Jeremy Rubio
alias Termite
alias Freer
3. MAI 1992
16:09 UHR
1 Erstens: Spinnen, die ihre Fangzähne in meine Augäpfel bohren. Zweitens: von der Brücke des Freeway 710 geworfen werden und so hart auf dem Bauch im Betonbett des Los Angeles River landen, dass mir sämtliche Knochen gleichzeitig brechen. Drittens: auf irgendeinem Parkplatz einen jungfräulichen Stadtbus finden, auf den noch niemand was geschrieben oder gesprayt hat, und dann keine Sprühdose dabeihaben und keinen Stift und keine Reißnadel, überhaupt nichts. Meine Cousine Gloria sagt immer, ich hab eine wie heißt das noch? Eine blühende Phantasie. Hat sie recht. Hab ich.
Aber die drei Sachen, die ich gerade aufgezählt habe – vor denen hab ich weniger Schiss als zu dem Haus zu gehen, wo Big Fate wohnt, um Ray und Lupe mein Beileid wegen Ernie auszusprechen. Dabei krieg ich von den dreien schon ständig Albträume.
Vielleicht bin ich auch noch ein bisschen high von heute Morgen. Aber ich hab es schon zu viele Tage rausgeschoben. Ich wollte überhaupt nicht herkommen, um ganz ehrlich zu sein. Aber wenn ich nicht komme, fällt es auf. Außerdem muss ich rausfinden, wann die Trauerfeier ist, weil nämlich noch niemand was gehört hat, und meine Tante hat mich schon zweimal gefragt, ob es ein katholischer Gottesdienst wird.
Jetzt stehe ich also im Vorgarten von dem Haus, in dem Ernie gewohnt hat, wo es aus irgendeinem Grund nach verbranntem Leim riecht, und starre auf eine Hauswand mit mehr Einschusslöchern, als ich zählen kann. Mir wird schon vom Hingucken schlecht und ein bisschen schwindlig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Ernie in diesem Haus gelebt hat.
Ich weiß, dass ihm hier nichts passiert ist, aber trotzdem krieg ich irgendwie weiche Knie, das hier ist nämlich kein Scheiß, sondern richtig echt, und es hilft auch nicht gerade, dass mein Walkman in diesem Augenblick so kch-kch macht, klingt wie ein Zug auf den Gleisen, als das Tape die Richtung wechselt, von Seite zwei zu Seite eins meines Bombing Mixtapes, Vol. 6.
Auf Seite zwei ist nur Rap. Seite eins sind lauter Film-Soundtracks. Ich hab ihn natürlich ganz leise gestellt, denn in dieser Gegend sollte man wirklich wachsam sein. Zum Beweis führe ich diese spektakuläre Ansammlung von Einschusslöchern vor meiner Nase an, Euer Ehren. Ich versuche tatsächlich zu zählen, wie viele Löcher es sind, als das erste Stück von Seite eins mir in die Ohren springt und mich total fertigmacht, weil ich zwar wusste, was es ist, aber es irgendwie auch vergessen hatte.
Es ist der Song aus Star Wars über Lukes verbranntes Haus. Onkel Owen ist tot. Tante Beru auch. Und jetzt ist die Szene in meinem Hirn auch noch mit Ernie verbunden, weil das Stück mit einer wie heißt das noch? Mit so einer jammernden Trompete anfängt, ehe die Streicher dazukommen, rauf und runter und überallhin, als ob ihnen das Stück gehört. Hier muss ich einfach mal anmerken, dass John Williams die heiße Scheiße ist. Fakt.
Eine Sekunde lang, ich meine wirklich genau eine Sekunde, schaltet mein Hirn in einen anderen Gang, und ich überlege, wie schwierig es wäre, meinen Namen mit Kugeln auf irgendeine Wand zu schreiben. Wahrscheinlich unmöglich.
Ich drücke auf Stopp, die Musik ist aus, und ich höre Leute hinterm Haus, also gehe ich die Einfahrt hoch, bis ich jemanden auf der Terrasse sehe. Ich muss vorsichtig sein, sage ich mir. Muss aufmerksam und respektvoll sein, und ich muss sehen, wie viel ich mir erlauben kann.
Als Clever mich sieht, sagt er: «Sieh mal an, da kommt der Tagger.»
Wir sind zusammen zur Förderschule an der Vista High gegangen, Clever und ich. Jedenfalls so lange, bis ich sie geschmissen habe.
«Hey», sage ich zu ihm und allen anderen und setze den Kopfhörer ab, obwohl gar keine Musik mehr läuft, es ist einfach unhöflich, und hier darf ich auf keinen Fall unhöflich wirken. Niemals.
Als Clever mich Tagger nennt, klingt das herablassend, so als wären Tagger nichts wert, als wär ich bloß ein kleines Kind, das erwachsen spielt.
Aber ich schreibe jetzt FREER. Früher habe ich DOPE geschrieben, aber dann hab ich gehört, dass jemand in der Gegend von Hollywood den gleichen Namen benutzt, also hab ich mir Scheiß drauf gesagt und es gelassen. Danach habe ich ZOOM geschrieben, aber nur so zwei Wochen, dann hab ich das auch wieder gelassen, nicht weil jemand anders das auch schreibt, sondern weil ich meine Zs nicht leiden konnte und ein Doppel-O so langweilig zu schreiben ist. Die zwei Os sahen für mich immer aus wie riesige Comic-Augen. Garfield-Augen.
Aber FREER gefällt mir sowieso viel besser als die beiden anderen, einmal weil man mit den beiden Rs und dem Doppel-E jede Menge Kicks und Loops unterbringen kann, aber auch, weil es wirklich was bedeutet. Frei, freier, am freisten. Als ich mir den Namen ausgedacht habe, war ich ganz besessen, weil er so sagen sollte: Sieh mich an, Motherfucker, ich bringe diesen abgefahrenen Scheiß, weil ich viel freier bin, als du je gedacht hast, dass man es sein kann. Das war ein richtiges Statement. Wär ich nicht freier als ihr, könnte ich doch wohl nicht meinen Namen überall hinschreiben, wo ich will, oder?
Auf der Straße kennt man FREER, weil ihm alles am Arsch vorbeigeht, weil keiner sich weniger stressen lässt. Abgesehen vielleicht von CHAKA oder SLEEZ. Die beiden arbeiten wirklich auf einem ganz anderen Level. Aber um ganz ehrlich zu sein, mir geht überhaupt nicht alles am Arsch vorbei, schon gar nicht in dieser Gegend.
«Ich wollte nur Ernie die letzte Ehre erweisen», sage ich, und falls die Leute hier ihn unter anderem Namen kennen, sage ich noch: «Also, Ernesto.»
Ein kräftiger Typ, ich glaube, den nennen sie Apache, antwortet. «Ach so, du wolltest ihm die Ehre erweisen, hm?»
Der FREER in mir drin will ihm erzählen, dass ich das doch grad gesagt hab, aber ich nicke bloß.
Big Fate steht am Grill, steckt Thermometer in Fleischstücke, schiebt Würstchen rum, haut Burger in Brötchen auf Tellern und will sie loswerden. Eine lockere Schlange steht so irgendwie um ihn rum, und alle warten drauf, dass sie an die Reihe kommen …
Eine Sekunde denke ich: Diese Leute sind wie sein Sonnensystem. Er ist die Sonne, und sie kreisen um ihn. Eigentlich sollte ich mir mein Blackbook schnappen und das aufschreiben, es gefällt mir nämlich, aber meine Hände zittern immer noch ein bisschen, und ich hab das Gefühl, ein Dachs rumort in meinem Bauch rum, so als wär der ein Vorratsschrank, so als hätte der Dachs Hunger und würde was zu essen suchen und dann enttäuscht.
FREER hat nie Dachse im Bauch. FREER schreibt seine Gedanken auf, wann und wo er will, verdammt. Und wisst ihr was, FREER sagt den Leuten auch, sie sollen mal einen Moment warten, damit er was aufschreiben kann. So einer ist FREER. Aber ich, ich lasse die Hände in den Hosentaschen und frage bloß: «Ist Lupe da?»
Fate mustert mich einen Moment, dann sagt er: «Nein.»
«Ähm», sage ich, «darf ich fragen, wo sie ist? Vielleicht könnte ich warten, bis sie zurückkommt.»
«Sie ist bei ihrer Mutter», sagt Apache.
«Wo ist das denn?» Ich will gar nicht bohren, ich will ihr bloß mein Beileid aussprechen, klar?
«Kann ich nicht sagen», meint Apache.
Ich nicke und sage: «Okay, ähm, ist denn Ray da? Ich wollte bloß, ähm, der Familie mein Beileid aussprechen, wegen Ernesto.»
Vielleicht bin ich wirklich noch ein bisschen stoned. Aber die Vibes, die da rüberkommen, als ich Rays Namen erwähne, und die Blicke, die sind echt schräg. Heftig. Apache guckt Clever an, Clever guckt auf seinen Hamburger, als müsste der erforscht werden, und Big Fate schmeißt einen frischen Hackfladen auf den Grill, wo er zischt und spritzt.
Schließlich sagt Fate: «Also, du weißt ja, dass ihr zu uns kommt, oder?»
Natürlich muss er jetzt das Thema wechseln und auf die eine Sache zu sprechen kommen, die ich mehr fürchte als sonst irgendwas. Mehr als Nadeln unter den Fingernägeln. Mehr als Grashüpfer im Rattendarm essen zu müssen. Ich will bestimmt kein Gangsta werden, bloß weil meine Tagger-Crew in Big Fates Gang aufgenommen wird. Wirklich nicht.
«Ja», sage ich, «hab ich gehört.»
«Und hast du dich entschieden, oder was?»
Mit entscheiden meint er: Hör auf zu sprayen und verschwinde oder spray weiter und komm in die clica. Aber so, wie er das sagt, ist es gar keine Entscheidung. Er will, dass ich mitmache. Ich versuche, nicht panisch zu werden, nicht noch mehr ins Schwitzen zu kommen als sowieso schon, also muss ich wieder von der Schule anfangen. Das hat mir bei Big Fate schon mal Aufschub verschafft.
«Na ja, ich hab wieder mit der Förderschule angefangen –»
Clever unterbricht mich. «Nein, hast du nicht.»
Oh Mann. Da hat er mich sauber auflaufen lassen. Ich sehe ihn an, er sieht mich an und zuckt die Achseln. Diese scharfe chinesische Schnitte, die hinter ihm steht, guckt mich auch so abfällig an, als wäre es total dämlich von mir gewesen, diesen Spruch zu versuchen, aber eine Sekunde ist mir das völlig egal, denn die würde ich sofort poppen.
Big Fate schaut gar nicht vom Grill hoch. «Hast du nicht?», fragt er mich.
Das holt mich zurück und schärft meine Aufmerksamkeit.
«Ich bin fürs nächste Halbjahr eingeschrieben», sage ich, «ich bereite mich grade so drauf vor. Ich musste erst ein kleines Problem regeln. Aber jetzt will ich alles richtig machen. Meinen Abschluss und so.»
Big Fate juckt das nicht. «Jeder weiß, dass sich die Dinge ändern, und bisher hattest du einen Freifahrtschein wegen deinem Vater, aber der läuft ab, wenn ich dich das nächste Mal sehe.»
Mein Vater sitzt in San Quentin, seit ich elf bin, also seit sechs Jahren. Meine Mutter meint, er war eine große Nummer, hatte das Sagen hier und alles. Er hat Big Fate eingeführt, hat ihn sozusagen ausgebildet für das, was er jetzt macht. Die Leute haben immer gesagt, er war richtig schlau. Aber ich schätze, Big Fate ist noch schlauer, oder? Immerhin sitzt der ja nicht lebenslänglich im Knast.
Ich bin nicht mein Vater, und ich versuche auch nicht, er zu sein oder Big Fate oder irgendwer aus dieser Gang. Ist mir egal, ob mein Name von meinem Vater stammt, weil der gesagt hat, als Kind hätte ich mich durch alles durchfressen können wie eine kleine Termite. Auch dieser Name, das bin nicht mehr ich. Da bin ich rausgewachsen. Ich bin jetzt FREER.
Und überhaupt: Alle, die irgendwas Künstlerisches in sich haben, denen ihre Tags wichtig sind, die neue Styles erfinden wollen, die nicht bloß so Hardcore-Vandalen mit Scheiß-drauf-Punkrock-Haltung sind, die sind alle Nerds und Außenseiter. Alle. Ich auch, Mann. Ich steh total auf diesen komischen Comic Cheech Wizard von Bodé. Ich liebe Star Wars und habe immer noch meine ausgeblichene X-Wing-Fighter-Bettwäsche. Ich bin ein Plattenjunkie, der in Trödelläden nach alten Scheiben stöbert, vier für einen Dollar. Egal, ob das Vinyl zerkratzt oder kaputt oder sonstwas ist. Den Preis sind allein die Cover wert. Die hefte ich in meinem Zimmer an die Wand. Herb Alpert & the Tijuana Brass, Mann. Martin Denny. Henry Mancini. Alle Soundtracks, die ich habe, stammen daher. Ich überspiele sie mit dem alten Plattenspieler meines Vaters auf Kassetten, den braucht er nämlich ganz bestimmt nicht mehr. Und das bin bloß ich. Alle anderen Sprayer sind auf ihre eigene Art genauso schräg. Wir sind alle leicht gestörte Teenager mit was im Kopf, die am falschen Ort geboren sind.
Na ja, das stimmt nicht ganz. Ich meine, wir haben nicht alle was im Kopf. Manche von uns sind auch einfach nur gestört oder zugedröhnt, aber wir sind alle von irgendwas besessen. Und es ist echt hart, wenn man das nur rauslassen kann, indem man die Welt vollschmiert. Die Straße ist für mich der einzige Weg, meinen Namen in dieser Stadt bekannt zu machen, in der es nur um Bekanntheit geht, um den verfickten Ruhm, in der man nur was gilt, wenn man weiß ist und auf einem Fünf-Meter-Plakat, oder in Filmen oder im Fernsehen. Aber diese Wege stehen mir nicht offen. Ich bin Mexikaner, raza, das versteckte Volk.
Versteckt jedenfalls, wenn du nicht gerade Cheech Marin bist, oder dieser Wichser Jimmy Smits von L.A. Law. Für mich interessiert sich kein Schwein. Mein Gesicht wird nie jemand erkennen. Aber ich habe die Buchstaben. Die hab ich. Fünf kleine Buchstaben, und wenn die Leute sie sehen, dann sehen sie irgendwie meine Seele, und sie wissen, der Typ, der das geschrieben hat, der macht keinen Scheiß. Der zieht sein Ding durch. Und meine Tags sagen auch noch was anderes. Sie sagen: Ich bin hier, klar? Sie sagen: Das habe ich gemacht. Ich existiere.
Jemand öffnet die Fliegengittertür von der Küche zur Terrasse und ruft Big Fate zu, er wird am Telefon verlangt. Big Fate sagt, der Typ soll aufschreiben, was der Anrufer will, aber dann sagt der Typ, der Anruf kommt von ein paar Häusern weiter, und er hört auf mit dem Grillen.
«Dann bring mir das Telefon raus, das Kabel reicht bis hier», sagt er zu dem Typen an der Tür, und zu mir: «Du kannst gehen. Aber wenn ich dich das nächste Mal sehe, musst du dich verdammt noch mal entscheiden. Spielt keine Rolle, wer dein Vater ist. Wäre aber gut, dich dabeizuhaben. Bleibt in der Familie.»
«Danke», sage ich, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, wofür ich mich eigentlich bedanke, aber jetzt hat er das Telefon in der Hand, und ich schleiche mich wieder, nicke Clever zu, weiche Apaches Blick aus und husche so schnell wie möglich am Haus vorbei, die Auffahrt runter und auf den Bürgersteig.
Als hätte ich es nicht schon vorher gewusst, bevor ich heute ins Herz von Gangsterland marschiert bin – ich muss hier raus, und zwar so richtig raus. Raus aus L.A. Nach Arizona oder so. Die Schwester meiner Mutter ist da Teilhaberin einer Reinigung, in Phoenix. Sie schreibt mir ständig, ich soll doch zu ihr ziehen, das Leben hier hinter mir lassen, und jetzt im Augenblick hört sich das richtig gut an.
Aber dafür brauche ich Geld.
Im Kopf gehe ich schnell durch, wer mir noch was schuldet. Die Liste beginnt und endet mit Listo. Aber ich kann Fat John und Tortuga noch Sachen verticken, und vielleicht kann ich Gloria anschnorren. Das sollte reichen.
Zuerst die legale Schiene. Letzte Woche habe ich drei Tage im Wagen von Tacos El Unico gearbeitet, bevor dieser ganze Mist angefangen und der Laden zugemacht hat. Der Imbiss war allerdings die ganze Zeit offen während der Randale, Tag und Nacht, und mein Boss hat mich nicht einmal zur Schicht eingetragen. Aber ich weiß was über ihn, und jetzt wird er auch erfahren, was ich weiß.
Das würde FREER tun.
2 Ich drücke auf Play und bin wieder im Mixtape, wieder bei John Williams, jedenfalls am Ende davon. Ich beruhige mich beim Gehen, hole tief Luft und alles, als mir auffällt, was für eine Geisterstadt das hier gerade ist. Niemand draußen. Nicht ein Mensch. Die Fenster sind verrammelt. Kein Rasen wird gesprengt oder gemäht. Und ich denke so, es geht mich zwar nichts an, aber wieso machen Fate und seine Leute eigentlich ein Barbecue?
Bestimmt nicht als Strategiesitzung zur Aufnahme von Taggern in die clica. Das wäre zu erschreckend. Ich gehe schweigend weiter, schwer in Gedanken. Macht mich echt fertig, wie sich die Graffitiszene in L.A. entwickelt hat. Die hat schon in den Dreißigern angefangen, als sie das Flussbett betoniert haben, da gab es so Ritzbilder von Landstreichern und Zeichen in Teerfarben und so ’n Zeug. Es gibt sogar noch placas von coolen Chicanos von damals. Und ehrlich, Respekt für die Ostküste, aber die haben überhaupt nichts erfunden. CHAZ hat hier schon seinen Señor Suerte gesprüht, da waren die Idioten in New York noch dabei zu lernen, wie man Buchstaben an die Wand malt, die kleinen Babys. In L.A. waren wir immer schneller und weiter. Aber dann ist alles aus dem Ruder gelaufen. Als meine Generation loslegte, ging es gar nicht mehr bloß ums Taggen. Wir waren keine Tagger, sondern Tagbanger.
Früher hat man einfach seinen Namen irgendwo hingeschrieben, und das war’s. Es gab zwar Stress, wenn jemand deinen Namen gecrosst hat, aber dann ist was ganz anderes draus geworden, ein ganz neues Monster. Inzwischen ist die Sprayerszene echt Wildwestscheiß, weil jetzt meine Generation die Straße beherrscht. Nicht mehr die Pioniere, die bloß große Pieces writen wollen, die keinen stören, tolle Letters, tolle Fill-Ins. Die meisten Jungs in meinem Alter kommen aus schlimmen Gegenden, und wir wollen respektiert werden. So wurde die Graffitiszene gewalttätig. Und als das Taggen gefährlich wurde, haben die Leute angefangen, in Gruppen zu sprayen, und irgendwann wurden diese Gruppen immer größer und strenger, nannten sich Crews, und wenn die Crew groß genug war, wurde daraus eine richtige Gang mit mehreren Crews an verschiedenen Orten.
So wurden Graffiti-Gangs ein fester Bestandteil der Szene, und die verwandelte sich, wurde was ganz Neues, und jetzt ist es so eine komische Mischung aus Graffitis und Gangsterleben, und die Grenze dazwischen wird immer undeutlicher. Tagbanger, die mit Knarren rumrennen, um sich zu schützen oder Leute zu erschießen, die keinen Respekt zeigen? Mann, das ist echt krass. Ich hab auch eine, einen kleinen .22er Revolver zum Wegwerfen, leicht zu verstecken. Ich hab ihn jetzt bloß nicht dabei, denn das hätte ich jetzt gar nicht gebraucht, dass Big Fate mich durchsuchen lässt, und was dann? Ihm die Knarre erklären? Nein danke.
Ich hab so ein Gefühl in der Magengrube, dass mein Leben nie wieder so sein wird wie früher. So als hätte ich eine Handvoll Nägel verschluckt, die jetzt in mir herumpurzeln. Ehrlich, wenn schon so ein Nerd wie ich mit Knarre unterwegs ist, dann läuft wirklich was schief. Und ich bin nicht der Einzige. Das Ganze ist so außer Kontrolle, dass alle es mitkriegen. Es gibt inzwischen schon Tagger, die zum Abschuss freigegeben sind. Die großen Jungs üben Druck aus auf Leute wie Big Fate, damit die diese wilden Sprayer-Crews auf Linie bringen, weil viele von denen sich sowieso schon wie Gangs aufführen und Leute bloß wegen überschrittener Reviergrenzen beim Sprayen abknallen und so.
Es ist gar nicht so verrückt, sie regulieren zu wollen, denn manche dieser Graffiti-Crews sind inzwischen so groß, dass sie selbst als Gangs durchgehen. Ich rede hier von vierhundert Leuten. So viele Leute kann man nicht einfach unkontrolliert rumlaufen lassen. Macht das Geschäft kaputt. So sieht Fate das bestimmt. Ist wahrscheinlich sicherer für alle, wenn sie ins Gang-System eingegliedert werden und es ein bisschen geregelter zugeht; wenn man das gut findet, so wie manche, okay; das finde ich aber nicht. Auf keinen Fall. Ich will meine Freiheit nicht so verlieren. Ich werd mich nicht in irgendeinen Gangsterscheiß reinzwingen lassen, bloß weil ich sprayen will.
Auf meinen Kopfhörern ist kurz Pause, ich höre das wss-wss der Spulen vom Walkman, bevor die Titelmusik von A Fistful of Dollars anläuft. Das ist echt meine Schlendermusik. Kann ich nicht abstreiten. Hab ich aufgenommen wegen der Trompeten. In letzter Zeit fahre ich echt auf Trompeten ab. Weiß auch nicht warum. Sie sprechen einfach zu mir, zünden einen Funken tief drin. Wie kleine Welpen, die sich an meine Rippen kuscheln. Warm und gut. So fühlt sich das an, wenn ich eine schöne saubere Trompete höre.
Aber das schöne Gefühl sickert ganz schnell nach unten und durch die Zehen wieder raus aus meinem Körper, als ich den Kopf hebe und so Panzer-Transporter-Dinger die Straße entlangkommen sehe. Sehen aus wie große, gepanzerte Lastwagen. Zwei Stück. Und Mann, sind die schnell! Ich bleibe wie erstarrt stehen, was soll ich auch sonst machen? Ich bete, dass sie an mir vorbeifahren, einfach weiter, ohne einen Blick auf mich zu werfen. Aber nein.
Sie halten direkt neben mir auf der Straße an, verdammte Scheiße!
Ich ziehe den Kopfhörer runter, als die Bremsen quietschen, hinten muss irgendeine Klappe aufgehen, ich höre so ein Metallscheppern, und dann kommen vier Mann raus und …
Ach du Scheiße! Typen mit Helmen und schwerer Ausrüstung, die ihre Knarren auf mich richten. Ich hab noch nie im Leben so viel Schiss gehabt. Ich falle gleich so nach vorn auf die Knie und nehme die Hände hoch. Ganz hoch, denn vor so was wegzulaufen braucht man gar nicht erst zu versuchen. Der Dachs ist wieder da und legt jetzt richtig los in meinem Magen, mit so scharfen Klauen, dass mein Herz durchdreht und mir in den Hals springt, um bloß von ihm wegzukommen, und da bleibt es sitzen, direkt auf meinem Kehlkopf, und schlägt heftig.
«Auf den Boden», sagt einer von den Typen hinter seinem … wie heißt das noch? So ein Riesengewehr, von dem ich den Namen kenne, aber wenn ich es ein paar Zentimeter vor der Nase habe, fällt er mir nicht ein. Ist jedenfalls ein Armeegewehr. Ein langes Gewehr mit so einem Griff obendran.
Und er sagt das, was er sagt, so leise und ruhig, dass es mir noch mehr Angst einjagt. Ich lege mich hin, flach auf den Rasen in irgendeinem Vorgarten. Direkt neben meinem Kopf steht ein Büschel Löwenzahn mit weißen Puscheln obendran, und daneben liegt ein alter Klumpen Hundescheiße, also drehe ich den Kopf in die andere Richtung, damit ich den nicht sehen oder riechen muss.
«Arme und Beine breit», sagt dieselbe Stimme, und anscheinend mache ich das nicht schnell genug, weil meine Beine und Arme sofort von kaltem, hartem Metall auseinandergedrückt werden, und mir wird klar, dass das die Gewehrläufe sind, mit denen sie meine Arme und Beine rumschieben, und ich würde am liebsten direkt ins Gras kotzen. Was ist, wenn einem der Finger ausrutscht und er auf mich schießt?
Meine Kehle ist trocken, aber ich bekomme noch einen Satz raus: «Bitte erschießen Sie mich nicht.»
«Trägst du eine Waffe?», will die Stimme wissen.
Ich schüttele den Kopf. Sie tasten mich trotzdem ab.
Ich sage sie, weil es sich wie vier Hände anfühlt.
Als sie nichts finden, sagt dieselbe Stimme: «Du bleibst jetzt unten, bist du bis zweihundert gezählt hast. Fang an.»
Ich nicke wieder, dann zähle ich: «Eins, zwei, drei, vier …»
Vom Hals her höre ich, wie der Song «Everybody Wants to Rule the World» aus dem Film Real Genius anfängt. Ich erkenne ihn an der Gitarre und den Synthesizern. Mehr kann ich auch nicht hören. So einen leisen, langsamen Rhythmus im Gras. Eine Sekunde lang haut es mich echt um, wie total schräg dieses Timing ist, aber dann konzentriere ich mich auf was anderes.
Ich schaue gar nicht hoch, aber ich höre die Stiefel von mir weggehen und wie dann die beiden Transporterdinger wieder die Motoren starten. Sie kommen in mein Blickfeld, als sie die Straße rauffahren. Und der erste, oh Scheiße, der erste biegt in die Einfahrt, die ich grad runtergelaufen bin. Die sind hinter Big Fate her! Ach du heilige Scheiße. Das ist schlimm. Richtig, richtig scheiße.
«Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig …»
Der andere Transporter hält auf der Straße, vier weitere Typen mit Maschinengewehren springen raus und stürmen das Haus. Zwei rammen mit den Schultern die Eingangstür, die mit schrecklichem Ächzen und lautem Krachen nachgibt, und dann gehen sie mit angelegten Gewehren rein.
«Dreißig, einunddreißig, zweiunddreißig …»
Dann höre ich auf zu zählen. Ich schaue mich um und sehe niemanden in der Nähe. Keine Armeetypen, nichts. Aber mein Ärmel liegt in der Hundescheiße. Ärgh. Ich stehe schön langsam auf, kein Mensch sagt was, also renne ich los, weil mich niemand aufhält.
Fuck, Mann. Mein Kopfhörer schlackert mir um den Hals, ich kriege ihn zu fassen und setze ihn auf, während ich die Straße langrenne, weil ich jetzt echt in der Scheiße stecke. Richtig wortwörtlich in der Scheiße.
Ich krieg’s von allen Seiten, Mann! Alle wollen mich fertigmachen. Meine Tante erzählt mir alle zwei Minuten, dass ich genauso draufgehen würde wie Ernie, wenn ich nicht aufhöre zu sprayen, und sie hört mir gar nicht zu, wenn ich ihr antworte, dass Ernie überhaupt nicht gesprayt hat, keine Tags, gar nichts. Aber das wird sie nie begreifen.
Auf der anderen Seite drängt mich Big Fate, ich soll in die Gang, die Zeit läuft ab. Und jetzt von noch einer anderen Seite das hier? Soldaten, die aus Transportern springen und mich auf den Boden werfen? Soldaten, die Big Fate überfallen und den perfekten Werbespot dafür liefern, warum man besser kein Gangster wird, weil um die Ecke immer einer wartet, der noch größer und böser ist als du, der dich schneller fickt, als du denken kannst?
Scheiße. Mehr als je zuvor habe ich das Gefühl, ich muss sofort weg aus L.A.
3 Man achtet gar nicht darauf, wie schön ein Tag ist, bis man denkt, dass man sterben wird. Und jetzt schaue ich nach mehreren verrauchten Tagen nach oben und kann den Himmel hinter ein paar Wolken wieder sehen, und der ist blau. Na ja, so graublau. Aber warm ist es. Wahrscheinlich über 22 Grad. Und unter diesem Himmel, an der Ecke Atlantic und Rosecrans, auf dem Dach des Gebäudes, in dem auch der Imbiss von Tacos El Unico ist, in so einer kleinen Ladenzeile, steht ein Typ mit Sonnenbrille, Maschinengewehr und schusssicherer Weste.
Das ist Rudy. Er kommt aus Guatemala. Aber er ist cool. Er ist unser Wachmann. Ich habe ihn allerdings noch nie in so ’ner Ausrüstung gesehen, und ich hab auch keine Ahnung, wo er die herhat. Macht mich ein bisschen nervös, wenn ich ehrlich bin. Ich winke ihm zu, und er winkt nicht zurück. Er nickt nur. Ich frage mich, wie lange er wohl schon da oben steht. Ich meine, El Unico hat immer geöffnet, das war sogar während der Ausgangssperre so. Ich schätze, er wechselt sich mit irgendwem ab.
Ehe ich an der Tür bin, begrüße ich noch James den Obdachlosen, der steht nämlich auf dem Parkplatz, auf seinen Stock gestützt. James ist verrückt, aber harmlos. Kommt oft vorbei. Ernesto hat ihm früher immer was zu essen gegeben, ohne weitere Fragen. Den Scheiß hat er auch noch aus eigener Tasche bezahlt, und ich hab immer zu Ernie gesagt, Ist doch so viel schwerer, habe ich gesagt, sich was zusammenzusparen, oder? Er hat immer geantwortet, ich soll mir keine Sorgen machen. Ein Taco hier oder dort würde ihn schon nicht seinen Traum kosten, und wenn man Menschen helfen kann, ist es das immer wert. Schon bei der Erinnerung an ihn, wie er das sagt, muss ich den Kopf schütteln.
«Hey», sagt James zu mir, «weißt du, wo Ernesto steckt?»
Er schaltet gleich ab, als ich ihm antworte, dass ich es nicht weiß. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm nicht erzähle, was mit Ernesto passiert ist, aber ich will auch nicht, dass der kleine Obdachlose sich schlecht fühlt. Er hat Ernesto echt gemocht, und ich weiß, er hat ein hartes Leben, und ich will es nicht noch schlimmer machen oder mir die Verantwortung aufhalsen, ihn jetzt durchfüttern zu müssen wie Ernesto früher, wo ich doch schon plane, abzuhauen. Ich verabschiede mich von James und gehe rein.
Drinnen sitzen ein paar Nationalgardisten beim Essen. Sie grüßen mich, und erst denke ich, Was hab ich denn verbrochen? Aber sie grüßen alle, die reinkommen. Ich rede noch ein bisschen mit ihnen. Machen nicht alle. Sie sagen, sie haben das Essen umsonst gekriegt, und dass es so gut ist. Die besten Tacos und Burritos ihres Lebens, sagen sie, und das wundert mich nicht, es sind nämlich vor allem Weiße und Schwarze und Was-weiß-ichs, ist also klar, dass ihnen niemand zu Hause mexikanisches Essen kocht.
Sie sind von der Kompanie C, sagen sie, in Inglewood stationiert. Drittes Infanterie-Bataillon, sagen sie. Sind schon fast die ganze Zeit hier, sagen sie und zeigen auf die andere Straßenseite. Ich schaue rüber zum 7-Eleven und sehe Sandsäcke und anderes Zeug an der Straßenecke, wo noch vier von ihnen herumstehen, und ich kann es zwar aus dieser Entfernung nicht erkennen, aber selbst in Uniform sehen sie für mich aus wie cholos. Einfach, wie sie da stehen. In dem Augenblick können die Gardisten im Restaurant nicht mehr an sich halten und erzählen mir, ich würde ziemlich krass stinken, und zuerst weiß ich gar nicht, was sie meinen, aber dann fällt mir die Hundescheiße ein, ich entschuldige mich und husche hinter den Tresen.
Ich nicke dem Koch zu und wasche meinen Hemdärmel mit reichlich Seife und so heißem Wasser, dass es mich ein bisschen verbrüht. Die Hände wasche ich genauso gründlich, weil mich hier alles so an Ernie erinnert, und wie er mich immer ausgeschimpft hat.
Wir haben gar nicht so oft hier im Imbiss gearbeitet, meistens im Wagen, aber ab und zu waren wir auch zusammen hier, und er hat mich endlos zusammengefaltet, weil ich mir nicht die Hände gewaschen habe. Sprühfarbe sitzt nämlich total hartnäckig an den Fingern. Ich hab sie immer hinterher gewaschen, und von der Haut habe ich die Farbe auch abgekriegt, aber unter den Nägeln blieb immer was hängen. Stundenlang hab ich versucht, das wegzukriegen, aber irgendwann hab ich aufgegeben und bin rein und hab für ihn geschnippelt. Tomaten. Fleisch. Salat. Alles Mögliche. Aber als Erstes hat er immer auf meine Hände geguckt und mich sofort angepfiffen.
«Was soll das denn bitte?», hat Ernie immer gesagt. «Wieso hast du dir nicht die Hände gewaschen?»
«Ich hab sie gewaschen», hab ich dann geantwortet. «Sie sind sauber.»
«Und wieso sind deine Fingernägel dann noch blau? Was ist damit?»
«Die sind sauber.»
«Hör mal, wenn dir jemand einen Teller mit Essen reicht und Farbe an der Hand hat, würdest du das essen wollen? Das ist eklig, Mann. Mach so was nicht. Das ist unprofessionell.»
Und ich dann so: «Was weißt du denn von professionell?»
«Hör mal.» Sein Ton wurde dann ruhiger. «Ich bin nicht dein Vater. Ich will dir nicht vorschreiben, was du mit deinem Leben anfangen sollst. Wenn du in deiner Freizeit sprayen willst, okay. Tob dich aus. Hab deinen Spaß. Aber wenn du achtzehn oder neunzehn bist, musst du dir vielleicht mal überlegen, ob du nicht mit dem Graffitischeiß aufhören solltest, denn für so was kann man in den Knast wandern. Und das wird hier nicht gern gesehen.»
Ernie war für mich immer die Stimme der Vernunft, die mich mit beiden Beinen auf den Boden der Tatsachen holte. Ich wollte sie bloß eigentlich gar nicht hören. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, muss ich diese Aufgabe wohl selbst übernehmen, und das ist nicht leicht, weil ich es eben irgendwie nicht will. Echt hart.
Ich trockne mir die Hände mit den Papierhandtüchern ab und falte dann eins um die Manschette, sodass es aussieht, als sei ein Ärmel unten weiß. Ich starre einen Augenblick ins Waschbecken, dann gehe ich nach hinten und bitte um ein Gespräch mit meinem Boss.
Er hat einen winzigen Schreibtisch in so einer Vorratskammer. Er ist ziemlich paisa, darum sitzt er auch so gern hinter diesem Schreibtisch und hält Hof. Ich weiß gar nicht, wo dieses Wort herkommt. Vielleicht haben wir von den Italienern paisana geklaut und daraus ein spanisches Wort gemacht. Aber für uns bedeutet es so was wie «frisch vom Schiff» für die asiatischen Einwanderer, würde ich sagen. Jemand aus dem alten Land, der sich immer noch so benimmt wie zu Hause, noch nicht richtig amerikanisch ist, vielleicht auch nie werden wird.
Mein Boss ist eigentlich ein guter Typ. Nur manchmal muss man ihn erst dran erinnern. Heimlich nennen wir ihn Listo-Listo, weil er ständig so nervig nachfragt, ob wir auch alle fertig sind, bevor die Schicht anfängt, so «¿Listo, listo?».
Er wiederholt sich ständig so. Du kriegst das Gefühl, er glaubt eigentlich gar nicht, dass du fertig bist, und erinnert dich dran. Keine Ahnung. Jetzt sitze ich ihm gegenüber und lächele. Er mag es, wenn man ihn jefe nennt, also fange ich damit an.
«Jefe», sage ich, «ich hab vorletzte Woche gearbeitet, und dann letzte Woche Montag und Dienstag, und am Mittwoch haben Sie Ernesto und mich vom Wagen nach Hause geschickt, also –»
Er erzählt mir auf Spanisch, dass es ihm wirklich sehr leidtut mit Ernesto, dass es ihn aber eigentlich nichts angeht, und im Moment ist alles echt schwierig, weil die Banken geschlossen sind. Vielleicht kann er mich morgen bezahlen, sagt er.
Ich merke, dass er lügt. Ich arbeite schon lange genug hier und weiß, das Allermeiste hier wird in bar abgewickelt, ist ja klar, wenn man das meiste Essen an Leute verkauft, die womöglich gar keine Papiere haben, also kann Bargeld auf keinen Fall das Problem sein. Wir haben eher zu viel davon als zu wenig, weil die Banken zu sind, und deshalb ist er nervös. Das würde auch erklären, wieso Rudy mit Gewehr auf dem Dach steht.
So cool wie möglich frage ich, wie es seiner Frau geht, er antwortet, dass es ihr gutgeht, und dann frage ich klar und deutlich nach seiner Freundin, und er erstarrt, weil er weiß, wovon ich rede. Vor zwei Monaten war ich abends draußen und brachte Müll zum Container, da habe ich Bewegung in seinem Auto gesehen, und ich war sicher, irgendwer will es klauen, also bin ich hingeschlichen und hab was gesehen, was ich nicht unbedingt sehen wollte, aber jetzt bin ich doch froh drüber. Woher sollte ich denn wissen, dass er auf seinem Rücksitz eine Frau von hinten fickt?
Und das Beste war, ich kannte sie. Cecilia irgendwas. Ich weiß zwar nicht ihren Nachnamen, aber ich hab sie hier schon öfter gesehen, meistens mit diesem lockigen Typen mit Pickelnarben im Gesicht, Momo heißt er. Der ist echt übel, Mann. Bestellt immer lengua-Tacos. Steht voll auf Rinderzunge mit jeder Menge salsa verde, so viel, dass sich der Taco praktisch in seiner Hand auflöst, und die Reste stippt er dann mit Pommes auf. Fragt mich nicht wieso.
Ich mache so eine Andeutung zu Listo, dass Momo womöglich dafür verantwortlich ist, was Ernesto zugestoßen ist, und wenn der nun erfahren würde, was mein Boss mit seiner Freundin treibt? Das lasse ich einfach so im Raum stehen, und er muss schlucken, als er drüber nachdenkt.
Ich fühle mich nicht wohl dabei, aber ich glaube, Ernesto wäre nicht sauer auf mich, weil Listo auch schon versucht hat, ihn wegen Geld übern Tisch zu ziehen.
«Ich habe keine Ahnung, wovon du redest», sagt Listo und guckt ziemlich panisch.
«Wie Sie meinen, jefe», antworte ich. «Ich glaube Ihnen, Mann.»
Listo gefällt das ganz und gar nicht, aber er geht raus und kommt mit 291 Dollar in bar zurück und meint, er muss mir die Steuern abziehen und was nicht alles. Ich streite mich nicht mit ihm. Ich sage Danke und gehe. Er sagt nicht, dass ich nicht mehr wiederkommen brauche. Aber das ist auch so klar.
Ist mir recht. Die Brücke habe ich gründlich abgebrochen, aber das hier ist ein Anfang. Ein hübsches kleines Ei im Nest. Jetzt muss ich es bloß noch warm halten und ausbrüten.
4 Tortuga, Fat John und ich stehen in der Garage meiner Cousine Gloria, wo wir uns manchmal vor unseren Touren treffen. Ich habe uns mit dem Schlüssel reingelassen, den Gloria an der Seite in einem kleinen Loch im Putz versteckt, das sie mit einem Stein verschließt. Ich sage ihr immer, sie soll das lassen, es ist nicht sicher, eines Tages wird ihr einer das Auto klauen, aber sie macht es weiterhin so. Man meint, sie sollte es lernen, aber manchmal lernen die Menschen erst, wenn was Schlimmes passiert.
«Wieso sind wir noch mal hier?», fragt Fat John. «Bestimmt nicht, um deiner Cousine und ihren süßen Titten Hallo zu sagen.»
«Wart’s ab», antworte ich. Ich bin so konzentriert, dass ich mich gar nicht über den Kommentar mit den süßen Titten aufrege, aber bevor ich sagen kann, was ich sagen will, haut Tortuga mir auf die Schultern und nickt mir zu.
«Also, ich dachte, wir sind hier, weil da draußen alle durchdrehen», sagt er. «Ich hab gehört, so ein Homie von deinem Cousin, Puppet heißt er, hat irgendeinen obdachlosen Penner angezündet! Hat einfach Benzin über ihn geschüttet, ein Streichholz angerissen und wuusch!»
Scheiße. Sleepy hat tatsächlich einen durchgeknallten Junkie-Homie namens Puppet, den ich sogar schon getroffen habe. Der ist echt übel. Ich starre Tortuga eine Sekunde an, und in meinem Kopf sehe ich bloß James vor mir, der in Flammen aufgeht. Ist das widerlich, Mann. Dreht mir den Magen um. Diese ganze Stadt läuft total aus dem Gleis. Irre. Wieder mal wird mir klar, wie schnell ich hier rausmuss. Jetzt gleich. Heute noch.
«So ein Quatsch», sage ich. «Außerdem sind wir bestimmt nicht hier, um zu klatschen und zu tratschen wie blöde Bitches. Wir haben Geschäftliches zu regeln.»
Ich habe nicht damit gerechnet, dass Gloria schon von der Arbeit zurück ist, aber ihr kleiner knallroter Geo Metro steht in der Garage und versperrt mir den Weg, also klettere ich über den Kofferraum, der von meinem Gewicht ein bisschen eingedrückt wird, aber die Delle springt gleich wieder raus, als ich runterrutsche, dann bücke ich mich unter die Werkbank, die in die Wand eingebaut ist und an der sie noch nie dran war, ziehe die alte Armeetasche meines Opas raus, olivgrün und größer als ich. Es klappert und scheppert, als ich sie über den Estrich schleife.
«Ist da das drin, was ich vermute?», fragt Tortuga.
Ich hieve die Tasche übers Auto, lasse sie auf den ölfleckigen Fußboden plumpsen und öffne den Reißverschluss. «Checkt das, Leute!»
«Ach du Sch…» Fat John sieht aus, als würde er seinen Augen nicht trauen. «Was ist das denn, Mann?»
«Damit machst du dich zur Legende, Alter», sagt Tortuga.
«Absolut», sagt Fat John. «Absolut.»
Wir stehen eine Minute rum und zählen. In der Tasche sind siebenundvierzig Sprühdosen; die meisten Sprayer haben so eine Menge bisher bloß im Laden gesehen. Ich hab vor allem Krylons, in Silber und Schwarz, die Farben der Los Angeles Raiders. Davon hab ich dreißig. Der Rest sind kleine Testor-Dosen, Rot, Weiß und Blau.
Ich hab das Lager gefüllt, um mit einem großen Knall abzutreten. Ist ja wohl klar.
«Scheiße, Mann», sagt Tortuga. «Jetzt weiß ich auch, was du die ganze Zeit getrieben hast, während alle anderen in Deckung geblieben sind. Dosen gezockt wie nichts Gutes.»
Dosen gezockt hab ich, genau. Bin bei Ace Hardware rein, hab so viele in einen Rucksack gestopft, wie ich konnte, und bin weggerannt. Bis jetzt haben Fat John und Tortuga nicht gewusst, dass ich überhaupt welche habe.
Ich bin ja nicht so blöd, diesen Besessenen so viele Dosen auf einmal zu zeigen. Klar, wir sind befreundet, aber wenn es um Farbe geht, würden sie mich sofort ficken. Wenn einer von ihnen dünn genug wär, sich durchs Fenster zu quetschen, würden sie sich besaufen, die Scheibe einschlagen und die ganze Tasche rausholen. Darum werd ich ihnen auch nicht erzählen, dass ich so schnell wie möglich hier weg muss, denn je weniger Leute das wissen, umso besser.
«Caps hab ich auch», sage ich und ziehe eine Tüte aus der Tasche, in der lauter gelbe und blaue und lila Sprühaufsätze für Glasreiniger stecken, die man auf Sprühdosen aufstecken kann, damit man in verschiedenen Stärken und Styles sprayen kann.
Eine Cap ist von einer Flasche Windex, und ich hab ein paar Nadeln reingesteckt; wenn man die nimmt, trägt die Farbe schön breit auf. Die nehme ich raus und stecke sie in die Hosentasche. Die kriegen sie nicht. Die ist was Besonderes. Hab ewig gebraucht, bis ich raushatte, wie ich sie genau durchlöchern muss.
Fat John vertickt manchmal Gras. Ich weiß, er hat immer Bares auf Tasche.
«Ein Dollar die Dose», sage ich. «Ein paar Caps gibt’s noch umsonst dazu.»
Sie gucken mich beide an, als wär ich verrückt, aber dann fragt Tortuga, ob ich auch Mean Streaks hab. Nein, sag ich, bloß Dosen. Er nickt so, okay, und fängt im Kopf an zu rechnen, also lasse ich ihn.
Zuerst nehme ich die Dosen raus, die ich selbst haben will, zehn Stück in Ernies Lieblingsfarben: Schwarz und Silber. Danach teilen wir den Rest schnell auf. Fat John nimmt zwanzig, Tortuga schnappt sich den Rest. Fat John leiht Tortuga Geld, aber erst, als der verspricht, ihm das Geld nächste Woche zurückzugeben und dazu noch Kuchen und andere Sachen aus der panadería seiner Mutter mitzubringen, wenn die nächste Woche wieder aufmacht. Klingt eigentlich ganz fair.
Ich stecke die 37 Dollar ein, und zusammen mit der Auszahlung von El Unico komme ich auf insgesamt 328 Dollar. Nachdem das Geschäftliche geregelt ist, fragt Fat John, was mit unserer Crew passieren wird, wo wir uns jetzt Big Fates Gang anschließen sollen. Er macht sich auch Sorgen.
Wir drei sind in einem Team, das zu einer viel größeren Crew gehört. Die hat mal ganz weit weg von hier angefangen, und inzwischen kommt es uns noch weiter weg vor. Das sind vielleicht Tagbanger, aber sie können uns nicht davor schützen, in eine Gang gezwungen zu werden. Ganz ehrlich, ich weiß echt nicht, ob der Überfall der Soldaten auf Big Fate irgendwas an der Lage ändert. Vielleicht schon, vielleicht aber auch nicht, und ich glaube, ich will lieber nicht abwarten und es herausfinden.
«Tut es oder lasst es», sage ich. «Das ist die einzige Wahl, die ihr jetzt treffen müsst.»
«Aber», sagt Tortuga, «könnten wir nicht irgendwie unsere Oberbosse anrufen?»
«Die reagieren nicht auf Anrufe, weil sie im Nordosten genug zu tun haben», sage ich. «Aber ich glaube, das würde auch nichts mehr ändern. Wir leben in Lynwood. Sie nicht.»
«Stimmt», sagt Fat John. «Das ist wahr.»
Tortuga fragt nach: «Liegt also erst mal alles auf Eis, bis wir unsere Crew verlassen und uns ihrer Gang anschließen?»
«So ziemlich», sage ich.
«Und du bist sicher», fragt Fat John, «dass du nicht mitziehen willst? Obwohl es doch die Hood deines Alten ist und so?»
«Hey», sage ich, «ich werde das hier bestimmt nicht ewig machen, aber im Augenblick ist es mir das Wichtigste. Was meint ihr, wieso ich spraye? Weil ich es nicht abkann, wenn Leute mir sagen, was ich tun soll. Und da soll ich in Big Fates Gang einsteigen und mir von einer neuen Bande Arschlöcher sagen lassen, wie ich leben soll?»
«Was denn», sagt Tortuga, «willst du nicht so enden wie dein Alter? Dreiundzwanzig Stunden am Tag eingeschlossen und ein Matratzenloch ficken?»
Ich reagiere nicht mit Worten. Ich starre Tortuga lange und böse an, so: Alles klar, Wichser, das war dein Freischuss.
Ich wechsle also das Thema. Ich erzähle ihnen, dass mich alle in der Szene bloß als Bomber kennen. Aber ich will auch Pieces schreiben, illegale.
Dazu nicken sie, als würde ich predigen, aber dann fragt Tortuga: «Und wie willst du das abziehen, wenn du Freiwild bist?»
«Ich hab einen Plan», sage ich.
«Was für einen Plan?»
«Erzähl ich dir später», sage ich. «Jetzt muss ich erst mal mit meiner Cousine sprechen.»
«Sprechen, na sicher», sagt Fat John und packt sich an den Schwanz.
Ich boxe ihm in den Magen, nur zum Spaß, aber trotzdem echt hart, klar? Damit er weiß, in meiner Gegenwart kann er solche schmutzigen Anspielungen nicht mehr fallen lassen, ohne dafür zu bezahlen. Tortuga lacht, und wir verabschieden uns alle. Als sie weg sind, warte ich noch gute fünf Minuten und gucke aus den Garagenfenstern, damit sie auch bestimmt nicht noch irgendwo rumhängen und schnüffeln, ob ich noch mehr Farbdosen irgendwo versteckt hab.
Hab ich übrigens nicht. Aber sie glauben das bestimmt.
Dann schmeiße ich die zehn Dosen für Ernie in meinen Rucksack und ziehe was anderes aus der Tasche, was sie nicht zu sehen gekriegt haben.
Nämlich meinen Wegwerfrevolver, den schwarzen .22er, man kann nie vorsichtig genug sein. Ich stecke ihn tief hinten in meinen Hosenbund, ziehe das Hemd drüber und gehe rein, um Gloria zu überraschen.
5 Gloria telefoniert, als ich reinkomme, und wickelt sich dabei das Kabel um den Finger wie einen Ring. Sie zuckt zusammen, als ich die Hintertür zuschlage, und sieht mich an, als wär ich gerade hinten auf ihr Kleid getreten oder so was.
Das Telefon ist im Wohnzimmer an die Wand geschraubt, sie macht einen Schritt auf mich zu und versucht, mich aus der Küche zu scheuchen, aber das Kabel ist nicht lang genug, sie wird zurückgezogen und sieht echt sauer aus, vor allem, als mein Grinsen breiter wird und ich im Kühlschrank nachschaue, was da so drin ist.
Ich sehe Käsepizza, in Frischhaltefolie gewickelt, weil Cousine Gloria so langweilig ist und keinen Belag auf ihrer Pizza mag, und chinesisches Essen in den kleinen weißen Kartons, und dann etwas, das sich tatsächlich lohnt. Es sind noch ein paar von den tamales übrig, die ihre Mutter zu Weihnachten gemacht hat.
Die muss Gloria gestern Abend aus dem Tiefkühler geholt und aufgetaut haben, aber dann hat sie nicht alle gegessen, sie liegen nämlich da, wo sonst die Eier liegen. Ich suche mir eine aus und hoffe, es ist eine mit Mais, queso und jalapeño, aber als ich reinbeiße, ist es bloß so eine langweilige mit Schweinefleisch.
Gloria wedelt hektisch mit der Hand, dass ich rausgehen soll, und sieht sehr enttäuscht aus, als ich dableibe. Ich esse die ganze tamale mit zwei Bissen auf, ohne Teller. Daraufhin starrt sie mich böse an, und dann wird sie ganz leise, flüstert in den Hörer, dass es ihr sehr leidtut, sie aber auflegen muss, und bis bald, und dann legt sie auf und kommt mit erhobener Hand auf mich zu.
Sie haut zu und verfehlt mich, und ich mache den Fehler, darüber zu lachen, weil sie gleich danach voll meine Wange trifft. So bamm. Ich sehe kurz richtig Sterne, reibe mir den Kiefer, der echt weh tut, und sage: «Das ist aber nicht nett. So benimmt sich keine Dame, das weißt du doch.»
Sie nimmt ihren Becher, trinkt einen Schluck und sagt: «Ist mir egal. Ich habe dich nicht hereingebeten.»
«Ich gehöre zur Familie», sage ich achselzuckend. «Ich meine, was würde deine Mutter wohl sagen, wenn du ihr erzählst, dass du mich geschlagen hast?»
«Wahrscheinlich würde sie sagen, dass du es verdient hast.»
«Das würde meine Tante niemals sagen.»
«Oh doch», sagt Gloria, «das würde sie.»
Wir starren einander noch ein bisschen an, dann frage ich sie, ob sie mir Geld geben kann.
«Ich habe kein Bargeld», sagt sie.
«Aber sicher», sage ich, «du hast doch auf den Fernseher gespart und so.»
Sie neigt den Kopf und sagt: «Das Geld ist weg, Jermy.»
Jermy nennt sie mich nur, wenn es ihr ganz ernst ist, also werde ich vorsichtiger. Sie macht einen Lappen nass und wischt den Fußboden ab, wo ich die tamale gegessen und wohl gekleckert habe. Nachdem sie den Lappen in die Spüle geworfen hat, verrät sie mir, dass sie das für etwas anderes ausgeben musste, aber sie will mir nicht sagen, für was. Sie sagt, eines Tages würde ich es verstehen.
Dann gibt sie mir zehn Dollar und sagt, das sei alles, und das hätte sie auch nur, weil sie mit ihren Kolleginnen was auf Rubbellose gewonnen hätte. Ich hab gesehen, wie sie an ihre Handtasche gegangen ist, darum weiß ich, dass sie nicht lügt. Mehr als zehn Kröten hat sie wirklich nicht. Damit bin ich bei 338 Dollar, was gerade so für die Fahrt nach Phoenix und ein bisschen Startkapital reichen sollte, schätze ich. Oder hoffe ich jedenfalls.
Als sie mir den Zehner gegeben hat, fragt sie: «Okay, hast du Aurelio gesehen oder was?»
Ihr kleiner Bruder ist zwei Jahre älter als ich, aber ich nenne ihn schon seit Kindertagen nicht mehr Aurelio. Sleepy, so schon. Sleeps. Sleep Machine. Manchmal nenne ich ihn auch Sleepertón. Aber nicht Aurelio. Niemals.
«Ich hab Sleepy weder gesehen noch was von ihm gehört. Wieso? Glaubst du, er baut Scheiße, oder was?»
Sie zuckt die Achseln, und das heißt: Klar, und das denkt sie nicht nur, sie macht sich auch Sorgen deswegen. Ständig.
Ich beschließe, das Thema zu wechseln, damit ich mir nicht zwanzig Minuten lang was darüber anhören muss.
«Wo ist denn Lydia? Und wo ist der Kleine?»
«Zusammen weg», sagt Gloria. «Sie ist mit Mateo zu Chuck-e-Cheese, damit ich mal ein bisschen frei habe.»
«Hey», ich wechsle schon wieder das Thema, «kann ich dein Auto leihen?»
Sie schaut mich lange über den Rand ihres Teebechers an, aus dem sie schon beim Telefonieren getrunken haben muss. Darauf steht GILROY: GARLIC CAPITAL OF THE WORLD. Und eine kleine Zeichnung von einem Knoblauchkopf ist auch drauf. Alles mit grünen Umrisslinien.
«Wofür?»
«So ’ne Sache», sage ich.
«Also für deinen Graffitiquatsch.»
«Nein», sage ich und glaube, ich spiele ganz gut, ganz echt; aber klar, um zu sprayen.
Was denn sonst.
«Tut mir leid, primo», sagt sie. «Geht nicht. Ich bin verabredet.»
Ihre letzte Verabredung ist so lange her, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, darum frage ich: «Mit wem denn? Mit diesem Krümelmonster-Typen?»
Das ist natürlich ein Witz, denn Krümelmonster wohnt hier um die Ecke und wiegt an die drei Zentner, vielleicht ein paar Burger mehr oder weniger, aber sie schnappt sich gleich eine Banane aus der Obstschale auf der Theke und wirft sie nach mir. Ich ducke mich, und sie knallt gegen die Tür zur Garage und fällt auf den Boden.
Ich hebe sie auf und lege sie wieder in die Schale. Ich versuche ihr rauszulocken, mit wem sie verabredet ist, fast drei Minuten lang, aber auf einmal wird sie richtig ernst und will es mir nicht sagen. Sie lächelt bloß so vor sich hin und wickelt ihr Haar um den Finger wie vorhin das Telefonkabel.
Schließlich schneidet sie mir das Wort ab. «Ich muss jetzt duschen. Wenn ich wieder rauskomme, bist du hoffentlich verschwunden.»
Ich nicke, das kriege ich hin, und als sie rausgeht, fische ich ihre Autoschlüssel aus der Handtasche, die mit dem kleinen Mutter-Teresa-Anhänger am Schlüsselring. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihren Wagen nehme, aber auch kein richtig schlechtes. Sie wird es verstehen, wenn ich sicher in Phoenix angekommen bin und ihr alles erzähle; dass ich es nur getan habe, weil ich kein Gangster werden wollte. Sie wird froh drüber sein. Vielleicht nicht heute. Aber irgendwann. Ganz bestimmt. Sie liebt mich. Sie will, dass ich in Sicherheit bin.
6 Ich bin kein totales Arschloch. Ein bisschen arschig, aber nicht total. Ich nehme zuerst Mateos Kindersitz aus dem Wagen und stelle ihn auf den Garagenboden, noch nicht mal in einen Ölfleck. Dann schiebe ich so leise wie möglich das Garagentor hoch, stelle den Automatikhebel auf N und schiebe den Wagen raus, mache das Garagentor wieder zu, schließe ab, schiebe den Schlüssel wieder in das Loch mit dem Stein davor, lasse dann den Motor an und fahre los. Ich muss schnell zu meiner Tante und packen, ehe Gloria rausfindet, dass ich ihr Auto genommen habe und ihre Mutter anruft und sie mir beide aufs Dach steigen. Ist alles ein bisschen kompliziert.
Ich wohne bei Glorias Mutter und Vater und ihrem Bruder Sleepy, aber ihr Vater ist bloß ungefähr drei Tage im Monat zu Hause, er ist nämlich Fernfahrer, und Sleepy ist sowieso nie dort, also sind meistens bloß Tante Izel und ich da. Sie und Gloria vertragen sich nicht, weil Gloria nicht verheiratet ist und mit einem Drogendealer ein Kind in Sünde gezeugt hat, und jetzt wohnt sie mit ihrem kleinen Sohn – meinem Neffen irgendwie – und Lydia in dem Haus, das ihre Großmutter ihnen vererbt hat. Und ich wohne bei Tante Izel, weil meine Mutter nach Mexiko zurückgegangen ist. Mich hat sie in Kalifornien gelassen, weil sie meinte, hier kann eher was aus mir werden. Und meine Tante in Phoenix, von der ich euch erzählt habe? Das ist die Schwester meiner Mutter. Also, wie ich gesagt habe: kompliziert.
Als ich den Zündschlüssel drehe, kommt sofort Musik aus den Lautsprechern, und was noch schlimmer ist: ich erkenne den Song, weil Gloria mich schon mal gezwungen hat, ihn anzuhören. «America» aus West Side Story. Sie meint, der sei clever und gut geschrieben, und ich soll ihn schätzen lernen, gerade wegen meiner Herkunft, aber ich finde ihn total schwul.
Ich drücke das Tape raus und werfe es nach hinten, wo vorher Mateos Kindersitz war. Ich hoffe, es geht nicht in den Kleiderstapeln verloren, die sie dahinten liegen hat. Die Karre ist ein fahrender Kleiderschrank. Da liegen drei verschiedene Jacken aufeinander, mehrere Paar Schuhe, alle so weiß und klobig, mit so Einlagen.
Ich schiebe mein Mixtape ins Kassettendeck. Tex Ritters «High Noon» aus dem Film mit Gary Cooper nähert sich dem Ende und hört abrupt auf, weil ich die Aufnahme versaut und ausgeschaltet habe, bevor der Song ausgeblendet wurde, aber es musste sein.
Ich habe nur 60er-Kassetten mit dreißig Minuten pro Seite, alle auf dem Flohmarkt gekauft, und ich wollte eben unbedingt den Song «Hurry Sundown» drauf haben, der mir gerade heute noch mehr bedeutet als sonst. Handelt davon, einen richtigen Scheißtag zu haben, der schnell zu Ende gehen soll, und deshalb soll der Sonnenuntergang sich beeilen. Die Musik ist von Hugo Montenegro, total unterbewertet. Fängt ganz geisterhaft an, so mit Gitarre und Summen, dann wird ein Duett draus, und das nimmt Fahrt auf wie eine Welle, die am Ende in einem richtigen Choral anbrandet. Fast wie ein Spiritual. Finde ich jedenfalls.
Ich beschließe, auf der Wright Road am Freeway 105 vorbeizufahren, um zu sehen, ob ich die Unterführung sprayen kann, wenn die nicht inzwischen schon total voll ist.
So richtig verliebt hab ich mich ins Sprayen, als ich mal auf der Rosecrans stand und Richtung Freeway 710 guckte und schwarze Sprühfarbe auf einmal mein gesamtes Blickfeld gebombt hat. Ich meine, der Bordstein gegenüber, der Bürgersteig, fast jeder Quadratzentimeter der zehn Meter hohen Wand, sogar die Scheißpalme daneben, alles schwarz. Mann, das sah aus, als hätte eine Ninja-Armee zugeschlagen. Der Tag hat meine ganze Weltsicht verändert. Jetzt sehe ich gar keinen Beton mehr. Ich sehe keine Wände, nicht mal Gebäude. Ich sehe Gelegenheiten, klar? Flächen, denen ich meinen Stempel aufdrücken kann. Ich sehe riesige feste Leinwände, die nur auf Treffer warten …
Moment mal, da vorn stehen Sheriffs und Feuerwehrfahrzeuge, sieht so aus, als leiten sie den Verkehr auf die Fernwood um. Zuerst kann ich gar nicht erkennen, wieso, weil vor mir so ein kotzbrauner Riesenjeep fährt, hinten an der Heckklappe hängt noch ein platter Ersatzreifen; aber als der auf die Fernwood abbiegt, sehe ich, wieso wir nicht durchkommen.
Unterm Freeway steht so ein großer Lastwagen, anscheinend von der Stadt, total ausgebrannt und rußverschmiert, genau wie der Brückenbeton obendrüber. Kurz bevor ich abbiege, machen zwei Feuerwehrleute die hintere Klappe auf, und sie fällt ab. Asche fliegt in einer großen schwarzen Wolke in alle Richtungen, während der Gesang von «Hurry Sundown» ausgeblendet wird und ein neuer Song anfängt, einer der richtig schrägen Tracks in diesem Mix.
Es ist ein altes Sesamstraßenlied, «Be Kind to Your Neighborhood Monster», von einer total genialen und total vergessenen Platte namens We Are All Earthlings, und wenn ich es höre, schwanke ich immer zwischen Schaudern und Lachen, weil es für mich hier, wo ich lebe, eben was ganz anderes bedeutet. Sagen wir mal so, ich stelle mir dabei keine pelzigen lila Ungeheuer vor. Sondern cholos mit Tattoos, rasierten Schädeln, hochgezogenen Socken und einer scharfen Bügelfalte in ihren Khaki-Shorts.
Jetzt muss ich nach rechts abfahren, und ich kann fast auf die Ladefläche des Lasters sehen, als ein Sheriff in brauner Uniform und mit Hut mich durchwinken will, und er dreht sich um und guckt dahin, wo ich hingucke, und er erstarrt einen Augenblick, als könnte er es auch nicht fassen, und als er sich wieder zu mir umdreht, winkt er mich hastig weiter. Ich muss die Augen zukneifen, weil ich nicht glauben kann, was ich sehe.
Hinter mir hupt jemand.
«Ach du Scheiße», sage ich zu niemandem und versuche die schwarzen Formen zu erkennen, die da aufeinandergestapelt sind. «Sind das etwa verbrannte Leichen?»
Die tamale in meinem Bauch teilt mir mit, dass sie gleich den Schleudersitz nehmen wird, also schlucke ich, gucke woanders hin und gebe richtig Gas.
Vielleicht liege ich völlig daneben, aber wenn das Fates clica gemacht hat, dann verstehe ich auch viel besser, dass der Schlägertrupp angerollt ist und ihm die Türen eingetreten hat. Viel besser.
Ich bin total benebelt, habe immer noch das eben Gesehene vor Augen, nicht das, was wirklich vor mir liegt. Ich glaube, ich hab eine AK-47 da rausragen sehen. Und so viel Asche …
Von der Fernwood auf die Atlantic Avenue, dann auf die Olanda Street, und als ich auf der Olanda wieder die Wright Road überquere, macht es irgendwie klick, und ich halte vor dem Haus meiner Tante Izel.
Ich gehe hintenrum rein und bin froh, dass heute kein Restauranttag ist. Meine Tante betreibt gelegentlich ein kleines Restaurant in ihrem Haus, und dann helfe ich ihr. Sie stammt aus Tlaxiaco in Oaxaca, wo man noch weiß, wie man so richtig traditionelle Aztekengerichte kocht. Zwei Tage die Woche stellen wir hinten Tische auf den Rasen, und sie kocht für die Leute, die vorbeikommen. Sie macht Hühnerschenkel in gelber molé, die sie vorher schon so zwei Tage lang im Tontopf backt. Und Tortillas, komplett selbstgemacht. Aber richtig berühmt ist sie in der Gegend für ihre lentejas oaxaqueñas. Zwei Dollar für eine Schale kleiner Linsen mit Ananas und Kochbananen und Tomaten und Gewürzen.
Aber heute ist bloß ihr normaler Vorbereitungstag, und ein paar Märkte in der Gegend haben heute Morgen endlich wieder geöffnet, darum ist sie Zutaten einkaufen gegangen, was gut ist für mich, denn ich kann schnell rein und raus wie ein Dieb.
Ich schnappe mir Zahnbüste und Zahnpasta, mein Right-Guard-Deo, meinen Santa-Fe-Duft, und dann mein Vandalenkit: eine kleine Stiftemappe mit dem Logo von G.I. Joe, die ich schon ewig habe. Danach brauche ich vielleicht noch zwei Minuten, werfe T-Shirts und Jeans und Sweatshirts und Socken und Unterwäsche und meine Lieblings-Reeboks in eine kleine Reisetasche. Ich nehme noch die beiden schwarzen Skizzenbücher mit, meine Blackbooks, und das war’s. Als Hinweis haben sie die Briefe meiner Tante und ihre Adresse in Phoenix. In der Küche greife ich mir Erdnussbutter und den Rest eines Brotes, vielleicht fünf Scheiben. Ich bin schon wieder im Auto und setze zurück, bevor überhaupt jemand merken kann, dass ich da war.
Ich habe jetzt nur noch vor, an ein paar Busparkplätzen vorbeizufahren und auf einen glücklichen Zufall zu hoffen.
7 Wusstet ihr, dass San Francisco bloß so zwanzig Quadratkilometer groß ist? Ich auch nicht. Als Fat John mir das letzten Monat erzählt hat, war ich echt platt. L.A. ist nämlich endlos. Da gibt es Strände, Hügel, Teergruben, Berge, Wüste, Downtown und einen fetten betonierten Fluss mittendurch. Es geht in alle Richtungen immer weiter. Wir sind ein eigenes Land, Mann. Das Gefühl hab ich jetzt noch mehr.
Ich cruise durch Lynwood und suche nach Busparkplätzen. Ich kenne einen an der Atlantic, auf der anderen Seite vom Freeway 105. Aber da ist nichts.
Ich halte die Augen offen nach abgestellten Bussen. Die stehen fast immer in einer kleinen Straße, die von einer großen abgeht, vielleicht so ein paar Querstraßen neben einem Boulevard, vielleicht im Industriegebiet oder in einer Sackgasse, wo der Randstreifen breit genug ist. Manchmal stellt die Busgesellschaft einfach ein paar Busse ab, warum auch immer, vielleicht wegen technischer Probleme, oder irgendein Fahrer ist krank geworden oder ist zu spät zur Schicht gekommen und konnte nicht pünktlich übernehmen, und dann wird der Bus einfach irgendwo geparkt, bis ihn jemand abholen und zum Depot zurückfahren kann. Oder vielleicht gibt es ja auch Riesenrandale in der ganzen Stadt, die tagelang andauert, und nichts läuft, wie es soll. Busse sind im Augenblick so was wie der Heilige Gral der Graffitiszene, weil sie der beste Weg sind, deinen Namen durch die ganze Stadt zu schicken und allen zu zeigen, wer du bist und was du kannst.
Mein Leben lang haben die Leute gesagt, Graffiti sind eine Bedrohung. Und vollkommen nutzlos. Das mit der Bedrohung verstehe ich noch, das stimmt nämlich. Aber nutzlos sind sie nicht. Für mich sind sie wie ein Videospiel. Sie haben mich gelehrt, Karten zu lesen, mich zurechtzufinden. Sie haben mich Politik gelehrt. Welche Gang wo herrscht, wem was gehört. Wo man hingehen kann. Wo man besser wegbleibt. Durch Graffiti hab ich gelernt, auf meinen Arsch aufzupassen. Aber auch, mutig zu sein. Als ich anfing, war ich bloß ein Toy, hatte keinen Schimmer, dafür jede Menge Schiss; aber wenn du immer weitermachst, wirst du mit der Zeit gut, du lernst, du passt dich schnell an. So wurde ich FREER. Na ja, und Ernesto hat auch dazu beigetragen.
Jetzt hab ich wieder sein zerschossenes Haus im Kopf. Ich kann irgendwie gar nicht glauben, dass er mit diesen Leuten, mit Big Fate unter einem Dach gelebt hat, ohne selbst drin zu sein. Jetzt wird mir klar, wie sehr er bestimmt da rauswollte, und das macht mich traurig. Seit wir mal in diesem Sushiladen waren, mit den ganzen Eisenbahngleisen vor der Tür, hat er nicht mehr aufgehört, davon zu quatschen. Der Typ hatte Pläne. Alle möglichen Pläne. Das war richtig inspirierend. Kam ich selber ins Träumen. Wollte mehr sein, als ich bin. Wollte FREER werden. Also hab ich mich angestrengt. Und jetzt bin ich es.
Jeder durchgeknallte Vandale braucht seine Ausrüstung. Auf meinem Beifahrersitz liegt mein Rucksack, darin meine Stiftemappe, in der sind sechs Mean Streaks, ein paar Stück Sandpapier, zwei Reißnadeln; und dann noch die Dosen, die ich gezockt habe, die Krylons und Testors. Sandpapier brauch ich bloß, wenn ich was Großes ritze, die Sprühdose erklärt sich von selbst, aber Mean Streaks, das sind die Farbstifte in L.A. Mit denen kann man auf alles schreiben, Auto, Glas, Metall, auf alles. Farbe in fester Form. Wenn es an der Spitze alle wird, dreht man hinten. Man kann sie auch ganz rausdrehen, längs aufschneiden und Farben mischen. In letzter Zeit bin ich ein bisschen psychedelisch geworden, darum schneide ich meine Mean Streaks auf und mische drei Farben, Gelb, Weiß und Blau. Und Reißnadeln sind so eine Art spitzer Bohrer, sehen aus wie Pfeilspitzen mit abgefeilten Seiten, mit denen kann man perfekt Sachen ritzen, vor allem Glas.
Ich checke noch einen Parkplatz, wieder nichts, und allmählich verliere ich den Mut, vielleicht finde ich gar nichts, worauf ich Ernesto Tribut zollen kann, und im Kopf gehe ich schon die möglichen Wände durch, falls ich beim nächsten Mal auch nichts finde.
Aber verdammt, ich will unbedingt einen Bus bomben. Das bringt Respekt. Die sind im Augenblick die härteste Herausforderung, nur was für Draufgänger, weil es so viele Möglichkeiten gibt, erwischt zu werden. Ständig Katz-und-Maus, ständig Adrenalin. Die Fahrer gucken dir dauernd auf die Finger. Die Zivilfahnder haben Turnschuhe an und so kleine Hüfttaschen, in denen Abzeichen und Ausweise und die ganze Polizeischeiße stecken.
Manchmal nehmen sich ganze Crews Busse vor und versuchen den gesamte Innenraum zu bomben, sogar die Decke, und einmal hab ich gehört, dass ein Ziviler versucht hat, einen Bus zu verschließen, und die hundert Typen drinnen mussten die Notausgänge aufstemmen und rennen, um nicht geschnappt zu werden. Das ist echt Wilder Westen da draußen. Ich sag’s euch.
Ich komme zum dritten Parkplatz, gleich hinter Tom’s Burgers an der Norton Avenue, nicht weit von Imperial und MLK, und im Vorbeifahren denke ich: Scheiße, wieder einer umsonst, und da spiegelt sich die Sonne in einer Windschutzscheibe und macht mich beinahe blind. Ganz schnell wende ich Glorias Auto, rein instinktiv, und stehe vor einem perfekten Bus, und ich meine wirklich perfekt.
Vielleicht ist er erst vor einer Minute hier abgestellt worden, vielleicht auch gestern. Wer weiß, und wen juckt’s? Er steht vor mir und ist unberührt. Unglaublich, noch nicht ein einziger Motherfucker hat ihn getaggt. Ich bin der Erste. Ich darf ihn entjungfern.
Schwer zu erklären, aber das ist so ein Glückstreffer, dass ich sofort Paranoia schiebe – ist das ’ne Falle oder was? Überwacht die Polizei das Ding? Versuchen die, Sprayer zu fangen? Ich vermute, die haben im Moment andere Sorgen.
Und dann denke ich: Selbst wenn es eine Falle ist, Scheiß drauf. Versuchen muss ich es wenigstens. Dieser Bus kann mein Vermächtnis werden. Wenn ich das richtig angehe, werden die Jungs noch jahrelang drüber reden. Jahrelang.
Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, dass ich das Auto auf dem Parkplatz der geschlossenen Bank gegenüber abgestellt habe, habe ich aber, denn da bin ich, und das Auto ist aus. Beim Aussteigen ziehe ich den Reißverschluss von meinem Rucksack auf und suche meine Stiftemappe. Ich bin so aufgeregt, dass mein Mund austrocknet und ich vor mich hin plappere, als ich den Kopfhörer aufsetze.
8 Ein Brummen in mir dringt bis in die Zehenspitzen, während ich zum vorderen Ende des Busses gehe. Ich drücke am Walkman auf Play. Im nächsten Augenblick reiten Wagner und seine Walküren mir direkt in die Ohren. Schon mit den ersten Streichertönen bin ich total aufgedreht. Ich bin voll drin.
Ich bin so aufgeregt, dass ich zittere, also hole ich Luft und versuche, mich so weit zu beruhigen, dass meine Hand nicht mehr zuckt. Als ich die Luft rauslasse, geht es gut.
Aber trotzdem, einen jungfräulichen Bus ganz für mich allein? Einen jungfräulichen GMC-Bus mit getönten Seitenscheiben, und ich werde ihn mit einem Mean Streak taggen, den ich gestern Abend erst aufgeschnitten habe?
Krass, Alter.
Als wäre ich gestorben und in den Himmel gekommen, und kaum trete ich durchs Himmelstor, fleht Marilyn Monroe mich an, Sex mit ihr zu haben.
Mein Herz schlägt immer noch ganz wild und heftig, haut mir von innen gegen die Rippen, als ich auf der Windschutzscheibe die Front malen will. Total neuer Marker, Mann. Ich zieh die Kappe ab, und das Ding riecht wie Glasreiniger, Mann. Voll wie Glasreiniger.
Wenn man die Windschutzscheibe sprayt, heißt das «’ne Front malen», da wird ja immer die Richtung angezeigt, in die der Bus fährt, oben über dem Kopf des Fahrers. Aber die Anzeige ist natürlich ausgeschaltet, weil der Bus ja nicht fährt. Und ich beschließe ganz spontan, erst mal zu ritzen.
Ich hole meine Reißnadel aus der Tasche und setze einen großen Tag genau dahin, wo das Gesicht des Fahrers wäre, so F.R.E.E.R! mit Punkten dazwischen und allem, aber das Irre ist: Ich kratze es spiegelverkehrt. Damit es alle Passagiere im Bus bei der Fahrt richtigrum lesen, und wer vor dem Bus fährt, kann es auch im Rückspiegel lesen!
Als ich damit fertig bin, warte ich einen Augenblick. Wenn Cops da sind, wenn Sirenen kommen, dann jetzt. Ich warte zehn Sekunden, dann noch mal zehn, und dann wird es Zeit zum Amoklaufen. Zeit, total auszuticken.
Ich nehme den Mean Streak, den ich weiß-gelb-blau aufgeladen habe, stelle mich auf die Stoßstange und schreibe so groß, wie ich kann. Übers ganze Glas, auf der linken Seite F-R-E, dann springe ich über den kleinen Steg, der die Scheibe in zwei Hälften teilt, und auf die andere Seite E-R.
Ich nehme mir extra noch ein paar Sekunden, um alle Ecken schön scharf zu ziehen. Die Beine vom letzten R mach ich so spitz, dass man sich daran schneiden kann. Danach mache ich noch so ein x durch die rechten Beine der Rs, wie es immer auf den Rezepten für die Apotheke steht, weil mein Style ist nämlich wie Medizin.
Und darunter tagge ich noch meinen Crew-Namen.
So viel Zeit habe ich noch nie gehabt. Noch nie.
Wenn ich früher mal eine Front gemalt habe, dann bloß so klein unten links in der Ecke der Scheibe, und das ging nur, wenn Fat John den Fahrer abgelenkt hat, und ich musste mich so rüberlehnen und konnte nur ganz uncool kritzeln. Aber das hier? Das ist ein verdammtes Meisterwerk! Das ist FREER, wie er sein soll.
Auf der linken Seite setze ich zwei große Outside-Tags, immer einen Buchstaben pro getönte Scheibe; Throw-ups, aber mit klaren Kanten und rechten Winkeln, so wie die Buchstaben auf einer Highschool-Jacke, und auf den Seitentüren probiere ich so senkrechte Schriften mit irren Loops, sieht aus, als würde ich Spaghetti malen mit den Streaks. Ich bin total vertieft, und erst als ich mit der Vordertür fertig bin, sehe ich, dass der Fahrer seine verfluchte Dienstjacke drin liegengelassen hat. So was ist in der Szene eine Mega-Trophäe, könnt ihr mir glauben. Er muss so schnell abgehauen sein, dass er sie vergessen hat.
Keine Ahnung, wie lange ich brauche, um die untere Scheibe aus der Tür zu treten, aber als sie ganz raus ist, zwänge ich mich durch und schnappe mir die Jacke. Ich werfe sie über, ist eine Nummer zu klein, aber scheißegal. Ich behalte sie an, das ist nämlich wie der Pelz des Bären, den man erlegt hat. So viel zählt das. Ich bin noch ganz drauf davon, als mir einfällt, wie irre das wäre, von innen in die Scheibe zu scratchen. Ich ritze also noch einen FREER in die Windschutzscheibe, gleich neben die Kasse, sodass ihn jeder sieht, der mitfährt, und dann schlängele ich mich wieder raus.
Auf die rechte Busseite haue ich einen schnellen One-Liner, ich drücke also die ganze Zeit auf die Düse und spraye eine ununterbrochene Linie mit der silbernen Krylon, ohne zwischen den Buchstaben abzusetzen. Ich schummle allerdings ein bisschen, weil ich so was noch nie gemacht habe, und das Ganze endet auch ein Stück vor dem Hinterrad, darum hänge ich hinten noch ein paar Loops und Pfeile dran, damit es aussieht, als ob es fliegt.
Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich ein ganzes Piece machen, aber es ist einfach zu gefährlich, hier draußen so rumzuhängen. Von jeder weiteren Sekunde krieg ich beinah einen Herzinfarkt. Ich hab das Gefühl, es könnten jederzeit Cops anrollen, es fühlt sich immer noch wie eine Falle an. Aber ich kann auch nicht aufhören. Das Beste hab ich mir für den Schluss aufgehoben.
Auf der Rückwand des Busses, die in Richtung Straße steht, steige ich auf die Stoßstange, mache eine Umriss-Skizze mit der silbernen Dose, und dann heißt es nur noch Fläche ausfüllen. Ein dicker Farbblock, sieht aus wie ein fetter silberner Spiegel auf der schwarzen Rückwand vom Bus, die so geriffelt ist wie ’ne Jalousie, und man muss so richtig von unten drunter sprayen, damit es überall fett aussieht.
Über meine silbernen Fill-ins lege ich dann noch schwarze Outlines und schreibe die Buchstaben E-R-N-I-E. Das kommt so krass, man kann die schwarz umrandeten silbernen Buchstaben im richtigen Winkel wahrscheinlich noch aus zweihundert Metern Entfernung lesen. Ich spraye sogar noch so kleine Risse und Sprünge oben an die Ränder, damit es irgendwie nach Felsen aussieht. In den unteren Arm des letzten E schreibe ich mit Schwarz R.I.P., Ruhe in Frieden. Dann stopfe ich alle Sachen wieder in meine Tasche und hole meine Wegwerfkamera raus.
Ich mache Fotos aus allen Richtungen. Vorn. Seite. Hinten. Andere Seite. Von weitem. Aus der Nähe. Als ich ganz nah rangehe, spüre ich einen Blick und sehe mich um.
Ungefähr zehn Meter entfernt steht ein Junge auf dem Parkplatz der Bank und beobachtet mich.
Ich nehme den Kopfhörer ab und drehe mich zu ihm um.
9 Er ist zwölf, vielleicht dreizehn. Hat aber dichte, dunkle Augenbrauen und große, irgendwie stumpfe Augen. Er trägt die Haare ganz zurückgegelt und ist angezogen wie ein kleiner Gangster, aber er holt mit offenem Mund Luft. Ein Mundatmer.
Ich sehe ihn an, aber er reagiert nicht, also frage ich: «Willst du ihn auch bomben?»
Ich meine den Bus. Aber er rührt sich nicht. Er starrt mich bloß an, also sage ich ihm, er soll rüberkommen, was er auch tut. Der Junge steht direkt neben mir und guckt mein ERNIE-Piece an. «Was ist das?», fragt er.
«Das ist eine Ehrung», sage ich.
«Für wen?»
Ich gucke die Buchstaben an, dann den Jungen, und ich denke: Kann er wirklich so blöd sein? Aber er kneift bloß die Augen zusammen, also denke ich, Scheiß drauf, erzähle ich ihm eben, was jeder sehen kann.
«Für einen Typen namens Ernie», sage ich. «Er ist vor ein paar Tagen gestorben.»
Darauf nickt der Junge und sagt weiter nichts, also hake ich nach. «Du interessierst dich gar nicht für Graffiti, oder?»
«Nee, eigentlich nicht», sagt er. «Aber ich hab die Knarre in deinem Bund gesehen, als du dran gearbeitet hast. Die interessiert mich. Wie viel?»
«Keine Ahnung», sage ich und mustere den Jungen und ziehe eine Summe aus dem Hut, die er sich bestimmt nicht leisten kann, «hundert Mäuse?»
«Ich hab fünfzig», sagt er und blättert einen Fünfziger von einem Bündel, das aus ein paar mehr Scheinen besteht.
«Schon gut», sage ich und meine Nein danke. «Vertickst du für jemanden? Wo hast du denn die Scheine her?»
Er sagt weder Ja noch Nein. Streckt mir einfach die Hand hin, diesmal mit hundert drin.
«Nimm es, bevor ich es mir anders überlege», sagt er.
Ich gucke ihn an, so: Willst du Ärger, kleiner Mann? Aber dann denke ich mir, scheiß drauf. Ich tausche die Knarre gegen Bares und stecke die Scheine ein. Der Junge sieht sich die Pistole an. Er dreht sie in den Händen, dann nimmt er sie in die Linke, richtet sie auf mich und spannt den Hahn.
Mir fällt das Lächeln aus dem Gesicht, nicht vor Angst, sondern vor allem, weil ich nicht fassen kann, dass dieser kleine Gangster so was mit mir abzieht.
«Gib mir die hundert wieder und alles, was du hast», sagt er. «Sofort.»
Ich hab jetzt 438 Dollar. Wenn dieser kleine Scheißer denkt, dass er seine hundert wiederkriegt, ist er dümmer, als er aussieht, und das ist wirklich saudumm.
«Du weißt schon, dass das Scheißding nicht geladen ist, oder?», sage ich.
Er guckt mich an, als ob ich ihn reinzulegen versuche.
«Guck nach», sage ich. «Ich warte so lange.»
Ich mache einen Schritt zurück, damit er in Ruhe nachsehen kann, ohne zu befürchten, dass ich sie ihm wieder wegnehme. Er klappt die Trommel raus und hält sie sich direkt vor die Nase. Ich sehe sein eines braunes Auge in all seiner Stumpfheit durch eine der leeren Kammern. Er blinzelt.
«Du musst Munition Kaliber zweiundzwanzig dafür kaufen», sage ich. «Passt nur das eine Kaliber rein. Ich würde ja sagen, geh einfach zum Gun Store und such in der Vierteldollar-Kiste nach den kleinen Kalibern, aber ich hab gehört, der ist abgebrannt.»
«Ja, ist er», sagt er. «Kaliber zweiundzwanzig also?»
«Ja», sage ich.
«Okay», sagt er.
In der Ferne höre ich einen Hubschrauber brummen.
Ich frage den Jungen: «Hast du schon einen Namen gekriegt oder was?»
Er sieht sich um. «Kann sein», sagt er.
Ich schätze, das heißt nein, und ich will ihm gerade einen vorschlagen, über den er mal nachdenken kann, als so eine Frau um die Ecke des Ärztezentrums gegenüber gestapft kommt. Sie hat einen megakurzen Rock an, und ihre Absätze sind total abgelaufen, ihre Haare sind schwarz, und sie ist älter als ich, so Mitte zwanzig und ziemlich kaputt. Selbst aus dieser Entfernung sehe ich die Herpesbläschen am Mund und das blaue Auge.
«Hey», sagt sie zu seinem Hinterkopf, «gehn wir oder was?»
Ich will gar nicht unhöflich sein, ich sage einfach, was mir in den Sinn kommt. «Ist das deine Mutter?»
«Du Idiot, halt besser die Fresse», sagt er und zieht die Oberlippe hoch. «Das ist meine fresa, Alter. Die Schlampe lutscht mir den Schwanz.»
Oh Gott, ich hoffe nicht, mit den ganzen Geschwüren am Mund. Aber ich hab nichts zu verlieren, also antworte ich: «Mann, halt du die Fresse. So jung, wie du bist, kriegst du noch nicht mal ’nen Ständer.»
Er zieht an seinem Gürtel und sagt: «Wenn du meinst, Alter.»
Seine fresa sagt auch was. «Kriegt er wohl. Und was für einen.»
Fresa heißt Erdbeere und ist Slang für die Sorte Frau, die Sex für Drogen bietet, meistens für Crack oder Koks. Mann, ich finde das alles so eklig, ich kann den Jungen bloß noch schief angrinsen, hauptsächlich, weil er so ein Großmaul ist. Der kleine Wichser ist tatsächlich Dealer und wahrscheinlich auch noch Zuhälter. Da hat er das Geld her, das ich jetzt in der Tasche habe. Sie hat hart dafür gearbeitet.
«Ich werde dich Watcher nennen», sage ich zu ihm, «weil du mich beobachtet hast. Behalt den Namen, wenn du willst. Oder lass es.»
Er sieht aus, als wollte er wieder frech werden, aber dann leckt er sich die Lippen, legt den Kopf in den Nacken und zeigt mit dem Kinn auf mich.
«Watcher», sagt er, als wollte er den Namen ausprobieren.
«Ja», sage ich. «Ist ’n guter. Pass auf dich auf.»
Ich drehe mich um und gehe.
Dabei höre ich noch, wie die fresa ihn um Erlaubnis bittet, sich bei Tom’s Burgers einen Erdnussbutter-Shake zu holen. Er fängt einen Satz mit «Halt die Fresse, Bitch …» an, als ich gerade ins Auto steige und so schnell wie möglich wegfahre.
Der Junge schaut mir nach, als ob er sich mein Gesicht einprägen will, als ob er sich überlegt hat, dass ich ihn beim Revolverkauf und mit meinen Sprüchen verarscht habe, und als ob er das niemals vergessen wird. Da muss ich doch lachen, Mann, weil, so einen Scheiß brauche ich echt nicht.
L.A. ist wirklich durchgeknallt. Total irre.
Als ich wieder auf der Straße und weit genug weg bin, sodass kein Cop mich mehr mit dem Bus in Verbindung bringen kann, hole ich tief Luft und denke über meinen Tag nach: Mein Plan ist nicht so gelaufen, wie ich wollte, am besten sollte ich wohl mit diesem Geld hier abhauen. Klingt vernünftig.
Ich glaube, bei jedem Typen, der je irgendwas auf die Straße gebracht hat, selbst wenn er viel erreicht hat, gibt es immer eine Lücke zwischen dem, was er tun wollte, und dem, was er wirklich geschafft hat, und das fühle ich jetzt auch, ich komme mir vor wie ein Versager, obwohl ich grad einen ganzen Bus zu meinem persönlichen Graffitispielplatz gemacht habe. Das Ding wird legendär werden, wenn die Leute es zu sehen kriegen. Und sie werden nach Ernie fragen. Werden wissen wollen, wer er war. Und einen Augenblick lang werde ich in ihren Gedanken leben. Aber ich werde nicht mehr da sein.
Die Leute werden eine Weile über mich reden. Fat John und Tortuga werden es sehen, aber ich beschließe trotzdem, dass ich ihnen Abzüge von den Fotos mit der Post schicke. Dann denke ich eine Weile über den Bus nach, was für ein irrer glücklicher Zufall das war.
Vielleicht ist das ein guter Abschied, aber vielleicht ist das Ende auch nicht fett genug, nicht überdreht genug. Wahrscheinlich werden ein paar Leute sagen, ich hätte gekniffen, aber egal. Für die andere Sache hab ich mich nie entschieden, für die Gangsternummer. Ich wollte immer bloß frei sein. Ich wollte die ganze Stadt abdecken, Hollywood und Downtown und Venice taggen, und überall ©s unter meinen Namen schreiben, so wie OILER und DCLINE, denn meine goldene Zeit ist jetzt, mit gerade mal siebzehn Jahren.
Ich dachte, ich hätte ein Jahr, in dem ich richtig zuschlagen könnte, und wenn man mich schnappt, wie viel könnte man mir wegen Graffiti schon aufbrummen? Wahrscheinlich ein paar hundert Stunden gemeinnützige Arbeit und ein paar Wochenenden beim Jugendarbeitsdienst, im schlimmsten Fall ein bisschen Jugendarrest, aber keinen richtigen Knast, nichts Ernstes, nichts fürs Strafregister. Das wäre meine Gelegenheit gewesen, den ganzen Weg zu gehen und berühmt zu werden, und jetzt ist sie weg, genau wie Ernesto.
Was die Leute beim Sprayen immer nicht verstehen: Es ist eine Möglichkeit, jemand zu werden und jemand zu sein, eine Möglichkeit, Leute anzupissen, auch eine Möglichkeit, ein Revier zu beanspruchen, aber außerdem ist es eine Möglichkeit zu erinnern. Und das hab ich jetzt für Ernesto getan, und für die Stadt, die ihn umgebracht hat. ERNIE R.I.P. steht hinten auf dem Bus. Sind bloß Buchstaben, klar, aber gleichzeitig sind sie auch noch viel mehr.
Sie sind ein Mittelfinger und ein Grabstein zugleich.
10 Nachdem ich mein einfaches Ticket nach Phoenix gekauft habe, zum Sparpreis von 49 Dollar an der Long Beach Greyhound Busstation, rufe ich Gloria an und sage ihr, wo sie ihr Auto abholen kann. Überraschung: Sie freut sich überhaupt nicht. Sie sagt, sie wird mich umbringen, aber das kann ich vertragen, denn das ist ein ganz anderes Umbringen als das der Monster in meiner Nachbarschaft, wenn ich ihnen wieder unter die Augen trete und sage, ich will nicht in die Gang.
Gloria sagt: «Ich musste meine Mutter anrufen, um dich zu finden, Jermy. Ich schwör dir –»
Ich muss sie unterbrechen.
«Ich musste es tun, Gloria», sage ich. «Es tut mir leid. Es tut mir wirklich richtig leid. Ich wollte dir ganz bestimmt nicht die Verabredung verderben, aber eines Tages werde ich dir erzählen, warum ich das gemacht habe, und du wirst es absolut verstehen.»
Sie ist so richtig sauer. Das höre ich an ihrer Stimme. «Das solltest du mir lieber jetzt gleich erzählen.»
«Ich rufe dich an», sage ich, «wenn ich sicher dort angekommen bin, wo ich hinfahre.»
«Und wo ist das?», fragt sie.
«Es ist besser, wenn du das nicht weißt», sage ich, «denn irgendwann wird dich jemand fragen, ob du es weißt, und ich will dich nicht anlügen, und ich will nicht, dass du diese Leute anlügen musst.»
Ich höre ein langes Ausatmen gegen die Sprechmuschel, es klingt wie krrcchh.
«Okay», sagt sie schließlich.
Im Hintergrund höre ich Klopfen, dann wird Gloria ganz still, ich höre sie in Pantoffeln zur Tür gehen, dann wird es noch stiller, bestimmt schaut sie durch den Spion. Sie hält den Atem an, und ich weiß, da stimmt was nicht.
«Was?», frage ich.
«Ähm», sagt sie, «ich muss auflegen.»
«Was ist denn?»
«Nicht was, sondern wer», sagt sie. «Ernestos kleine Schwester steht vor der Tür.»
Ich höre es wieder klopfen, diesmal viel näher. Zuerst denke ich, sie will womöglich zu mir, aber das ergibt überhaupt keinen Sinn.
«Augenblick, Jermy», sagt Gloria, und ich höre, wie Kleidung auf die Muschel gepresst wird, als ob sie den Hörer an den Bauch hält oder so.
Ganz schwach höre ich, wie sie die Tür entriegelt und mit leisem Knarren aufmacht.
«Hey», sagt Lupe, «du hast doch gesagt, du bist Krankenschwester, oder?»
Meine Cousine nickt anscheinend, weil Lupe gleich darauf sagt: «Weißt du, wie man gebrochene Knochen schient?»
Wieder muss meine Cousine nicken, denn als Nächstes fragt Lupe: «Was für Sachen brauchst du dafür?»
Meine Gedanken rasen, ich frage mich, was passiert ist, und mein erster klarer Gedanke ist: Der Schlägertrupp muss richtig zugelangt haben.
Ich kriege aber gar keine Gelegenheit, noch irgendwas zu bemerken, weil Gloria ganz schnell «Ich muss Schluss machen» sagt und ich bloß noch das Freizeichen im Ohr habe.
Zu dem sage ich trotzdem «Mach’s gut.»
Ich bin ein bisschen traurig, als ich den Hörer auflege. Ich muss Platz machen, weil ein Schwarzer hinter mir telefonieren muss. Er sieht aus, wie Martin Luther King aussehen würde, wenn er alt und fett geworden wäre.
Das Deprimierende ist, in Phoenix gibt es gar nichts. Keinen Spaß, keine Leute, nichts. Bloß meine Tante und wahrscheinlich wieder einen Restaurantjob; aber dann geht mir was auf.
In Arizona gibt es Freiheit, mehr Freiheit, als ich mir je erträumt habe.
Ich wette, da wird niemand auf der Straße einfach ausgecheckt, so: Hey, dieser Idiot sieht aus wie ’n Sprayer, aber ich seh keine Tattoos, also macht ihn fertig. Da draußen muss ich mir keine Gedanken über Gangs und Reviere machen, oder dass die Leute denken, ich würde kneifen, ich würde meiner Crew keine Ehre machen. Ich merke, wie sich der Dachs in meinem Bauch ein bisschen beruhigt.
Über den Lautsprecher wird mein Bus aufgerufen, ich gehe raus auf den Parkplatz und gebe dem Fahrer meine Reisetasche, er schiebt sie unten in das Gepäckfach, wo die Tür so aufgeht wie beim DeLorean in den Zurück-in-die-Zukunft-Filmen. Sie macht beim Hochgehen sogar das gleiche Geräusch. Irgendwie so schhmp. Meinen Rucksack behalte ich bei mir, steige in den Bus und setze mich in die Mitte. Drinnen riecht es nach altem Brot und Hundehaaren. Ich blättere in meinem letzten Blackbook rum.
Ich war noch nie da, aber was Graffiti angeht, ist Phoenix bestimmt Kinderkram …
Aber Moment mal.
Das ist ja vielleicht gar nicht schlecht. Vielleicht habe ich ja gerade deshalb alle Möglichkeiten, und FREER stirbt gar nicht, sondern entwickelt sich zu etwas ganz Neuem und Starkem.
Ich meine, ich könnte einen völlig neuen und fortgeschrittenen Style einführen. Ich könnte der Erste sein. Die Sache gefällt mir langsam. Sogar sehr. Ich könnte sozusagen eine Außenstelle des L.A.-Style da draußen aufmachen. Ich könnte wie diese Sache aus dem Chemieunterricht sein, wie heißt das noch? Ein Katalysator. So ein Beschleuniger. Yeah. Das könnte ich für die Szene in Phoenix werden, sie ein paar Gänge raufschalten. Und außerdem, was könnte FREER sein als abzuhauen, wann man will?
Nichts ist freier, so sieht’s aus.
Im Bus kriegt man den Eindruck, als wär ich nicht der Einzige, der abhaut. Jede Menge Mexikaner und andere Mittelamerikaner hier drin. Mit Kindern dabei. Kann ich total verstehen. Echt, wenn ich Kinder hätte, würde ich sie sofort in diesen Bus setzen. Ist ziemlich klar, wieso man jetzt nicht in L.A. sein will, bei dem ganzen Ballern und Plündern.
Scheiße, Mann, bestimmt werde ich keine zwölfjährigen Dealer-Zuhälter vermissen, die mir meine Knarre abkaufen und dann versuchen, mir das Geld gleich wieder abzuknöpfen.
Und Big Fate werde ich auch nicht vermissen, der mir ein Ultimatum nach dem anderen stellt.
Und den Schlägertrupp auch nicht, der mich auf der Straße abgreift und mir verfickte Maschinengewehre ins Gesicht hält.
L.A. ist echt total irre, Mann. Aber trotzdem: L.A. werde ich vermissen.
Aber wer weiß? Vielleicht haue ich gerade im richtigen Moment ab. Bevor der große Knall kommt und alles ins Meer rutscht.
Ich drücke an meinem Walkman auf Play, aber der Schalter bleibt nicht unten. Manchmal zickt er ein bisschen. Der Knopf ist schwarz und so breit wie meine Daumenspitze. Ich drücke noch mal und halte ihn ein bisschen unten, und schließlich fangen die Spulen an zu drehen, und die Musik geht los.
Streicher setzen ein, als der Fahrer vom Parkplatz fährt, vor der Windschutzscheibe geht die Sonne unter, und es ist irgendwie magisch, dass wir vom Long Beach Boulevard auf den Pacific Coast Highway einbiegen, während Nancy Sinatras Stimme mir durch die orange Dämmerung ins Ohr singt, dass ich nur zweimal lebe. Das beruhigt mich ziemlich, und ich sitze bloß da und betrachte die Gebäude, die am Fenster vorbeiziehen, als wir durch die Stadt fahren, über die Reste vom Los Angeles River, und dann runter auf den Freeway 710 Richtung Norden.
Nach kurzer Zeit kommen wir an Lynwood vorbei, ich sehe es vorüberziehen und verschwinden und fühle mich gar nicht schlecht dabei. Es kommt mir vor wie eine Kiste mit allem, was mich belastet hat, was schwer war, und das bleibt alles hier, bleibt zurück, und ich werde dadurch leicht wie eine Feder, leicht und frei, zu neuen Orten zu schweben.
Frei, überallhin zu gehen.
Frei, alles zu sein, was ich will.