Gabriel Moreno

alias Apache

2. MAI 1992

 

1:22 UHR

1 Das Gute an einem Ruf ist, man muss eine Sache nur einmal machen und dafür sorgen, dass es jemand sieht, damit der es erzählen kann. Ja, ich hab jemanden skalpiert, aber es war nicht so schlimm, wie die Leute denken. Ich meine, erst mal war der Idiot schon tot, ich hab nämlich erst angefangen, nachdem ich ihm eine .22er in die Nase gesteckt und abgedrückt habe.

Das war gut, nur hat es ihm alle Haare aus dem linken Nasenloch gebrannt, also das Mündungsfeuer. Der Rest, also wo die Kugel dann hinging und wie sie ihn erledigt hat, das ging fast augenblicklich, das Kaliber war ja so klein, dass sie im Kopf steckenblieb und nicht wieder rauskam. Hat sein Hirn bloß durchgequirlt wie Rührei, er hat also nicht gelitten oder so. Ging schnell.

Es war der dritte Auftrag, den ich für Fate erledigt habe, vor vielleicht vier Jahren, im Sommer. So ein Afromex, also halb Schwarzer, halb Mexikaner, kam aus der Hood, wurde Millionaire genannt, hatte Geld von der Gang geklaut, die Einnahmen von Mini-Vegas unterschlagen und gemeint, es merkt keiner. Wizard hat das Casino nämlich nicht immer geleitet. Zuerst war das Millionaire. Der hatte ursprünglich die Idee. Aber später stellte sich raus, er macht das bloß, weil er zwei Mädchen am Start hat, denen er gern Geschenke kauft. Er ging am liebsten mit ihnen in die Mall in Baldwin Hills zum Shoppen. Wenn ihr’s nicht schon an seinem Namen gemerkt habt: Er wollte gern, dass man ihn für eine große Nummer hält, dabei war er ein Niemand. Wir haben ihn immer Hundredaire genannt, haben wir ihm direkt ins Gesicht gesagt. Ich weiß noch, er machte sich auch ständig Gedanken über sein Aussehen. Als eine seiner Exfreundinnen ausplauderte, dass er sich Haare transplantieren lassen wollte, weil sie ihm schon ausfielen, obwohl er noch jung war, da wusste ich, was zu tun war. Eines Tages kommt er also in seine Wohnung, und ich bin schon drin mit meinem Cousin Cricket (Ruhe in Frieden) und mit Clever, wir haben nämlich sein Schloss geknackt, und sie gucken zu, wie ich den Duschvorhang aufziehe und Millionaire ganz höflich bitte, in die Wanne zu steigen, damit ich meinen Auftrag erledigen kann, und das macht er auch, und ich tue, was ich tun muss, und alles ist gut. Ich hatte aber niemandem erzählt, dass ich ihn skalpieren wollte. Ich hab Cricket und Clever hinterher gesagt, ich hätte mein Messer dabeigehabt und dass es so eine spontane Entscheidung gewesen ist, aber das stimmte gar nicht. Ich hatte es geplant. Und letztlich hat es auch funktioniert, weil es mich bekannt gemacht hat. Und auch gefürchtet, weil außer Cricket und Clever niemand wusste, dass ich ihn erst hinterher skalpiert habe und nicht vorher. Und das weiß auch immer noch keiner. Die Leute erfinden alle möglichen Geschichten über den Tag. Aber Clever hat sich dann den Namen Apache für mich ausgedacht. So werde ich seitdem immer genannt.

Ich erzähle euch die Geschichte, damit ihr nicht denkt, ich leide an Größenwahn. Ich weiß, ich bin bloß ein Krieger, kein Häuptling. Ich tue, was man mir sagt. Ich kriege eine Aufgabe, und die erledige ich. So wie jetzt.

Der O.G., der diesen Stadtlaster vom MLK ab und auf die Wright Road fährt, heißt Sinatra. Keine Ahnung, wieso. Er ist total alt, vielleicht vierzig, fünfundvierzig, und er raucht Zigarren, an denen noch das Etikett hängt, wie ein kleiner gelber Ring. Ist so eine dünne Zigarre, ein cigarillo, und das ist cool, weil es zu ihm passt, klar?

Er ist überall dünn, aber nicht so wie Clever, der Zahnstocher, anders. Dieser Sinatra ist krankhaft dünn. Echt. Hat ganz große Augen. Eins ist grün und eins ist braun, und ihre Größe passt nicht zu seiner Nase. Er hat so einen kurzen Stoppelbart, lauter feine Linien, also fast wie Kalligraphie. Ist bloß ganz dünn, auch ein bisschen löchrig, und geht gar nicht ganz bis zu den Ohren hoch, da verkümmert er dann. Reicht nicht mal bis zum Haaransatz.

Ich präge ihn mir ein, damit ich ihn später zeichnen kann. Ein HB-Bleistift zum Skizzieren, und später vielleicht mit schwarzem Kugelschreiber drüber, dann den Bleistift wieder wegradieren, sodass bloß die Tinte bleibt, und die kleinen Abdrücke vom Bleistiftstrich. Manchmal finde ich es gut, dass man die noch sehen kann, wenn man genau hinguckt.

Der Kleidersack, den Clever mir zum Verbrennen gegeben hat, steht zwischen Sinatra und mir auf dem Vordersitz. Ich hab den Arm draufgelegt und drücke ihn zusammen, damit ich meinen Fahrer im Auge behalten kann.

«Hab ich was im Gesicht?» Sinatra dreht sich gar nicht zur Seite. Starrt weiter geradeaus.

«Nein», sage ich, «ich bin bloß froh, dass ich nicht fahren muss. Ich bin noch nie so was Großes gefahren. Ich meine, wie kann man überhaupt alles im Blick behalten mit diesen komischen Spiegeln?»

Die Seitenspiegel sind so Doppeldinger, einer auf den anderen geklebt. Der obere steht irgendwie gerundet vor, und ich sehe mehr darin, aber alles total verzerrt. Der untere ist flach, ich sehe alles ganz normal, aber nicht so viel. In beiden fährt Payasa mein Auto in ordentlichem Abstand hinter uns her.

«Man gewöhnt sich dran», sagt Sinatra.

Er und ein Typ namens Bluebird haben den Lastwagen am Mittwoch in Florence einem städtischen Angestellten geklaut, eine halbe Stunde nachdem die Unruhen angefangen haben. Ich schätze, der Fahrer hat grad irgendwas erledigt und statt Radio ein Hall&Oates-Tape gehört, deshalb wusste er nicht, was auf den Straßen los war. Und da haben Sinatra und Bluebird ihn mit vorgehaltener Knarre angehalten und aus dem Wagen gezerrt. Sie haben sich seine Warnweste gekrallt, ihm in die Fresse getreten und sind abgehauen. Sinatra ist schon viel länger in der Gang als ich, und sogar länger als Fate. Er macht eigentlich nicht mehr viel, aber an so verrückten Tagen bringen Zufall und Gelegenheit Leute zusammen.

Außer uns sind kaum Autos auf der Wright Road unterwegs, bloß eins in die andere Richtung, und dann läuft ein Penner auf der falschen Straßenseite. Auf der Wright gibt es nichts, was sich zu schützen lohnt, keine Malls oder so was, darum hat Clever gedacht, da treiben sich bestimmt keine Vikings oder Gardisten oder sonst wer rum.

Als wir zur Cortland Street kommen, hole ich die Streichhölzer aus der Tasche, die Clever mir gegeben hat. Sechs Packungen, nur zur Sicherheit. In dieser Gegend muss ich immer an Millionaire denken. Seinen Skalp habe ich in seinem Waschbecken liegen lassen, damit ihn eine seiner Bräute findet, aber seine Leiche habe ich nicht weit von hier abgeladen, an einer Stelle, die alle Lil Texas nennen, gleich neben der Cortland zwischen den leerstehenden Lagerhäusern. Clever sagt, wir müssen alles verbrennen, und man kann nur sicher sein, dass so was lange genug brennt, wenn man den Wagen unter eine Unterführung stellt, wo man den Rauch erst sieht, wenn es zu spät ist, sagt er. Von hier kann ich die Pfeiler vom Freeway 105 schon sehen.

Eine Sekunde lang denke ich an Lil Creeper, weil wir uns hier immer zugedröhnt und drüber geredet haben, da raufzufahren, bevor der Freeway fertiggebaut ist, bloß weil wir die Ersten sein wollten, klar? Um die Straße zu entjungfern und zu sehen, wie die Aussicht von da oben ist, wenn man ganz allein ist. Oh ja. Schon klar, der Typ ist irre, aber manchmal auch witzig, genau der Richtige, um mit ihm auf eine halbfertige Freeway-Brücke zu fahren.

Wir sind fast da, wo Clever uns haben will, und Sinatra fährt den Lastwagen vorsichtig unter die Brücke und auf den kleinen Randstreifen unter den Baugerüsten, die wie ein Holz-Skelett von einem großen Tier aussehen, irgendwie so, als ob wir in sein Maul fahren.

Ich hatte mal eine Katze. Ich hab sie Teeny genannt, weil sie so klein war, als ich sie bekommen habe. Ich hab sie im Lauf der Jahre oft gezeichnet, als sie größer wurde. Ich habe ein ganzes Skizzenbuch nur mit ihr drin. Rotbraun getigert, gute Muskeln. Konnte richtig hoch springen. Grüne Augen, wie nasse Steine. Hat immer so leise gemaunzt. Die süßeste Katze, die ihr euch vorstellen könnt. Manchmal hab ich sie Hundekatze genannt, weil sie sogar apportiert hat. Sie hat gern zerknüllte Kugeln aus Alufolie gejagt, weil die so ein Geräusch machen, wenn ich die weggeworfen hab, hat sie mir die Kugeln immer wiedergebracht. Sie hat auch gern darauf rumgekaut. Aber eines Tages, als wir das grad wieder gespielt haben, fängt sie plötzlich an, Blut zu spucken und so zu miauen, als ob sie stirbt. Hab eine Stunde gebraucht, bis ich mit ihr beim Tierarzt drin war, und dann sagt der bloß, dass nichts zu machen ist, weil sie ein Stück Alufolie verschluckt hat, das sie jetzt von innen aufschneidet, und auf dem ganzen Weg in die Tierklinik hat sie geschrien und gekrampft und Blut gespuckt, bis der Tierarzt ihr dann eine Spritze gegeben hat. Das war nett von ihm, finde ich. Teeny musste nicht leiden. Nichts und niemand verdient zu leiden. Sie ist still in meinen Armen gestorben, Augen zu, als ob sie schläft. Wie es sein soll.

Ich hasse es, wenn jemand leidet. Oder etwas. Egal was. Wenn was erledigt werden muss, okay, das ist das Geschäft, aber es muss nicht in die Länge gezogen werden. Zum Beispiel dieser Typ vor Payasas Haustür. Ranger trifft ihn am Hals, okay, das war nötig, und er hat von weit weg geschossen, das macht mich nicht wütend, aber jetzt liegt der Typ da am Boden und leidet. Kein Mensch muss ihn wie ein Fisch an Land sterben sehen, der mit offenen Kiemen rumzappelt. Es musste ein Ende haben, also bin ich hingegangen. Schnell ist gnädig. Weiß gar nicht, wo ich das gehört habe, vielleicht von Clever, es gefällt mir jedenfalls. Passt zu mir. Schlimme Dinge passieren, immer wieder, aber zumindest kann man sie immer schnell erledigen, das ist besser für alle.

Und darum läuft es so: Als Sinatra den Schlüssel dreht und der Motor sich schüttelt und ausgeht, und als er sich vorbeugt und das Tape aus dem Deck nimmt, mitten in einem Song darüber, dass Verbrechen sich lohnt, da halte ich ihm den Lauf meiner Pistole an die Schläfe und drücke ab.

Es knallt so laut in der Fahrerkabine, dass mir die Ohren klingeln, und hinter seinem Kopf wird die Seitentür rot, in der Scheibe ist ein Loch. Sinatra zuckt danach noch ein bisschen, aber das sind bloß Nervenreaktionen. Er ist hinüber.

Ich mache die Tür auf, steige aus und tausche mit Payasa zwei Packungen Streichhölzer gegen eine große Flasche vom billigsten Wodka der Welt. Ich schraube den Deckel auf und schütte ihn über den ganzen Innenraum, einfach überallhin, vor allem über Armaturenbrett und Teppich, wo das cigarillo hingerollt ist, was den Alkohol gleich entzündet, aber auf jeden Fall auch auf Sinatra, auf seinen dünnen Bart, und jetzt weiß ich sicher, wie ich ihn zeichnen will. Schwarzer Filzstift, keine Vorzeichnung. Kurze, schnelle Striche.

Es musste getan werden, hat Fate gesagt. Sinatra ist überall in der Stadt gesichtet worden. Diese städtischen Fahrzeuge sind nummeriert. Und registriert. Irgendwann wird der Lastwagen als gestohlen gemeldet werden, und irgendwann werden sie ihn suchen, wenn alles andere sich so weit abkühlt, dass man sich wieder um Lastwagen statt um Straßenkämpfe kümmert, und dieser Typ, von dem Sinatra ihn geklaut hat, wird ihn wiedererkennen, weil er keine Maske aufhatte, und das ist nicht gut für uns, weil Sinatra uns kennt und weiß, was wir heute Nacht getan haben. Und dann ist da noch was: Man erzählt sich von Sinatra, dass er am Donnerstagabend ein bisschen durchgedreht ist bei einem Streit mit seiner Ex-Frau. Er hat sie in den Rücken geschossen, aber sie hat überlebt. Er hat vielleicht nicht geahnt, dass wir das wissen, aber wir wissen es. Wir hören alles, und wir handeln, wenn wir müssen. Irgendwann hätte man ihn verhaftet, und wir mussten dafür sorgen, dass er nichts zum Tausch anbieten kann, wenn sie ihn schnappen. Sinatra musste weg, und das ist er jetzt.

Da der Boden schon ganz gut lodert, reiße ich ein Streichholz an und werfe es rasch auf den Sitz. Das schwarze Plastik der Mülltüte fängt an zu brennen und schrumpft in der Hitze zusammen. Ich kurbele das Fenster ein paar Zentimeter runter, damit das Feuer ordentlich Luft kriegt, schlage die Tür zu und stelle mich aufs Trittbrett, um über die Bordwand zu sehen, wo Payasa auf der Ladefläche schon ein Feuer angefacht hat. Ich werfe meine Pistole hinein, meine Handschuhe und noch ein brennendes Streichholz zur Sicherheit. Dann springe ich ab, die Hände zu Fäusten geballt, damit ich nichts mit den Fingern berühre. Wir steigen in meinen Cutlass, diesmal setze ich mich ans Steuer, dann wende ich wieder in Richtung MLK und parke am Straßenrand, von wo wir den Lastwagen im Rückspiegel brennen sehen.

Als ich mich in der Gang nach oben gearbeitet habe, musste ich oft für die veteranos Wache stehen, wenn sie gestohlene Autos verbrannten. Sie ließen mich meist so lange da bleiben, bis die Motorblöcke rausfielen, aber wenn möglich, wenn niemand in der Nähe war, dann blieben wir auch, bis sie in die Luft gingen. Autos explodieren nie so wie im Film. Ich meine, so würde es vielleicht laufen, wenn man was in den Benzintank schmeißt, aber wenn man bloß den Innenraum ansteckt, dann muss man eine Weile warten. Ich glaube, es hat jedes Mal so an die fünfzehn Minuten gedauert, bis das Feuer zum Benzin vordrang und der Tank hochging, und wie groß die Explosion war, hing natürlich davon ab, wie viel Sprit noch drin war. Ich hab nicht nachgesehen, wie viel noch im Lastwagentank war.

Trotz der allgemeinen Lage wär es nicht klug, wenn Payasa und ich so lange bleiben würden. Ich meine, Clever hat zwar Leute beauftragt, die Reviere anzugreifen und die Cops überall mit Notrufen zu beschäftigen, aber er hat uns angewiesen, nur so lange zu warten, bis das Feuerwerk losgeht.

Bis dahin studiere ich die Form der Flammen. Flickern könnte man das nennen. Ja. Ich schaue zu, wie das Orange an den Baustellenlampen hochkriecht wie lebendige Ranken oder so was. Zuerst zerspringen die Kabinenfenster und spritzen Scherben in alle Richtungen. Gleich danach geht die Hupe in Dauerbetrieb, und als es dann heiß genug ist, platzen auch Glas und Birnen an den Lampen. Inzwischen schleudern die Flammen schwarzen Rauch an die Unterseite der Überführung, und der Beton bleibt schwarz, so als würde er mit Ruß angemalt.

Payasa fragt: «Also, wann fahren wi–»

Bäng! Gleich danach hören wir noch einen, total laut, und ich lege den Gang ein und trete schön sanft aufs Gaspedal, und als wir wegfahren, hört es sich an, als ob noch mehr Feuerwerk auf der Ladefläche losgeht, es knallt noch zweimal, gefolgt von leisem Klingeln, denn die Flammen sind jetzt so heiß, dass sie die Patronen in den Schusswaffen losgehen lassen, die von vorhin noch übrig sind.

 

 

2 Mein Auto riecht immer noch nach rohem Fleisch, und wir haben noch nicht mal alles gebraten. Die kleinen Homies, die Fate zum Putzen des Kofferraums abkommandiert hat, haben ihren Job nicht so richtig gut gemacht. Drei Stunden haben sie geschrubbt, und es sind auch keine Flecken mehr auf dem Ersatzreifen oder so, aber der Teppich ist total verfärbt, und langsam glaube ich, er wird nie mehr sauber, es wird immer nach Gammelfleisch riechen. Und da beschließe ich, dass ich ein neues Auto brauche. Wird Zeit, diese Karre irgendeinem Idioten zu verkaufen, der es nicht besser weiß. Aber das macht die Sache jetzt nicht angenehmer, also kurbele ich mein Fenster halb runter, um ein bisschen Nachtluft reinzulassen.

Payasa dreht sich zu mir und fragt: «Hast du Dust?»

Dust, PCP, das ist genau der Scheiß, den Fate uns heute Nacht verboten hat. Ich hab trotzdem was bei mir. Hab’s bloß nicht genommen.

«Fate hat gesagt, nichts davon», sage ich.

«Ja sicher, aber vorher, hat er gemeint, nicht hinterher.»

«Hinterher hat es keinen Sinn», sage ich, «nur vorher.»

Sie starrt eine Minute lang in die Gegend. Ich habe noch nie was mit Wasserfarben gemacht, aber als ich den Nachthimmel sehe, der irgendwie nass aussieht, obwohl er es gar nicht ist, da würde ich es am liebsten mal probieren. Wie dieses Schwarz so weich ist um Payasas Gesicht herum, und wie das Gelb von den Straßenlampen sie im Profil beleuchtet, das ist echt nett. Sie ist hübsch, wisst ihr? Und das meine ich jetzt nicht mit Sex im Kopf, eher so als wär sie meine kleine Schwester, und weil sie ja keine großen Brüder mehr hat, müssen wir das jetzt wohl für sie sein. Clever und Fate und ich und wir alle.

Sie bricht das Schweigen und sagt: «Fate sagt, ich soll raus zu meiner Mutter ziehen, damit ich eine Weile aus der Schusslinie bin. Ich versteh nicht, wieso er mich so bestrafen muss. Ich meine, hab ich es nicht gut gemacht mit Joker?»

Zuerst sage ich gar nichts, ich lasse es einfach ein bisschen sacken, während wir fahren. Payasa auch. Wir sind auf dem Weg zu meinem Cousin Oso, wo wir warten sollen, bis wir was von Fate oder Clever hören.

Aber irgendwann muss ich sagen: «Vielleicht ist das gar kein so schlechter Plan.»

Danach schaut sie mich ganz böse an.

«Du hast es mehr als gut gemacht», sage ich. «Hab noch nie jemanden besser schießen sehen, glaub ich. Die meisten Leute treffen nämlich nicht mal ’n Haus, wenn sie so unter Adrenalin stehen. Du hast doch gesehen, wie viele Schüsse heute vor deiner Tür danebengingen, oder? Jede Menge. Aber du bist nicht dein Bruder, weißt du?»

«Welcher?» Sie sagt das ganz schwer, als ob sie sich selbst leidtut. Scheiße. Hat sie auch alles Recht zu, aber trotzdem.

«Du weißt genau, welcher», sage ich. «Lil Mosco. Du bist eher Ernesto als er.»

Wenn ich ganz ehrlich bin, ist mir nicht wohl dabei, wenn sie die gleichen Sachen macht wie ich. Das ist nichts für Frauen, versteht ihr? Nennt mich sexistisch, nennt mich, was ihr wollt, aber ich glaube, die meisten Leute wären meiner Meinung.

«Du bist ganz groß aufgetreten», sage ich. «Hast getan, was du musstest. Gerechtigkeit geübt.»

«Findest du?»

«Ja, finde ich. Aber ich finde auch, du bist nicht ich.»

«Was soll das denn heißen?» Sie sieht sauer aus, als wäre ich respektlos oder so.

«Soll heißen, was es heißt. Du bist nicht ich. Ich meine, du musst nicht von jetzt ab so weitermachen und das immer wieder tun. Du musst nicht tun, was ich tue, Payasita.»

Sie streckt die Brust raus, als ob sie streiten will, und sagt dann: «Willst du mir vorschreiben, ich soll es lassen?»

Ich schaue eine Weile durch die Windschutzscheibe an den Himmel, holzkohlenschwarz wie er ist. Ich schüttle den Kopf und packe das Lenkrad fester, so wie ich den Schläger greifen würde, wenn ich beim Baseball schlagen müsste und unbedingt einen Treffer brauche.

«Ich will dir mal was erzählen, Lil Clown Girl», sage ich.

So nenne ich sie manchmal, denn das heißt Payasita wörtlich en Español. Clownsmädchen. Aber das sage ich nur, wenn wir beide unter uns sind. Ist wie ein Kosename. Genau. So nennt sie sonst niemand, und wenn doch, dann würde ich es nicht zulassen. Das ist unser Name. Aber jetzt muss mir die sechzehnjährige Göre mal zuhören, darum nenne ich sie so.

«Einmal war ich drüben auf der Josephine Street, okay?», fange ich an. «An dem Ende, wo der Park ist. Ich kann höchstens ein Jahr jünger gewesen sein als du jetzt. Aber ich hatte schon eine Weile ’ne Knarre. Hatte mich schon nützlich gemacht und hielt mich für hart, weil die älteren Homies mir erzählten, ich wär hart und dass ich langsam erwachsen werde. Also gaben sie mir hier und da kleine Aufträge, Sachen, auf die ich ein Auge haben sollte, verstehst du? Und dieses eine Mal kam ein Spitzel namens Booger aus dem Haus, wo er wohnte, gleich gegenüber vom Park auf der anderen Straßenseite, und ich hatte schon auf ihn gewartet, weil ich ihn erledigen sollte. Als ich ihn also sah, war ich so aufgedreht, dass ich einfach losrannte, okay? Ich rannte bis zum Bordstein, total hart drauf, und dann blieb ich stehen, weil ich nicht auf die Straße rennen wollte, und schrie ‹Booger! Hey, Booger!›, und er guckte mich an, ich sah seine Augen, die mich sahen, und ich zielte. Ich hatte eine Pistole von Fate, ich habe das Teil geliebt, ich glaube, es war eine 9 mm Smith & Wesson 659, eigentlich eine ziemlich große Pistole für so einen Jungen, aber das war mir damals egal. Das Teil hab ich also verdammt schnell aus dem Sweatshirt gezogen, als ich Booger sah, und dann so bäng, bäng, bäng auf ihn geschossen, aber das Ding war: Grad als ich losballere, fährt ein Auto zwischen ihn und mich.» Payasa stöhnt so ein bisschen, so Ach du Scheiße, aber ich rede weiter. «Ich war so aufgedreht, ich habe überhaupt nicht aufgepasst, hab’s nicht kommen sehen, es ging alles so schnell. Ich erinnere mich bloß noch, wie die hinteren Scheiben von diesem Kombi gleichzeitig rausplatzten, so ksschh, ksschh, weil meine Kugel durch die eine rein und durch die andere wieder rausging. Ist glatt durchgesaust.»

Danach mache ich eine Pause, nicht wegen der Wirkung, sondern weil ich einfach muss.

Und die Pause muss wohl zu lang sein, weil Payasa fragt: «Was ist passiert?»

«Hinten im Wagen war so ein Sitz», sage ich, «du weißt schon, so einer für Babys.»

«Scheiße», sagt Payasa. «Was ist passiert

«Passiert ist, dass ich Booger nicht erwischt habe. Der Idiot ist weggerannt.»

«Scheiß auf Booger! Was ist mit dem Baby passiert?»

«Weiß ich nicht», sage ich.

«Was soll das heißen, weiß ich nicht?»

«Das soll heißen, ich habe bloß Schreie gehört, richtig lautes Geschrei vom Rücksitz, und das Auto ist hin und her geschleudert und dann schnell weitergefahren, und ich muss immerzu an das ganze Glas auf dem Rücksitz denken, weißt du?» Ich schüttele beim Gedanken daran den Kopf. «Dieses ganze Glas.»

Payasa ist jetzt irgendwie wütend. «Hast du es jemals rausgefunden? Ich meine, ist alles gutgegangen?»

«Nein», sage ich, «hab ich nie rausgefunden. Ich hab es versucht, aber niemand hatte was von einem verletzten Baby gehört, und das Auto hab ich nie wieder gesehen, weder beim Park noch sonst wo.»

«Ach komm», sagt sie, «echt? Nie?»

«Manchmal erscheinen mir Babys im Traum», sage ich. «Total zerschnitten.»

«Das ist doch krank», sagt sie.

«Ja, das stimmt», sage ich, «aber was ich gemacht habe, war auch krank. Und die Geschichte hab ich dir bloß erzählt, um zu zeigen, wie so ein Scheiß an dir hängenbleibt. Du sollst nämlich auf keinen Fall denken, wenn du mich so anguckst, dass das alles an mir abperlt. Mehr will ich gar nicht sagen, Lil Clown Girl. Das war’s schon.»

Da wird sie still, und ich weiß auch nicht, was ich sagen soll, oder ob ich mich überhaupt verständlich gemacht habe, darum warte ich ein bisschen, bevor ich weiterrede. «Wenn Fate dich wirklich aus der Schusslinie ziehen will, ist das vielleicht gar keine so schlechte Idee, oder? Mal eine Weile weg aus der Hood? Ich meine, wenn du draußen wärst, was würdest du machen? Hast du darüber überhaupt mal nachgedacht?»

Sie drückt den Hinterkopf gegen die Kopfstütze und starrt an die Wagendecke. Nach einer Weile fängt sie an zu lächeln, nur ein ganz klein wenig, aber es ist zu sehen, also spreche ich sie drauf an.

«Was?»

«Nichts», sagt sie. «Ist albern.»

Es ist nicht albern, will ich sagen, denn das ist das erste Lächeln, das ich auf deinem Gesicht sehe, seit Ernesto in der Gasse gelegen hat. Aber ich warte einfach. Ich gebe ihr Zeit. Ich versuche mir einzuprägen, wie das Lächeln auf ihrem Gesicht ausgesehen hat. Größer als das der Mona Lisa. Es kräuselt ihre Nase oben an der Wurzel ein bisschen, zwischen den Augenbrauen.

«Ich fahr grad bisschen drauf ab, was mit Elena zu machen», sagt sie.

«Moment», sage ich, um das im Kopf klarzukriegen, «ist das die, die wollte, dass wir Joker umlegen und ihm sagen, dass sie uns schickt? Die?»

«Genau die», sagt sie und leckt sich ein bisschen die Lippen, als würde sie grad dran denken, was anderes mit ihnen zu machen, was Schönes.

«Nicht zu glauben», sage ich. «Liebeskrank.»

Sie macht so ein lautes Schnalzgeräusch mit Lippen und Zähnen. Tsk. «Jetzt hör auf, ich hab nichts von Liebe gesagt.»

«Wie du willst. Sie ist loca, aber sie sieht saugut aus. Dieser Arsch …», sage ich, aber der Satz tröpfelt so aus, weil ich dran denken muss, wie gut Elena in Jeans aussah und wie schön es wäre, zwei ordentliche Handvoll von ihr zu greifen, und in dieser Vorstellung verliere ich mich einen Moment und kann den Satz nicht zu Ende bringen, darum sage ich bloß so: «Mann.»

Das sage ich bloß so aus Show, versteht ihr? Aber Payasa weiß haargenau, was ich meine, und lacht mich an. Warum sie lacht, ist egal. Es ist einfach gut, sie lachen zu hören. Mit das Beste an Payasa ist, dass du dir bei ihr nie Gedanken machen musst, weil du mit einem Mädchen redest. Du kannst normalerweise einfach sagen, was du willst, kein Problem, alles cool. Da ist sie ein richtiger Homie.

«Scheiße, ja», sagt Payasa. «Mann ist genau richtig. Ich arbeite dran.»

Das ruft mir ganz schnell ein Bild vors geistige Auge, an dem ich mich ein paar Straßen weit aufhänge.

«Verdammt», mehr fällt mir nicht zu sagen ein, aber vielleicht sollte ich Payasa dazu bringen, weiter über Elena zu reden, weil das anscheinend ihre schweren Gedanken vertreibt. «Meinst du, du wirst sie tatsächlich knacken? Wieso?»

«Die Chance besteht immer», sagt sie, «vor allem, wenn ich sie dazu bringen kann, mich als ihren Beschützer zu sehen.»

«Ach, so als Ritter in strahlender Rüstung?» Ich schaue Payasa an, und sie hebt so ein bisschen das Kinn und lächelt wieder dieses heimliche Lächeln, bloß sagt es diesmal anscheinend, dass sie über Sachen genau Bescheid weiß, von denen ich nicht mal wusste, dass sie existieren, und es sieht so selbstbewusst aus, dass ich es nicht mal bezweifle. «Ihre Ehre verteidigen und so?»

«Frauen stehen auf so was», sagt sie. «Sie müssen sich sicher fühlen.»

«Du sagst das so, als wärst du keine», sage ich.

Ich parke am Straßenrand an der Louise Street, direkt vor Osos Haus. Drinnen brennt Licht, und ich sehe meine Tante vorm Küchenfenster, sie steht anscheinend an der Spüle und wäscht Gemüse oder so was. Ich brauche sie nur kurz zu sehen, die Haare hochgesteckt, als hätte sie geschlafen, um zu wissen, dass Oso sie geweckt hat. Seit Cricket tot ist, verwöhnt sie ihn noch mehr, macht ihm zu jeder Tages- und Nachtzeit was zu essen, wenn er Hunger hat. Ist ganz egal, wann er fragt, sie steht auf und macht ihm was.

«Ich bin nicht so eine Frau wie Elena», sagt Payasa, als ich den Wagen abstelle. «So ein Mädchen braucht jemanden, der für sie sorgt. Menschen wie ich brauchen jemanden, für den sie sorgen können. So läuft das eben. Das ist die Natur. Die Rollen ändern sich nicht groß, bloß weil wir beide chicas sind. Das steckt einfach drin. Ist menschlich.»

Ich zucke die Achseln, weil ich ihr einfach glauben muss, und mache die Fahrertür auf, aber als das Innenlicht über uns angeht, hält Payasa mich am Arm fest, und ich merke, sie ist noch nicht fertig mit Reden, also ziehe ich die Tür wieder zu, und das Licht geht aus.

«Ist das jetzt vorbei, so richtig vorbei?», fragt sie. «Wird sich alles beruhigen, wo Joker und Trouble und Momo weg von der Bildfläche sind?»

«Weiß ich nicht», sage ich, und ich weiß es wirklich nicht.

Sie zieht ihr Kinn auf die Brust und runzelt die Stirn, und daran merke ich, dass ich vorhin richtiglag. Sie will eigentlich, dass es vorbei ist. Lil Mosco hätte nie so gedacht. Der hätte so lange wie möglich Krieg haben und jede Gelegenheit nutzen wollen, verrückt zu spielen. Der wäre begeistert gewesen. Aber Payasa? Die nicht. Sie ist einfach hingegangen, hat getan, was sie tun musste, als sie es musste.

«Irgendwer ist immer mit irgendwem verwandt, was?» Das klingt erschöpft bei ihr, als wäre sie eine Oma. «Oder mit irgendwem befreundet?»

«Da hast du nicht unrecht», sage ich, «aber wenn du nicht zahlen willst, spiel nicht mit.»

Das klingt vielleicht ein bisschen kalt gegenüber einem Mädchen, das gerade seine beiden Brüder und seine Hausfassade verloren hat, aber sie weiß, es stimmt einfach, und irgendjemand muss es ihr sagen. Kann ebenso gut ich machen. Ich sehe, wie sie ein bisschen auf dem Sitz hin und her schaukelt, ich mache meine Tür nur einen Spalt auf, damit ich noch mal das weiße Deckenlicht auf ihrem Gesicht sehe, und ich denke mir, vielleicht versuche ich mal ein Porträt von ihr im Schwarz-Grau-Style. Mit so einem winzig kleinen Modellbaupinsel und Modellbaufarbe, die auch nach dem Trocknen noch glänzt.

«Hast du Hunger?», frage ich mein Lil Clown Girl. «Sieht so aus, als würde meine Tante da oben kochen, und eins kannst du mir glauben, wenn sie enchiladas macht, dann willst du die nicht verpassen.»

«Ich könnte mitkommen», sagt sie. «Aber würdest du mich danach noch zu mi mamá fahren?»

Ich bin kein Häuptling, ich bin nur ein Krieger, aber ich nehme an, für sie könnte ich eine Ausnahme machen. Nur dieses eine Mal.