhig niederbrennen, aber das wird uns nicht wieder auf null bringen – die Versicherungssumme wird nicht reichen, den Verlust aller drei Gebäude zu kompensieren. Doch im Augenblick ist es die einzige Möglichkeit, weniger Verlust zu machen.
Dabei wird mir klar, dass diese Unruhen vielleicht für alle um uns herum so laufen. Du weißt, du wirst verlieren, aber du kratzt und beißt und kämpfst, um so wenig wie möglich zu verlieren. Was auch immer es ist, Besitz oder die Gesundheit oder ein geliebter Mensch wie ERNIE, wenn es weg ist, kommt es nicht wieder. Niemand spürt heute Nacht so etwas wie Frieden, schon seit Tagen nicht mehr. Die Ausgangssperre ist vielleicht aufgehoben, aber das heißt nicht, dass alles wieder normal ist, oder in Ordnung, oder dass es bald so weit sein wird.
In L.A. heißt das nur, dass alles anders ist als das letzte Mal, als du abends ausgehen durftest, und wenn wir von nun an über diese Tage reden, dann werden wir darüber reden, was sie uns angetan haben, was wir verloren haben, und in die Geschichte der Stadt wird ein Keil getrieben werden. Zu den beiden Seiten des Keils wird das Vorher und das Nachher sein, denn wenn du genug schlimme Dinge gesehen hast, dann lässt dich das entweder an der Welt verzweifeln und macht es dich kaputt, oder es formt dich zu etwas anderem – etwas, das du vielleicht nicht sofort verstehst, aber es könnte ein neues Du sein, so wie ein Samenkorn, das gepflanzt, aber noch nicht gewachsen ist.
Kerwin dreht die Musik lauter, und der Refrain setzt ein, während der Boulevard sich unter mir ausrollt, die unterbrochene gelbe Linie neben mir entlangrast und in die Asphaltschwärze taucht. Ich muss daran denken, dass der Typ mit der Nadel im Arm das Schauspiel aus der ersten Reihe betrachten kann, während der Wind mir ins Gesicht peitscht.
Das Lagerhaus neben unserem abgebrannten Mietshaus blockiert rasch die Sicht auf den größten Teil des alten Hauses, und ich sehe nur noch das Fenster zur Bibliothek, das orange flackert wie ein zwinkerndes Kürbisauge an Halloween, bis wir noch weiter die Straße entlang sind und auch dieses Licht verschwindet. Dann ist vom Haus nur noch zu sehen, wo es hingeht, Richtung Himmel, die schwarze Säule aus Rauch. Ich hoffe, es besser zu sehen, wenn wir weiter weg sind, mehr zu verstehen, denn wenn ich den Rest des Viertels sehe, wie viel dort verbrannt ist, wenn ich sehe, wie auch andere Menschen gelitten haben, dann kann ich es verstehen, aber jetzt im Moment kann ich nur an unser Haus denken und wie weh es tut, es sterben zu sehen, und dass der Abstand nichts an meinem Blickwinkel ändert.
Also schließe ich die Augen.
Ich lege beide Hände auf die Seitenwände der Ladefläche und halte mich am Metall und der abgeschlagenen Farbe fest, während der Rhythmus der Straße mich vor und zurück schüttelt. Durchs Fenster hinter mir höre ich, wie der Song sich dem Ende nähert. Ich höre ihn in den Wind klingen, sich mit dem Rauschen der Luft vermischen, und ich stelle mir vor, wie es früher war. Ich sehe das alte Haus vor mir, als ich vierzehn war, leicht bläulich im frühen Morgenlicht. Ich sehe unreife Avocados im Gras, hart und grün, die ich immer pflückte, um damit Fußball zu spielen, und hinter dem Baum, der sie fallen ließ, sehe ich aufrecht wie ein Wachsoldat eines der Mietshäuser stehen, das Dach färbt sich gerade ein wenig orange in der Morgendämmerung. Etwas wälzt sich schwer durch meine Brust, als ich mir mein eigenes Viertel vorstelle, in dem ich aufgewachsen bin, wieder intakt. Ich sehe die hölzerne Handballwand im Ham Park immer noch stehen, ich sehe Kinder daran spielen und erwachsene Männer, und das dumpfe Knallen ihrer Samstagsspiele hallt mehrere Straßen weit, bis zu Momos Haus, es klang genau wie ein klopfendes Herz – und vielleicht war es auch das Herz der Stadt, das zu schnell schlug. In meinem Kopf ist Momos Haus nicht niedergebrannt, sein Auto parkt davor, er geht mit dem Schlüssel in der Hand darauf zu, nickt mir grüßend zu, als ich mit meinem Roller vorbeifahre, und da packt es mich: Nur in meinen Erinnerungen werde ich all diese Orte wiedersehen, und ich frage mich, ob Schriftsteller genau das tun müssen, Orte in Gedanken wiederaufbauen – längst vergessene Orte, verschwindende Orte, und wenn das so ist, überlege ich, gilt das dann auch für Menschen, die verschwinden?
Jetzt wird der Song ausgeblendet. Die Stimmen der Mädchen verschmelzen mit dem Basslauf, und was von ihren Harmonien noch übrig ist, taucht in den Wind und das Grummeln des Motors. Zwei gute Atemzüge lang höre ich nichts als ferne Sirenen. Ich höre nichts als den Pick-up, der auf seinen Achsen ächzt. Als ein neuer Song einsetzt, eine andere Richtung, mit lautem Schlagzeug, erkenne ich ihn nicht, und da erwacht ein kleiner Gedanke in mir, und ich spüre, wie er mit jedem vorbeirasenden Gebäude rumort und wächst. Mit jeder Straßenkreuzung stimme ich ihm mehr zu. Auch L.A. hat einen Motor, und der hält nie an. Kann er nicht. Der überlebt alles. Er wird immer weiterlaufen, egal was passiert, und er wird sich durch diese Flammen kämpfen und auf der anderen Seite herauskommen, ganz kaputt und schön und neu.