Gloria Rubio,
Krankenschwester

1. MAI 1992

 

3:17 UHR

1 Seit die Unruhen angefangen haben, habe ich nicht mehr geschlafen. Ich kriege Ernesto Veras Leiche nicht aus dem Kopf. So als wäre sie mir für immer ins Hirn gebrannt. Seinen Namen, seinen Gesichtsausdruck – ich kann sie nicht abschütteln, dabei habe ich mehr Tote gesehen, als die meisten Menschen sehen sollten. Zum Teil habe ich es mir selbst zuzuschreiben. Ist mein Beruf. Aber zum Teil ist es auch mein Viertel.

Aber Ernesto war was anderes. Was Persönliches. Er hat mich nicht mal erkannt, als ich ihm helfen wollte, doch ich habe ihn erkannt, obwohl er so zugerichtet war. Ich wusste, wir sind zusammen zur Lynwood Highschool gegangen, wir haben öfter was zusammen gemacht im ersten Jahr, und er war freundlich. Im Musikraum haben wir ein bisschen geknutscht, aber daraus wurde nie mehr. Er hatte keine Ahnung, weil ich es ihm nie erzählt habe, aber er war der erste Junge, mit dem ich so was gemacht habe.

Jahre später habe ich ihn manchmal am Imbisswagen von Tacos El Unico gesehen, oder am Stand an der Atlantic Ecke Rosecrans, und er hat meiner abuela immer einen Taco mehr gegeben, als sie bestellt hat, mit extra Zwiebeln, genauso, wie meine Großmutter es mochte, er hat immer daran gedacht. Typisch Ernesto. Er erinnerte sich an Kleinigkeiten. Etwas später habe ich von meinem Cousin Termite gehört, dass Ernesto diese zusätzlichen Tacos von seinem Lohn bezahlen musste. Davon hat er uns nie ein Wort gesagt. Er hat sich nie beschwert. Das war wohl auch typisch Ernesto.

Dann komme ich eines Abends nach Hause, und Ernesto liegt flach in meiner Hintergasse, und nichts, was ich in der Schwesternschule gelernt habe, kann ihn retten. Er hört unter meinen Händen auf zu atmen, und dann bleibt er die ganze Nacht da liegen, bis weit in den nächsten Tag. Er bleibt da und versperrt mir den Weg, den ich eigentlich zur Arbeit nehme, und allmählich interessieren sich Vögel und Insekten ein bisschen zu viel für ihn. Also rief ich fünfmal die Notrufnummer an und kam nur einmal durch, aber dann wurde ich in die Warteschleife geschaltet, und niemand ging mehr ran. Dann rief ich den Freund meiner Tante an, der bei der Gerichtsmedizin arbeitet, und der meinte, er kann das gut nachfühlen und so, aber auf keinen Fall kommt er hierher, wo doch alles so gefährlich ist überall, und außerdem hat er überhaupt niemanden zur Verfügung. Seine Leute sind überall in der Stadt verstreut und schon Stunden zurück hinter ihren Verpflichtungen, sogar in den sicheren Bezirken.

Das war der Auslöser. Ehe ich es richtig gemerkt habe, schrie ich ihn an: Ob er sich eigentlich vorstellen könnte, wie es mir geht, wo ich hier mittendrin leben muss, wo ich die Leiche des Mannes, der der erste war, den ich je geküsst habe, länger als einen Tag vor meiner Garage liegen habe? Wusste er eigentlich, dass ich die ganze Zeit alle Fenster meines Hauses geschlossen hatte, aber es jetzt trotzdem riechen konnte, und hatte er eine Ahnung, wie schrecklich das war, wenn man nicht weg konnte?

Danach wartete ich gar nicht erst ab, ob er noch was zu sagen hatte, sondern legte auf und rief einen privaten Rettungsdienst an, den ich übers Krankenhaus kannte, und flehte sie an, herzukommen, aber sie hörten mir erst zu, als ich sagte, dass ich die Fahrer extra bezahle. Und ich musste auch noch lügen. Ich hab ihnen erzählt, ich bin seine Schwester, und dass wir, bitte, bitte, nur wollten, dass er anständig behandelt wird. Den Typ am Telefon kannte ich nicht, aber er sagte, er weiß einen Ort, wo man die Leiche hinbringen kann, und dann fing er selbst an, eine Lüge zu basteln: Er müsste den Polizisten erzählen, dass es keinen Tatort gibt, dass ihnen die Leiche praktisch vor die Füße gefallen ist, als sie gerade eine Tour fuhren, und dann hat die Familie sie angefleht, und ich weiß noch, wie er sagte: «Ach, ich weiß auch nicht, mir wird schon was einfallen. Aber Sie müssen bar bezahlen.»

Ich sah zu, wie zwei Kerle Ernesto aufhoben und hinten in den Wagen schoben – für 228 Dollar. Das sind elf Zwanziger, ein Fünfer und drei Ein-Dollar-Noten. Seit die Unruhen angefangen haben, sind alle Banken geschlossen, ich konnte ihnen also bloß geben, was ich im Haus hatte, jeden einzelnen Cent, den ich für schlechte Zeiten aufgehoben habe. Von dem Geld wollte ich mir einen neuen Fernseher kaufen, aber das kommt mir jetzt so dumm vor. Ich will das alles überhaupt nicht mehr sehen, was in der Stadt los ist. Ich will keine Nachrichten sehen. Ich will bloß meine Ruhe.

Eins ist mir beim Abholen besonders im Gedächtnis geblieben: dass sie ihm nicht mal das Hemd seiner Schwester vom Gesicht genommen haben, das schwarzweiße, mit dem sie es extra zugedeckt hat. Sie haben einfach ein weißes Laken über ihn gebreitet, von Kopf bis Fuß, und versucht, am Leichnam so wenig wie möglich zu verändern. Falls irgendwelche Spuren oder Beweismittel daran zu finden sind, sagten sie. Danach schaute ich zu, wie sie die Türen zuklappten und mit Ernesto wegfuhren. Irgendwer musste es tun. Ich bin lange genug Krankenschwester und weiß, dass nicht jedem geholfen werden kann. Manchmal muss man einfach nur da sein, Zeuge sein, damit sie nicht allein hinübergehen müssen. Ich hoffe, das konnte ich für ihn tun, aber ich weiß es nicht. Ich habe immer noch das Gefühl, versagt zu haben. Nachdem er weg war, stand ich noch lange in der Gasse. Irgendwann hab ich mich dann auf den Weg zur Arbeit gemacht, und seitdem bin ich gar nicht erst wieder nach Hause.

Ich bin also immer noch im Krankenhaus, in der Uniklinik Harbor-UCLA. Ich kann mich nicht überwinden, nach Hause zu gehen, also bleibe ich einfach hier und denke über Ernesto nach und mache mir Sorgen um meinen Bruder. Er ist mit allen anderen da draußen und raubt und plündert, das weiß ich einfach. Er und seine Partycrew, wie er sie nennt. Ich wusste nicht mal, was das sein soll, darum habe ich ihn mal gebeten, es mir zu erklären, aber das hat er nicht getan. Er hat mir bloß erzählt, wie ein paar von ihnen mal die Schule geschwänzt und eine Schwänzparty gefeiert haben. So eine Veranstaltung, wo alle am helllichten Tage bei irgendwem im Garten Drogen nehmen und Sex haben. Er hörte gar nicht mehr davon auf, wie toll das war. Gangsta-Woodstock nannte er das. Ich wünschte, er hätte Witze gemacht. Aurelio macht alles Mögliche, aber lügen tut er nicht.

Stacy sieht mich wohl einfach so im Gang rumstehen, also kommt sie aus dem Schwesternzimmer zu mir. «Alles okay, Lady?»

«War ein langer Tag», sage ich automatisch.

Das heißt normalerweise Frag nicht oder Er ist noch nicht vorbei. Das ist wie so ein Code zwischen mir und den anderen Schwestern. Wir hatten heute Ausgangssperre im ganzen Stadtgebiet. Fängt bei Sonnenuntergang an, hieß es in den Nachrichten, aber hier im Krankenhaus hieß das bloß, dass aus dem unablässigen Strom von Notaufnahmen eine Reihe von Springfluten wurde, die, die jetzt reinkommen, kommen in Wellen. Jetzt ist gerade mal Ruhe, aber es wird bald wieder losgehen.

«Sehr langer Tag», antwortet Stacy, lächelt und geht, aber dabei zwinkert sie mir zu und zeigt über ihr Klemmbrett auf einen Mann, der den Flur raufkommt.

Ich folge ihrem Zeigefinger bis hin zu ihm, den alle als Mr. Soundso kennen, und genau da beschließt mein Herz zu stolpern, als ob es sich beim Seilspringen verheddert hat.

Das ist natürlich nicht sein richtiger Name. Nur ich und die anderen Schwestern nennen ihn so. Und das kam, weil Filipina Maria – wir haben zwei Marias, Abulog und Zaragoza –, also, Maria Abulog sah ihn als Erste vor sechzehn Monaten, und er hat ihr sofort gefallen, obwohl sie verheiratet ist und drei Kinder hat, aber ich hatte den Eindruck, sie fand es wichtig, ihn allen alleinstehenden Krankenschwestern zu zeigen, denn so sind Schwestern: Entweder wollen sie dich verkuppeln oder runtermachen. Nach meiner Erfahrung gibt es nicht viel dazwischen.

Jedenfalls schaute Filipina Maria auf Mr. Soundsos Namensschild, und da sah sie einen Nachnamen mit S, den sie auf keinen Fall aussprechen konnte, also nannte sie ihn einfach Mr. Soundso, und das machten wir dann eben alle. Und es dauerte nicht lange, da hielten wir alle die Augen offen nach dem großen Feuerwehrmann, weit über eins achtzig, mit dem schwarzen Schnurrbart und dem Grübchen am Kinn, mit den braunen Augen und den schönen Brauen, so als würde er die zupfen lassen, aber ich weiß, das macht er nicht. Viele Mädchen haben versucht, mit ihm zu flirten, aber er scheint nicht interessiert. Jedenfalls war er nicht an Stacy interessiert, und die ist so richtig blond und hat mal Volleyball gespielt, ich hab keine Ahnung, was sein Typ ist. Die älteren Schwestern in der Station sagen alle, er mag mich, aber das glaube ich ihnen nicht. Vielleicht bin ich zu klein für ihn. Vielleicht auch zu braun.

Hier ist, was ich über Mr. Soundso weiß: Mit Vornamen heißt er Anthony, er ist sechsunddreißig, aber seinen Geburtstag weiß ich nicht, was schade ist, denn dann könnte ich sein Horoskop herausfinden, er hat eine Narbe auf der linken Wange, die wie ein kleines v aussieht, aber ich weiß nicht, wo er sie herhat, und unter der Narbe ist ein Grübchen, wenn er lächelt, aber auf der rechten Seite ist keins, er wohnt in San Pedro und ist auch dort aufgewachsen, seine Familie stammt aus Kroatien, das weiß ich, weil Teresa aus der Rechnungsstelle auch aus Pedro kommt und seine Familie kennt, weil es da bloß eine einzige öffentliche Highschool gibt und eine ganz kleine katholische, sodass jeder jeden kennt, und das ist gut so, denn daher weiß Teresa auch, dass seine Familie katholisch ist, was meine Mutter sicher sehr freuen wird, ich meine, falls sie ihn mal kennenlernen sollte oder so. Vielleicht sollte ich noch klarstellen, dass ich überhaupt nicht verrückt nach ihm bin. Ich mag ihn bloß ein kleines bisschen.

Okay, vielleicht auch ein bisschen mehr. Und das ist irgendwie komisch, weil ich mich normalerweise bloß um meine Arbeit kümmere und sonst nichts, aber bei ihm kann ich nicht anders. Zum Beispiel am Ende einer Unterhaltung, kurz bevor er losmuss, dann neigt er immer so ein wenig den Kopf, als würde er sich verbeugen, als würden unsere Gespräche ihm etwas bedeuten. Und seine Hände haben keine normale Größe. Die sind so riesig, dass er einen damit hochheben könnte, solche Hände, wie sie auf den Titelbildern der albernen Romanzen, die Tia Luz immer liest, die Frauen umfassen, und das Beste ist, an seiner linken Hand steckt kein Ring. Ich habe Teresa gefragt, und sie hat mir erzählt, er war noch nie verheiratet, bloß einmal verlobt, aber daraus ist nichts geworden. Ich versuche, ihn nicht anzustarren, als er mich entdeckt und auf mich zukommt.

Als ich noch klein war, hatte ich Ballettunterricht, weil meine Mutter meinte, ich brauche ein bisschen Kultur, aber heute kann ich mich bloß noch daran erinnern, wie schwindelig und innerlich verknotet ich mich nach den ganzen Pirouetten immer gefühlt hab. Und so fühle ich mich auch, als Mr. Soundso näher kommt.

Ich habe ihn schon ein paarmal reinkommen sehen, immer mit anderen Feuerwehrleuten. Er ist der Fahrer. Ich glaube, sie nennen ihn Maschinist, so wie auf einem Schiff oder früher in den Lokomotiven. Er bringt seine Leute zum Brandherd, und wenn jemand verletzt wird, fährt er sie her. Sein Blick sagt mir, wieso er hier ist, und mein Herz wird schwer.

«Guten Morgen, Schwester Gloria», sagt er ganz leise.

Das macht er immer, spricht mich mit Schwester und meinem Vornamen an. Ich weiß gar nicht mehr, wie oder wieso das angefangen hat. Aber es gefällt mir. Das ist jetzt unser Spruch, unsere persönliche Begrüßung, darum antworte ich immer mit «Guten Morgen, Feuerwehrmann Anthony».

Aber heute lächelt er mich nicht an, ich kriege sein Grübchen nicht zu sehen, nicht so wie sonst. Er hält den Kopf gesenkt. Ich weiß, das liegt daran, was draußen alles los ist, aber selbst wenn es schlimm läuft – und in unseren Berufen und bei den Gelegenheiten, wo wir uns sehen, läuft immer irgendwas schlimm –, hat er ein Lächeln für mich, wenn auch nur ein kleines, oder einen düsteren Scherz über irgendwas, was er gesehen oder gehört hat. Normalerweise versucht er, mich zum Lächeln zu bringen, aber heute nicht. Heute steckt er die Hände in die Taschen.

Daher weiß ich, dass ich das Gespräch anfangen muss, also sage ich: «Nach allem, was so reinkommt, sieht es da draußen nicht gut aus. Was ist da los?»

Ich berühre sachte seinen Oberarm und lasse die Hand schnell wieder fallen. Er soll wissen, dass er mir was bedeutet, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Mein Herz flattert, als würde es sich erinnern, wie es über das Springseil gestolpert ist, und jetzt gut aufpassen. Ich sehe ihn von oben bis unten an, um sicherzugehen, dass er nicht verletzt ist, nicht mal ein bisschen.

«Äh», mehr sagt er nicht.

Besser, ich dränge ihn nicht. Im Krankenhaus kriegt man das meiste mit. Man sieht einfach viel. Gestern Nacht haben wir, soweit ich weiß, elf Feuerwehrmänner behandelt – und ihr könnt mir glauben, ich habe jeden einzelnen Namen überprüft, als sie eingeliefert wurden. Einer war angeschossen worden, aber er hat die OP überstanden und könnte durchkommen. Vielleicht gab es noch mehr. Ich habe den Eindruck, am ersten Tag haben die Feuerwehrleute es am schlimmsten abgekriegt. Alles war so total chaotisch, es gab keine Polizisten, die sie hätten beschützen können, also wurde auf sie geschossen. Jetzt scheint es besser zu werden, aber es ist immer noch nicht gut. Ich habe sogar gehört, dass Heckenschützen auf die Feuerwachen 9, 16 und 41 geschossen haben. Sobald die Löschzüge aus den Wachen gefahren waren, wurde auf sie geschossen!

Wenn ich mich also komisch aufführe oder nervös bin, dann müsst ihr das entschuldigen, denn ich wusste schließlich nicht, ob Mr. Soundso unversehrt bleiben und ob ich ihn wiedersehen würde, und Frauen machen manchmal komische Sachen, wenn sie nicht wissen, ob sie jemanden wiedersehen werden, der vielleicht mal jemand Besonderes für sie sein könnte. Das sagt jedenfalls meine abuela, und die ist Expertin für alles Mögliche, vor allem fürs Frausein.

«Sorgen Sie bloß gut für ihn», sagt Mr. Soundso schließlich.

Ich weiß nicht, über wen genau er redet, aber ich weiß, dass wir jetzt einen weiteren Feuerwehrmann zu pflegen haben. Ich werde Stacy später danach fragen, wenn er wieder weg ist. In dem Moment neigt Mr. Soundso den Kopf ein wenig, und noch ehe er zum Ende des Flurs sieht, wo er hergekommen ist – weil das macht er immer nach seiner kleinen Verbeugung –, sage ich: «Sie müssen wieder los.»

Er schaut mich an, so als ob er nicht sicher ist, woher ich das weiß, aber ich lächele nur ein wenig und hoffe, er wird das Lächeln erwidern. Das tut er nicht.

«Sehen Sie sich vor da draußen», sage ich.

Er nickt und geht. Er dreht sich nicht nach mir um. Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen, aber es brennt ein bisschen in der Brust. Als er ein paar Schritte weg ist, sehe ich getrocknetes Blut an seinem Nacken, und sofort will ich die Arme ausstrecken und ihn festhalten, ihn untersuchen, ganz sicher sein, dass er unverletzt ist, dass es nicht sein Blut ist, aber ich weiß, das kann ich nicht – das wäre einfach nur seltsam – also seufze ich bloß so verzweifelt und verstört und besorgt und gehe in die andere Richtung.

 

 

2 Um mich abzulenken, gehe ich dahin, wo ich eigentlich hinsollte, ein Krankenzimmer in der neurologischen Intensiv, um postoperativ die Vitalfunktionen zu prüfen. Dieser Patient ist mit einem Einschussloch in der linken Wange und unglaublichen Drogenwerten eingeliefert worden. Genauso unglaublich: Er wurde von schräg hinten angeschossen, die Kugel ist also durch die Wange reingegangen und durch den offenen Mund wieder raus, es gab also keine Austrittswunde, aber als er eingeliefert wurde, zeigte er gar keine Reaktionen, und niemand konnte sich erklären, wieso. Bis wir dann eine MRT gemacht und einen Hirntumor entdeckt haben.

«Ein Wunder.» So hatte es der behandelnde Arzt genannt. «Dieser Hurensohn hat einen golfballgroßen Tumor im Frontallappen und genug Kokain im Leib, um ein Pferd umzubringen, aber trotzdem läuft er noch draußen rum? Hätte man ihm nicht in den Kopf geschossen, hätten wir den Tumor womöglich nie gefunden. Gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, Schwester Rubio …»

Ich weiß nicht, was dieser letzte Satz bedeuten soll, aber ich weiß, dass seine Operation perfekt verlaufen ist. Der Tumor lag oberflächlich, man konnte ihn vollständig von gesundem Gewebe umgeben entnehmen, und jetzt belegt der Patient ein Bett in meiner Station, und ich habe den Auftrag, die Böse zu spielen und ihn so bald wie möglich rauszuschmeißen, weil wir bereits aufgenommene Patienten auf Foyersesseln zwischenlagern müssen. Unter normalen Umständen würde er mindestens zwei oder drei Tage hierbleiben, aber Unruhen und Kriegsrecht sind keine normalen Umstände.

Als ich den Wandschirm beiseiteschiebe, ist er wach. Er hat Verbandmull und Klebestreifen im Gesicht, die ganze Wange ist bedeckt, und frische Stiche mit dunkelrotem Schorf auf der Schädeldecke. Auf seinem Pflegebericht stand zuerst John Doe, weil wir seinen Namen nicht wussten, aber inzwischen hat das jemand durchgestrichen und Antonio Delgado hingeschrieben. Er sieht ganz süß aus, auf so eine kaputte Art, jedenfalls solange er den Mund nicht aufmacht. Manche Mädchen stehen auf diesen Typ Mann. Ich allerdings nicht. Nicht mehr.

«Schwester, hi», sagt er und ruiniert damit schon alles. «Hi, Schwester. Ich heiße Antonio. Annnnn-to-ni-o. Aber wer mich kennt, nennt mich Lil Creeper.»

Darüber kichert er. Lacht sich richtig kaputt. Könnte man als gutes Zeichen werten – immerhin funktioniert seine Morphium-Infusion.

Der Bericht aus der Pathologie sagt, es war ein Astrozytom von geringer Ausdehnung, teuflisch bösartig. Aber wir haben es sehr früh erwischt, das ist gut für ihn, denn sonst wäre er in zwölf Monaten oder früher tot gewesen. In gewisser Weise hat ihm der Schuss in den Kopf also das Leben gerettet. Unfassbar. Wieso haben auf dieser Welt immer die größten Kakerlaken das meiste Glück und nie die Guten wie Ernesto? Das werde ich nie verstehen.

Zuerst messe ich seinen Hirndruck, der angesichts seiner Lage normal ist, dann den Blutdruck. 139/90, ein bisschen hoch, aber das ist gerade gut, weil dann auch durch die Schwellung Nährstoffe ins Gehirn gedrückt werden können.

«Mein Herz könnte schneller schlagen, weil Sie in der Nähe sind. Vielleicht sollten Sie das noch mal checken?»

Ja sicher. Ich lasse die Luft aus der Manschette, ziehe sie ab und leuchte ihm mit der Lampe in die Augen. Seine Pupillen reagieren, verkleinern sich vorschriftsmäßig und symmetrisch. Wenn eine von beiden unterschiedlich reagiert, könnte es ein Problem sein, aber im Augenblick geht es ihm so gut, dass ich ihn in die Pflegeabteilung entlassen kann, wenn sein Zustand vierundzwanzig Stunden stabil bleibt, und nach meiner Rechnung wird das in zehn Stunden der Fall sein. Das notiere ich gerade, als mich ein leichter Schwindel packt. Ich kenne diesen Patienten.

Das ist der kleine Junkie, der nach Mrs. Nantakarns fester Überzeugung letztes Jahr ohne jeden Grund gleich alle ihre guten Porzellanteller geklaut hat, denn man kann nicht viel Geld damit machen, sie musste sie dann eine Woche später auf der Tauschbörse zurückkaufen. Er war im gleichen Jahrgang wie mein Bruder. Ich bin sicher, die beiden kennen sich. Aber natürlich muss ich das nicht ansprechen.

«Sieh mal an», sagt Antonio. Er kneift die Augen zusammen, als ob er nachdenkt. «Ich kenne Sie.»

Na toll. Richtig toll. Ich merke schon, wie die Seite von mir, die ich bei der Arbeit so gut verberge, ans Licht kommt. Die bloße Nähe dieses Idioten lässt meine Herkunft hervortreten. Anstatt zu warten, bis er unsere Verbindung aufgedröselt hat, gehe ich lieber in die Offensive. «Ach ja? Tja, ich kenne dich auch. Wieso hast du letztes Jahr die ganzen schönen Teller geklaut?»

Er grinst, als ob ich ihn erwischt habe, aber er ist aalglatt. Er schlüpft sofort aus der Falle.

«Ich würde niemals was stehlen, Sleepys beste große Schwester. Nie im Leben. Wenn du so was sagst, beleidigst du mich.»

Mein Blick sagt: Ich durchschaue dich, also heb dir dein Gequatsche für irgendeine andere Tussi auf, die keine Ahnung hat.

Das merkt er, und seine Miene verändert sich, wird beinahe traurig und verletzlich, was mich eine Sekunde zögern lässt, bis er sagt: «Okay, vielleicht würde ich eine Sache stehlen.»

Das ist eine Falle. Ich kann schon meilenweit sehen, was er vorhat. Wenn ihr in meinem Viertel aufgewachsen wärt und genug Fehler mit schrecklichen Typen gemacht hättet, könntet ihr das auch. War nicht leicht, aber irgendwie musste ich es lernen. Eins hatten die ganzen Kerle gemeinsam, die mich schlecht behandelt haben: Sie konnten alle richtig gut lügen, und ich war so dumm, all ihre Lügen zu schlucken. Bei diesem Kleinen stemme ich also bloß eine Hand in die Hüfte, so: Na los, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Denn für diese Sorte habe ich tatsächlich keine Zeit, werde ich auch nie wieder.

Er macht eine viel zu lange Pause, weil er sich für so einen Charmeur hält, und ich will mich schon abwenden, da sagt er: «Ich würde dein Herz stehlen.»

Mein Lachen kommt so schnell und klingt so hoch, dass es mich selbst ein bisschen überrascht. Fast wie ein Bellen. Dieser kleine Junge könnte mein Herz nicht mal kriegen, wenn er es mir aus dem Leib schneiden würde. Es hängt irgendwie schon an jemand anderem, ausnahmsweise mal einem Guten, nur dass der Betreffende das noch nicht weiß, und wenn er es wüsste, wäre es ihm vielleicht auch egal, aber ich hoffe nicht. Ich hoffe nicht.

An dieser Stelle muss ich wohl einen Moment still gewesen sein, der Bengel – denn mehr ist er nicht, gerade mal neunzehn – missversteht mich jedenfalls völlig. Er meint, es ist seinetwegen!

«Ach komm», sagt Antonio ganz selbstbewusst. «Ich führe dich aus, zu Sam’s und so! Kann ich mir leisten. Du darfst sogar Steak mit Shrimps bestellen, so einer bin ich nämlich. Ich würde dich gut behandeln.»

Als ob dieser Idiot überhaupt wüsste, wie man ein Mädchen richtig behandelt. Wäre ich nie aus meiner Straße rausgekommen, würde das vielleicht gar nicht übel klingen; bin ich aber, tut es also nicht. Außerdem will kein vernünftiges Mädchen mit Selbstachtung zu Sam’s eingeladen werden. Der Laden nennt sich ein Adult Cabaret, aber in Wirklichkeit ist das so ein schmieriger Stripclub mit Pizza und Frittierfutter, wo Ghettomädchen ihre sehr bald zuckerkranken Hintern schwenken. Da schmeißen die Gangster und Möchtegern-Gangster mit Geld um sich, als wären sie schon wer, sagt mein Bruder jedenfalls.

«Nein danke», sage ich.

«Dann eben nicht», sagt er, «aber du verpasst was!»

Ich lasse seinen Pflegebericht wieder in die Plastikhülle gleiten, und als er merkt, bei mir kann er nicht landen, bringt er mir ein Ständchen und singt «Rock Around the Clock», nur singt er nicht clock, sondern ein anderes Wort, das meine abuela mir auszusprechen verboten hat.

Wenn man so viele miese Typen getroffen hat wie ich, dann weiß man die guten umso mehr zu schätzen und weiß, wie selten sie sind. Manchmal sieht man so wenige von ihnen, dass man sich denkt: Vielleicht werde ich im Leben tatsächlich nur vier oder fünf kennenlernen und nur mit zweien zusammen sein dürfen. Ich hatte meine Chance mit Ernesto, und der war ein Guter – nicht bloß gut, sondern auch gut zu mir –, und das in einem Alter, wo eigentlich jeder ein Idiot ist. Vielleicht kann Mr. Soundso mein nächster Guter werden. Das hoffe ich sehr, denn das ist schon ein ziemlicher Abstand zwischen den guten Männern, ein zu großer.

Ich versuche, eine Haarsträhne wegzupusten, die an meiner Wange klebt, aber es nützt nichts. Sie bleibt hängen. Ich schaue auf die Uhr. Ich bin jetzt seit zweiundzwanzig, nein, dreiundzwanzig Stunden wach und mir bricht allmählich dieser müde Schweiß aus, der davon kommt, dass man zu lange auf den Beinen und immer am selben Ort eingesperrt ist. Also streife ich mir die Haare mit den Zeigefingern aus der Stirn und binde sie mit einem kleinen schwarzen Haarband zusammen, das ich für solche Fälle immer am Handgelenk habe. Ich mache mir einen hohen Pferdeschwanz und ziehe den dann noch einmal halb durch, sodass ich eine Art Schlaufe oben auf dem Kopf habe.

Nach ein paar Schritten im Flur beschließe ich, kurz zu beten. Ich schaue mich rasch um, ob niemand mit einer Trage oder einem Rollstuhl angeschoben kommt, dann bleibe ich stehen und neige den Kopf. Ich nehme mein silbernes Kreuz, das ich um den Hals trage, in die Finger. Es ist ein komisches Gefühl, «mein Kreuz» zu sagen. Meine abuela hat es mir gegeben, bevor sie gestorben ist. Ich habe nur ein paar Sachen von ihr, ein paar Kleider, weil die nur mir passen – alle mit viel Spitze und traditionell lang und blau, weil sie nie eine andere Farbe getragen hat –, aber das hier ist der einzige Schmuck, den ich von ihr geerbt habe. Meine kleinen Schwestern und Cousinen haben den Türkisschmuck, die Ringe und Halsbänder bekommen. Aber dieses Kreuz war das Lieblingsstück meiner Großmutter, darum ist es so besonders. Ich bete nicht immer mit diesem Kreuz, nur wenn es wirklich nötig ist.

Ich höre die Neonröhren über mir sirren und Schuhe in der Ferne quietschen, als ich mein kleines stummes Gebet spreche, dass mein Bruder nicht so enden möge wie Ernesto Vera in der Gasse hinter unserem Haus, und dann bete ich für Ernestos Seele, weil er so lange da draußen gelegen hat, länger als irgendwer irgendwo liegen sollte. Und weil ich schon mal dabei bin, bete ich auch noch für Feuerwehrmann Anthony Soundso, dass er nicht verletzt wird und gesund zurückkehrt, damit er noch mal freundlich zu mir sein kann, damit ich ihn noch mal zum Lächeln bringen und er mir sein eines Grübchen zeigen kann. Ich will nicht, dass dies unsere allerletzte Begegnung war, und wenn ich ihn wieder sehe, dann bringe ich vielleicht den Mut auf, ihm klarzumachen, dass wenn er mich auf einen Kaffee einlädt, ich nichts dagegen hätte, einen mit ihm zu trinken, wann auch immer.

Dann stecke ich das Kreuz wieder unter meinen Uniformkragen und bin irgendwie verlegen, darum sehe ich mich wieder nach allen Seiten um, ob es auch niemand gesehen hat.