Maschinist
Anthony Smiljanic,
Los Angeles
Fire Department
1. MAI 1992
2:41 UHR
1 Ich hab ein schlechtes Gefühl, als wir in die Sackgasse einbiegen und unser Ziel vor uns sehen, das lodert wie ein Bengalisches Feuer. Die Flammen lassen die Nachbarhäuser orange leuchten. Ich denke gleich: Wenn es einen guten Platz für einen Hinterhalt gibt, dann den hier. Mein Kopf dreht sich ständig von links nach rechts, als wir die Straße entlang auf den Brand zurollen. Ist schon ewig her, dass meine Schicht angefangen hat, und was ich hier sehe, gefällt mir ganz und gar nicht. Hier stehen Gaffer in Zweier- und Dreiergrüppchen in den Vorgärten – junge Schwarze mit Kapuzen auf und bescheuerten Tüchern um den Kopf.
Suzuki und Gutierrez hocken hinter mir auf den Notsitzen. Mein Truppführer sitzt neben mir, Captain Wilts. Er ist auch schwarz, aber deswegen mag er diese Bande noch lange nicht. Ich sage ihm, dass mir gar nicht wohl bei der Sache ist, und er funkt den Zugführer an, dass hier einfach zu viele Leute herumlungern und so tun, als würden wir sie nicht interessieren. An das Rumschreien habe ich mich inzwischen gewöhnt, auch an das Steineschmeißen, aber nicht an diese Art Stille. Ungefähr dreißig Leute starren uns an, als wären wir Essen auf Rädern, aber der Zugführer sagt, wir könnten uns auf unsere Eskorte verlassen, und Cap nickt, also fahre ich ran. Ich führe Befehle aus – das ist mein Job, ich fahre den Tanklöschwagen und bediene die Pumpen –, die Befehle müssen mir nicht gefallen, ich muss bloß die Schläuche prall gefüllt halten.
Wir haben zwei Wagen von der California Highway Patrol dabei, beide aus Ventura County zu Hilfe angefordert. Gute Jungs. Sind bloß Verkehrspolizisten, nicht dran gewöhnt, was hier so los ist, aber gute Jungs. Sie waren nicht grad erfreut, als sie gehört haben, dass wir selbst in guten Zeiten manchmal von Bürgern beschossen werden, dass unsere Löschfahrzeuge regelmäßig Einschusslöcher und kaputte Scheiben haben. Bei einem normalen Einsatzfall schicken wir einen Mann zum Hydranten, der dreht ihn auf, und wir spritzen los. Aber in den ungefähr dreißig Stunden seit Beginn dieser Unruhen haben wir im ganzen Südteil der Stadt eins gelernt: Wenn du nur einen zum Hydranten schickst, kriegt er Ärger, also schickst du zwei, die kriegen aber auch Ärger, und jetzt ist es schon so weit, dass du gar keinen Hydranten mehr aufdrehst, wenn nicht mindestens zwei Wagen Begleitschutz an den beiden nächsten Kreuzungen die Straße absperren. Dann ist es eigentlich okay, noch besser aber, wenn die Streifenpolizisten die Kanonen gezückt haben.
Aber das hier ist eine Sackgasse in einer Wohngegend mit runtergekommenen einstöckigen Häusern, die zu dicht zusammenstehen. Ein alter Straßenzug, wahrscheinlich in den Fünfzigern gebaut, für die Arbeiter im Flugzeugbau, bei Lockheed zum Beispiel, die gleich nach dem Zweiten Weltkrieg hergekommen sind. Und jetzt geht hier alles den Bach runter: Farbe blättert ab, Carports sind eingestürzt, Autos sind auf Backsteine aufgebockt. Wir sind hier nördlich von meinem Distrikt, Feuerwache Nr. 57, darum weiß ich nicht, ob das Revier den Bloods oder den Crips gehört, irgendjemandem gehört’s jedenfalls. Die Leute hier sind so wachsam, das muss Gangland sein, und was noch schlimmer ist, sie bewegen sich aufs Feuer zu – und auf uns – wie langsame Motten. Aber das alles geht mich im Augenblick nichts an.
Mich interessiert im Augenblick nur die Sackgasse. Wenn ich die Feuerwehr in eine Lage bringen wollte, aus der sie nur schwer wieder rauskommt, dann würde ich hier Feuer legen. Der einzige Weg, eine Sackgasse zu sichern, ist die Einfahrt abzusperren. Das Problem ist nur, dass das eben auch unser einziger Ausweg ist. Es ist meine Aufgabe, unsere Ausfahrtwege zu klären und das Fahrzeug so zu parken, dass wir sofort einpacken und abhauen können. Ohne Wendemanöver. Sauber rein, sauber raus. Das geht hier aber nicht, und es macht mich nervös, wenn wir nur da wieder rauskönnen, wo wir reingekommen sind, aber der Zugführer sagt, wir sollen diesen Brand löschen, also schließe ich zwei Schläuche an und öffne das Überdruckventil. Ich habe zum Fördern einen Zweieinhalb-Zoll-Schlauch, und raus gehen anderthalb Zoll. Den Dreieinhalb-Zoll-Förderschlauch haben wir nicht mehr dabei, weil wir vor zwei Stunden wegen Zusammenrottungen möglicherweise gewaltbereiter Randalierer unverzüglich das Weite suchen mussten. Aber als wir hier loslegen, läuft alles glatt und gut.
Wir haben fünf Fahrzeuge am Start, also ist der Brand schnell gelöscht. Die Trümmer rauchen noch, als wir den Rückzug einleiten. Üblicherweise würden wir dableiben, bis nur noch Asche da ist, denn wenn irgendwas wiederaufflammt, kriegen sie dich und jeden anderen in deinem Zug am Arsch. Aber unter Kriegsrecht ist das was anderes. Da heißt es bloß Schläuche ausrollen, spritzen, Brand löschen, wieder einrollen und abhauen, weil immer fünf oder zehn weitere Brände gelöscht werden wollen. Wenn man erst mal in den Rhythmus kommt, macht es schon fast Spaß.
Zum Beispiel gibt es heute Abend überhaupt keine Rettungseinsätze für uns, seit Anfang der Unruhen nicht. Das ist schon fast wie eine Belohnung. Keine Personenrettung, bloß Schlaucharbeit. Darum sind die Einsatzwagen auch alle in den Wachen, und die primitiven, großmäuligen Rettungsfahrer müssen ausnahmsweise mal richtig arbeiten.
Ich behalte die Menge im Blick, als der Zugführer den Befehl zum Abzug gibt. Sie haben sich inzwischen zu einem Mob in der Nähe der Sackgassenausfahrt zusammengeballt, und das ist nicht gut. So schnell ich kann, prüfe ich, ob der Wassertank vom Hydranten wieder befüllt wurde, dann kopple ich den Förderschlauch ab und schnappe mir Gutierrez. Wir laden zusammen den Anderthalbzoller ins Schlauchbett. Normalerweise würden wir ihn schön ordentlich und fest zusammenlegen, aber jetzt ist keine Zeit für Vorzeigeprozeduren. Jetzt geht es bloß noch darum, die Aufgabe zu erledigen und zur nächsten aufzubrechen, zwei Straßen weiter. Tempo ist das Wichtigste, nicht Ordnung. Das verstößt gegen alles, was man uns beigebracht hat, und das ist wunderbar. Freiheit, das ist es. Aber mir wäre trotzdem wohler, wenn der Mob weiter weg wäre. Jedes Mal, wenn ich den Kopf wende, kommt er mir größer vor, näher dran.
Ich nicke Gutierrez zu, und er weiß, er soll sich verdammt noch mal beeilen. Er sieht sie auch. Ganz schnell falten wir den Zweieinhalbzoller auf und heben ihn zu zweit hoch. Einen Augenblick legen wir ihn auf der Trittfläche ab, ehe wir ihn ins Schlauchbett wuchten, während die Verkehrspolizisten wieder in die Streifenwagen steigen und uns die Ausfahrt freimachen, damit alle Löschfahrzeuge abfahren können, aber dann merke ich, dass irgendwas schiefläuft. Beim zweiten Streifenwagen schlagen die Türen zu, wir werden mit Schrott bombardiert, und dahinter stürmt eine Horde direkt auf uns zu.
Wer weiß schon, warum? Irgendein Scheiß-Rassenkonflikt? Hass auf alle Staatsorgane? Tut mir leid, wenn ich mir keine Gedanken über die Motive irgendwelcher beschissenen Gangster mache, ich habe nämlich genug damit zu tun, den Schlauch fallen zu lassen und einem fliegenden Stein so groß wie ein Softball auszuweichen. Das Ding haut eine Beule hinten in meinen Löscher, ehe es auf den Asphalt knallt. Als ich den Kopf wieder hebe, sitzt jemand auf Gutierrez, der ein Bein unterm Schlauch eingeklemmt hat und verzweifelt versucht, es dort rauszuziehen. Ich stürme auf den Schwanzlutscher zu, aber ich bin nicht schnell genug. Dieser große, schwarze Hurensohn, gebaut wie ein Football-Verteidiger, haut Gutierrez einen halbierten Hohlblock ins Gesicht, mit der Bruchkante nach vorn.
Ich sehe den Gesichtsausdruck dieses Jungen, die Entschlossenheit und die widerwärtige Schadenfreude, und ich sehe den Stein wie in Zeitlupe niedergehen, ich spüre das Geräusch im Magen, als er aufs Kinn trifft und der Kieferknochen mit grässlichem Knirschen unter dem Druck zerbricht. Gutierrez schreit blubbernd, als ich das grinsende schwarze Arschloch ramme, das sich dadurch halb aufrichtet, über den Bordstein stolpert und mit dem Gesicht nach unten im Gras landet. Ich bin nicht der Allergrößte, aber ich habe mein ganzes Gewicht reingelegt. Was ich weiter anstelle, darüber muss ich mir nicht den Kopf zerbrechen, weil die Polizisten mit gezogenen Waffen hinter mir stehen und Warnschüsse abgeben, worauf der Junge wie ein Windhund davonkrabbelt. Dabei sehe ich eine glänzende Narbe auf seiner Schulter, als hätte er eine Operation hinter sich.
«Schießt auf ihn», sage ich. «Er hat Guts erwischt! Knallt ihn ab!»
Machen sie aber nicht. Sie lassen ihn entkommen, über einen Zaun. Das macht mich rasend, aber ich kann jetzt keine Energie darauf verschwenden.
Ich schaue nach unten und versuche, den Schaden zu ermessen. Es ist schlimm – richtig übel. Cap steht neben mir. Er sieht es. Suzuki auch.
«Scheiße», sagt er. «Halt durch, Guts!»
Durch den frischen Riss in seinem Gesicht sehe ich Gutierrez’ Zunge zucken, als wollte sie sich davonmachen. Der Rest sieht noch schlimmer aus: Sein Kiefer hängt einfach so runter, total aus dem linken Gelenk, so weit aufgeklappt, dass ich die flachen weißen Backenzähne sehen kann.
Mir rutscht das Herz in die Hose. Ich ziehe die Jacke aus und reiße mir das Uniformhemd vom Leib – nichts aus dem Erste-Hilfe-Kasten scheint mir groß genug –, knülle es so gut es geht zusammen und schiebe es zwischen Schulter und Kiefer, drehe seine Wange so, dass es seinen Kiefer erst mal fixiert.
«Halt den Druck so, wenn es geht», sage ich zu Suzuki. «Bloß einen Augenblick.»
Cap läuft zum Funkgerät, wir heben Gutierrez hoch, legen seine Arme um unsere Schultern und schleppen ihn zum Fahrerhaus. Für Untersuchung oder Schutz der Halswirbel haben wir keine Zeit. Suzuki stützt ihm den Hals mit den Händen, während wir uns so schnell wie möglich aus dem Staub machen, mehr können wir nicht tun. Ich atme schwer und schnell, und ich quatsche dummes Zeug, entschuldige mich mit jedem Wort, das ich rausbringe, sage Guts, wie verdammt leid es mir tut, dass der bescheuerte Cop den Bengel nicht auf der Stelle erledigt hat, dass ich nicht auf mein Bauchgefühl gehört und den Scheißschlauch dagelassen habe, und wenn wir nicht beim letzten Einsatz den Dreieinhalbzoller liegengelassen hätten, dann hätte ich ihm gesagt, lass ihn im Gras liegen, lad ihn nicht auf, aber ich wollte beim nächsten Einsatz nicht ohne Förderschlauch dastehen, und wie dämlich das jetzt alles klingt, und dass es das überhaupt nicht wert war. Nichts davon.
Suzuki und ich bugsieren Gutierrez auf den Beifahrersitz. Wir lagern ihn so vorsichtig wie möglich gegen die Sitzlehne, dann springe ich runter und renne zur Fahrerseite. Suzuki folgt mir und kriecht auf den Notsitz dahinter, schiebt die Trennscheibe weiter auf, damit er Gutierrez’ Hals stützen kann. Cap sitzt auch schon hinten und hat das Funkkabel durch die Öffnung gezogen.
Ins Sprechgerät sagt er: «Feuerwehrmann Gutierrez ist verletzt worden.»
«Wiederholen Sie das bitte», sagt der Assistent des Zugführers.
Ohne es zu merken, schreie ich los: «Irgend so ein Gang-Wichser hat Gutierrez einen Backstein ins Gesicht gehauen!»
Cap ignoriert mich und wiederholt, was er gesagt hat. Die vier Polizisten haben inzwischen alle Leute vertrieben. Sie suchen Vorgärten und Bürgersteige nach versprengten Streunern ab, aber so viel Zeit habe ich nicht. Ich lege den Gang ein.
«Wie schlimm ist es?» Das ist jetzt der Zugführer selbst. Er will Bescheid wissen.
Ich bin jetzt das erste Löschfahrzeug des Zuges und sollte auf einen Streifenwagen warten, der vorfährt, mache ich aber nicht. Mit der Rechten halte ich die Reste von Gutierrez’ Kiefer im Gelenk, weil er sich irgendwie vom stützenden Hemd weggedreht hat, und mit der Linken schalte ich Blaulicht und Sirene an, während ich aufs Gas trete und aus der Sackgasse rase.
«Extrem schlimm», sagt Cap.
Er sagt allerdings nicht, dass Guts’ Gesicht ein neues Loch hat, dass ein paar Zähne falsch rum im Mund stecken und – den Rest kann ich nicht beschreiben.
Gutierrez gehört zur Wache 57 – einer von uns, und der schlechteste Koch, den man sich vorstellen kann –, und er zittert, während ich sein Gesicht zusammenzuhalten versuche, oder besser, er bibbert. Das ist der Schock. Er murmelt irgendwas davon, dass ich seine Frau anrufen und ihr sagen soll, mit ihm sei alles in Ordnung, und dass ich mir keine Gedanken machen soll, es sei seine eigene Schuld, dass sein Bein unterm Schlauch steckengeblieben sei. Durch das Loch in seiner Wange spüre ich seine Zunge, die an meiner Handfläche zittert, wenn er spricht.
«Hör auf zu reden», sage ich. «Hör einfach auf.»
«Harbor-UCLA», sagt der Zugführer schließlich.
Aus der ganzen Stadt haben Löschzüge berichtet, dass Zivilisten sie zu bremsen oder anzuhalten versuchen, um sie mit Flaschen, Steinen, Dosen zu bewerfen – mit allem Möglichen. Sie stellen sich Hand in Hand auf Kreuzungen, bilden Menschenketten und setzen darauf, dass die Fahrer abbremsen.
«Nur dass du’s weißt, Captain», sage ich nach hinten zu Wilts, «wenn sich mir irgendwer in den Weg stellt, dann fahre ich das Arschloch über den Haufen.»
Es kommt nicht gleich eine Antwort, nur das laute Heulen der Sirenen, als die anderen Fahrzeuge unseres Zuges sich hinter mir einreihen. Sie sind bei mir. Alle.
«Tu, was du tun musst», sagt Cap.
2 Niemand stellt sich mir in den Weg, zum Glück. Darüber bin ich froh, so froh, wie man unter diesen Umständen nur sein kann, weil ich wirklich nicht noch mehr Schuldgefühle brauche. Suzuki stützt immer noch Gutierrez’ Nacken, aber Guts stöhnt ein bisschen zwischen den Atemzügen. Ich hab es geschafft, das Hemd so an seinen Kiefer zu drücken, dass der einigermaßen im Gelenk bleibt. So kann ich mit der rechten Hand steuern, aber dafür ist das Lenkrad auch ganz klebrig vom Blut, und das fühlt sich so widerlich an, dass ich mich selbst hasse. Es wird noch schlimmer, als ich Cap zuhöre, wie er die Einzelheiten der Verletzung über Funk an den Zugführer durchgibt.
Vermont Avenue ist die nächste große Straße, zu der ich komme, also biege ich links ab, aber ich bin ein bisschen zu schnell, und mein linker Hinterreifen hebt ab und landet dann wieder mit einem kreischenden Rums, der die ganze Kiste zittern lässt. Suzuki grunzt, Gutierrez reagiert nicht, aber trotzdem beschließe ich, das nie wieder zu machen.
«Mach langsam, wir haben’s eilig.»
Das sage ich mir selbst. Ich spreche es tatsächlich laut aus. Das hat meine Ex immer zu mir gesagt. Das einzig Gute, was ich von ihr behalten habe und was mir hilft, in stürmischen Zeiten Ruhe zu bewahren.
«Du machst das sehr gut», sagt Cap hinter mir.
Wir fahren an ein paar Nationalgardisten vorbei, die an einer Straßenecke ein Fort aus Sandsäcken bauen, am Rand eines Supermarktparkplatzes, und ich kann mir nicht helfen, ich finde, sie würden mehr dort bewirken können, wo wir grad herkommen, aber ich weiß auch, sie sollen vor allem abschrecken, weniger eingreifen. Trotzdem, es wäre ganz schön gewesen, eine Gegend vor dem Feuer zu schützen, ohne dabei von ihren Bewohnern angegriffen zu werden, den Leuten, denen wir eigentlich helfen wollen. Aber das wäre wohl zu viel verlangt, was? Verdammte Tiere.
Der Streifenwagen schließt zu mir auf. Wahrscheinlich denkt er, das ist meine Stadt hier, ich weiß besser, wo es langgeht, und das ist auch gut so, denn es stimmt. Außerdem lässt er mich dadurch wissen, dass er dabeibleibt und mir folgt, und das Gute ist, die Straßen sind so frei, dass er das auch kann, was mich ehrlich gesagt überrascht, denn ich hatte gedacht, die Ausgangssperre würde ohnehin nicht eingehalten, so wie die Stadt gerade explodiert.
Auf der Gage Avenue biege ich wieder links ab, aber diesmal so langsam, dass mein Löscher auf dem Boden bleibt. So schnell ich kann fahre ich die Auffahrt zum Harbor Freeway rauf. Meine Ausfahrt ist Carson, und ich fahre jetzt um die 100, aber nicht drüber. Es ist nicht ratsam, viel schneller zu fahren, wenn man einen fast vollen 2000-Liter-Wassertank und einen 200-Liter-Dieseltank rumschleppt, egal wie voll. In fünf Minuten sind wir da. Wir werden vor die Notaufnahme fahren, und alles wird gut. Sie werden wie ein Wespenschwarm in Krankenhauskitteln über ihn herfallen, ihn mitnehmen und wieder heilmachen.
Mach langsam, denke ich, du hast es eilig.
Davon werde ich zwar nicht langsamer, aber ich kann damit meine Gefühle unter Kontrolle halten. Ich möchte dem Jungen weh tun, der das getan hat. Ich möchte ihn finden, den mit der Schulternarbe, und ihm zwei Kugeln in die Kniescheiben jagen. Ich versuche, mich zu erinnern, wie genau der Gangster aussah, aber zwischendurch werfe ich alle paar Sekunden einen Blick auf Gutierrez, ob er auch wirklich fest genug drückt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie weh das tun muss, die Stelle überhaupt zu belasten. Er ist wirklich ein eisenharter Kerl. Das werde ich allen erzählen, wenn er wieder gesund wird. Allen. Eines Tages ist das hier bloß noch eine Geschichte, denke ich. Eine Kriegsgeschichte.
Vielleicht wäre es nicht so schlimm gewesen, wäre unser Rettungssanitäter nicht heute mit den 46ern unterwegs. Seine Hilfe hätte ich gebrauchen können. Die SEALs lassen ihre Sanitäter schon seit Jahren inoffizielle Praktika bei uns machen, weil die Marine anscheinend meint, hier könnten sie am effektivsten alles über Kriegsverletzungen lernen: stumpfe Gewalteinwirkung, Schusswunden, Stichwunden, Explosionstrauma – davon gibt es in L.A. mehr als irgendwo sonst in den Vereinigten Staaten. Wir haben hier unser eigenes ziviles Kriegsgebiet, und gerade hat es verdammt noch mal das falsche Opfer gefordert.
Im Augenblick macht der Blutverlust Gutierrez zu schaffen. Er schließt immer wieder die Augen, so wie langsame Scheibenwischer. Ich weiß nicht, ob er mich hören kann, aber ich rede trotzdem mit ihm.
«Ist ja ’ne tolle Art, Feierabend zu machen, du Held.» Das sage ich so laut, dass er mich über die Sirene hören kann. «Da hast du aber ordentlich was zu erzählen, wenn du wieder nach Hawaii kommst.»
Meine Wangen glühen, bloß weil ich das gesagt habe, und ich komme mir winzig klein vor, denn was ist schon heldenhaft daran, seine Arbeit zu machen und dann von einem Gangster überfallen zu werden, der so breit ist wie ein Kühlschrank? Was soll bitte heroisch daran sein, wenn man sich selbst zu schützen versucht und scheitert? Gar nichts, würde ich sagen.
Ich schüttele den Kopf und fühle seinen Puls. Langsam, aber vorhanden.
In drei Minuten sind wir da, denke ich.
Der Freeway ist so gut wie leer. Nicht viel mehr zu tun als neue rote, blaue und schwarze Graffiti zu betrachten, Sprüche wie Fuck the Police und Fuck the National Guard und Kill Whitey, und sie nicht persönlich zu nehmen, während ich den Löschwagen schnell und schnurgerade laufen lasse. Uns kommen zwei Streifenwagen des LAPD entgegen, unterwegs in die Richtung, aus der wir kommen, aber das war’s, zwei, mehr nicht. So was habe ich noch nie erlebt.
Gutierrez ist einer unserer Auswärtigen. In der Probezeit muss man innerhalb der Stadtgrenzen wohnen, aber danach kann man umziehen, wohin man will. Wenn man es schafft, Schichten zu tauschen, und der Captain nichts dagegen hat, kann man sich jeden Einsatzplan zurechtbasteln, der einem passt. Das Einzige, worüber man sich Gedanken machen muss, ist die Moral der Mannschaft, denn wenn jemand die ganze Zeit weit weg ist, kann das schlecht für die Abläufe und fürs Teamwork sein, aber wie gesagt, das ist Captain Wilts Sache. Er ist einer von den Guten. Ich kenne Feuerwehrleute, die in San Francisco oder San Diego oder in Vegas wohnen, aber am weitesten weg ist Gutierrez. Der lebt auf Maui, hat ein kleines Häuschen in Napili mit seiner Frau und seinem Zweitklässler, und zu seiner Schicht kommt er mit dem Flugzeug.
Verdammt. Wisst ihr, wie das ist, wenn man manchmal in der Hitze des Gefechts Sachen vergisst, und später fallen sie einem wieder ein, und dann ist es umso schlimmer? So ist das, als mir Gutierrez’ Frau und sein Sohn einfallen. Kehaulani und Junior, so heißen sie. Na ja, Junior ist natürlich nur ein Spitzname. Er heißt so wie sein Vater. Der Nächste in der Reihe. Und süß ist er, große braune Augen wie seine Mutter. Ich habe sie Anfang des Jahres kennengelernt, vor einem Besuch in Disneyland, für den Jungen der erste. In der Feuerwache hat Junior mich gefragt, ob ich sehen wollte, was er der Zahnfee geben würde, und als ich ja sagte, zeigte er in seinen Mund auf einen winzigen weißen Zahn, der locker saß. Er klappte ihn hin und her wie einen Lichtschalter. Danach kicherte er und fragte, ob ich denke, dass Mickey Mouse ihn auch sehen wollen würde.
Ich fühle bei Juniors Vater wieder den Puls. Immer noch das Gleiche.
«Sieh zu, dass du durchkommst», sage ich zu ihm.
Inzwischen bin ich stinksauer auf diese Geschworenen. Ich bin stinksauer auf alles, aber auf sie kann ich besonders sauer sein. Hätten sie nur einen schuldig gesprochen, wäre das hier nicht passiert. Zumindest einen Sündenbock hätten sie uns geben können – aber nein. Jetzt muss die ganze Stadt dafür bezahlen, und Guts zahlt mehr als seinen gerechten Anteil.
Juniors Vater tauscht seine Schichten immer so, dass er einen Monat arbeitet und einen Monat frei hat. Im April hatte er Dienst, also hätte er den Mai frei. Wären die Unruhen nicht, wäre die Stadt nicht hochgegangen, hätte er auch keinen Notdienst mehr geschoben, sondern in der Wache geschlafen und morgen früh gleich den ersten Flug genommen. Das weiß ich, weil ich ihn nämlich schon oft zum Flughafen gefahren habe. Jeder Feuerwehrmann hat noch einen Zweitjob, weil wir alle so viele freie Tage haben. Gutierrez handelt in seinen freien Monaten mit Immobilien. Soviel ich weiß, ist er richtig gut darin. Was mich am meisten fertigmacht: Strenggenommen hätte er gar keinen Dienst gehabt, als er den Stein ins Gesicht gekriegt hat.
Verdammte Scheiße. Der Gedanke geht mir echt unter die Haut. Kreist und kreist und wird zu einem Schuldgefühl, und ich lasse es zu. Ich bin der König der Selbstvorwürfe. Darin ist niemand besser. Außer vielleicht meine Mutter, die macht sich selbst richtig fertig. Als kroatischen Katholiken ist uns das praktisch angeboren. In diesem Fall fängt das Gefühl mit einem Stich in der Magengegend an. Dann breitet es sich in so heißen Wellen aus, bis zu meinen Fingern und Zehen und wieder zurück. Das Gefühl sagt, das ist alles meine Schuld, wir hätten gar nicht wieder aufladen sollen, nicht mal im Schnelldurchlauf, ich hätte meinem Bauchgefühl vertrauen sollen, dann wäre Gutierrez unverletzt. Er wäre heil nach Hause zu seiner Familie gekommen. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt nicht mehr.
3 Der Zugführer hat das Krankenhaus angefunkt, dass man uns am Eingang der Notaufnahme erwarten soll, als ich also vorfahre, stehen da schon vier Weißkittel mit einer Trage. Ich rutsche rüber und drücke mein Hemd fester an sein Gesicht, als sie ganz langsam die Beifahrertür öffnen und drei Paar Hände sich durch die Öffnung schieben und ihn vorsichtig stützen, bevor sie die Tür ganz aufmachen und ihn runterlassen.
«Wir haben ihn», sagen sie zu mir.
Ich will ihn nicht loslassen, aber sie sagen es noch einmal. Also muss ich loslassen.
Eine Sekunde bleibe ich einfach sitzen und sehe zu, wie sie ihn auf die Rolltrage betten und ihm eine Halsschiene anlegen, ehe sie dann versuchen, ihm eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase zu schnallen und dabei feststellen, dass das in seinem Fall schwieriger ist als gedacht. Als sie ihn dann durch die Tür schieben, habe ich das Gefühl, dass ein kleiner Teil von mir weggerissen wird.
Ich ziehe meine schwere Jacke aus der Fahrerkabine, denn es kommt mir unanständig vor, im blutverschmierten und verschwitzten Unterhemd herumzulaufen, und ich bin schon drin, als mir klar wird, wie lächerlich ich mit der Jacke drinnen wirke, aber da ist es zu spät, ich habe sie schon an.
Schneller als ich zwinkern kann, ist Captain Wilts neben mir.
«Sie werden sich gut um ihn kümmern», sagt er. «Wir können jetzt nichts mehr tun. Hör zu, der Zugführer will, dass wir uns wieder dienstbereit melden, darum schickt uns Revier 79 einen Mann. Sie bringen ihn im Mannschaftswagen her.»
Wir dürfen ein Löschfahrzeug nicht mit nur drei Mann bedienen, darum wird Gutierrez ersetzt, damit wir weitermachen können. Ich weiß, so läuft das, aber es tut trotzdem weh.
«Ich muss mal pissen», sage ich und entschuldige mich.
«Klar», sagt der Captain. Er klingt erschöpft. Er klingt so, wie ich mich fühle.
Im Waschraum schrubbe ich mir zweimal die Hände ab. Ich wasche sie zu heiß und schaue nur kurz in den Spiegel, um sicherzugehen, dass ich kein Blut mehr an mir habe. Da ist aber noch was. Ein klebrig getrockneter Tropfen hängt mir in der linken Augenbraue, wie alter roter Honig, ein paar Spritzer überm Ohr, einer sogar im Ohr. Wie die dahingekommen sind – keine Ahnung. Ich schrubbe alle weg. Nachdem ich ungefähr zwölf Papierhandtücher verbraucht habe, um mir die Hände abzutrocknen, knöpfe ich die Jacke bis obenhin zu, damit sie, wenn ich sie treffe, das Blut auf meinem Unterhemd nicht sieht.
Die Intensivstation ist nicht weit von hier. Ich weiß, wo, und ich weiß auch, wie ich hinkomme. Ich schätze, mir bleiben ungefähr zehn Minuten, bis unser Ersatzmann hier ist, und ich muss sie sehen, muss heute wenigstens etwas Gutes sehen. Das würde bestimmt nicht alles besser machen, aber zumindest würde ich dann nicht versinken. Ich weiß auch nicht. Das klingt bescheuert. Aber vielleicht stimmt es. Ich komme an einem glatzköpfigen asiatischen Hausmeister vorbei, der seinen Walkman zu laut aufgedreht hat, und zu viele Höhen. Ich erkenne den Song – «To Be With You» – und schüttle den Kopf, weil er viel zu kitschig ist, und ehrlich gesagt bin ich ein bisschen verlegen, denn als ich ihn letzte Woche im Radio gehört habe, musste ich an Gloria denken, und dann musste ich mir den Gedanken gleich wieder aus dem Kopf schlagen, weil sie meine Gefühle vielleicht gar nicht erwidert.
Als ich um die Ecke biege und sie direkt vor ihrem Dienstzimmer stehen sehe, werden meine Schritte ruckartig schneller, und ich muss so tun, als sei das ganz natürlich. An dieser Frau ist irgendwas anders. Schwer zu erklären, aber an ihrem Gang und ihrer Haltung kann man schon erkennen, wie sehr sie ihren Beruf liebt und dass sie verlässlich ist, dass man auf sie zählen kann. Das gefällt mir. Sie ist ganz anders als die Mädchen, die ich aus meiner Jugend kenne, von denen keins Interesse am College hatte und die jetzt alle schon seit Jahren verheiratet sind. Diejenigen, die noch frei sind, haben entweder was mit Hafenarbeitern am Laufen oder sind Rumtreiberinnen aus San Pedro, zehn Jahre jünger als ich, die nichts weiter vom Leben erwarten, als nach der Highschool im Grinder zu kellnern, bis sie sich auch einen Hafenarbeiter angeln, zu Hause sitzen, Kinder kriegen und Soaps gucken können, und zweimal im Jahr Urlaub auf Catalina Island machen – Balkan-Hawaii, wie meine Mutter es nennt.
Das Wort Hawaii überfällt mich hinterrücks, und wieder denke ich an Gutierrez und was passiert ist und wie ich es hätte verhindern können. Ich schlucke es runter. Ich stelle mir vor, wie ich den Typen finde, ihn überrasche, ihn dafür bezahlen lasse.
Aber auch diesen Gedanken versuche ich tief im Inneren zu vergraben, weil Schwester Gloria jetzt gerade mit der großen blonden Schwester redet – wie heißt die noch? Das vergesse ich immer, aber die Frau ist wie der Schnellvorlauf am Videorecorder. Das zweite Mal, dass ich überhaupt mit ihr rede, fragt sie mich schon, ob ich mit ihr ausgehen will, und natürlich war ich geschmeichelt, und sie sieht auch gut aus, aber es hat mich ein bisschen abgeschreckt. Ich bin wohl eher konservativ. Ich frage lieber selbst. So bin ich erzogen worden.
Jedenfalls sieht die Blonde mich kommen und gibt Gloria mit dem Kopf so ein Zeichen. Die dreht sich um und sieht mich an und – wenn sie mich manchmal so ansieht, weiß ich nicht, ob ich genau richtig oder nicht gut genug bin. Das ist so ein Mittelding-Blick, den ich nicht einordnen kann. Ich versuche so was wie ein Lächeln zustande zu bringen, aber ich muss immer dran denken, wie klebrig das Lenkrad sich angefühlt hat.
«Guten Morgen, Schwester Gloria», sage ich, und es klingt leiser als gewollt.
Vielleicht ist es albern, sie so anzureden, aber ich kann nichts dagegen machen. In meinem Beruf wird jeder bloß mit Nachnamen angeredet, und ich schätze, hier ist das so ähnlich, weil ich nämlich auf den Namensschildern immer nur Nachnamen sehe. Als ich sie also einmal zufällig treffe und mit Schwester Rubio anspreche, da sagt sie gleich, ich soll sie Gloria nennen, und ehe ich richtig überlege, platzt mir Schwester Gloria raus, und sie lacht und nennt mich Feuerwehrmann Anthony, und das war’s dann.
«Guten Morgen, Feuerwehrmann Anthony», sagt sie.
Es fühlt sich gut an, wie sie das sagt, vertraut. Da sie nicht lächelt, lächle ich auch nicht. Sie scheint nicht unglücklich darüber, mich zu sehen, aber auch nicht gerade glücklich. Aber ich merke, hinter diesen Augen geht irgendwas vor, und ich weiß nicht, was es ist, aber ich will es herausfinden. Sie hat ein so gutes Pokerface, dass ich mich manchmal frage, wo sie wohl aufgewachsen ist, ob es dort wohl hart zuging, weil ich das Gefühl habe, sie kann ihre Härte an- und wieder ausknipsen wie einen Lichtschalter.
Ich schaue auf meine Hände und sehe, dass nicht alles Blut von den Fingernägeln abgegangen ist, also stecke ich sie in die Hosentaschen, als sie fragt: «Nach allem, was so reinkommt, sieht es da draußen nicht gut aus. Was ist da los?»
Sie berührt meinen Arm mit den Fingerspitzen und lässt die Hand schnell wieder fallen. Die Berührung ist so sacht, dass ich mir denke, es könnte ein Versehen gewesen sein, aber ich hoffe, das war es nicht. Wegen dieses Augenblicks möchte ich ihr so präzise wie möglich erzählen, was in der Sackgasse und mit Gutierrez passiert ist, aber ich bringe keine Sätze heraus, nicht einmal richtige Wörter, also sage ich letztlich nur: «Äh.»
Es kommt mir vor, als würde ich im Leerlauf steckenbleiben, und das Schlimmste ist, ich würde gern losfahren, den Gang einlegen, aber mein Hirn macht einfach nicht mit. Was für ein Volltrottel.
Sie denkt wahrscheinlich genau das Gleiche, denn jetzt schaut sie mich an, mustert mich nicht direkt, versucht eher herauszufinden, was mit mir nicht stimmt, kann es aber nicht so recht einordnen. Fast so, als würde sie mir eine Diagnose stellen. So vergeht ein unbehaglicher Moment, ich schaue auf ihre weißen Schwesternschuhe und sehe, dass sie nur innen abgeschabt sind, vielleicht reibt sie die aneinander, ohne es wirklich zu merken, aber ich sage nichts, und sie sagt auch nichts. Sie sieht mich nur an, und da merke ich, ich muss das Schweigen irgendwie brechen, muss genau jetzt irgendetwas sagen.
«Sorgen Sie bloß gut für ihn», sage ich schließlich.
Ich zucke ein bisschen zusammen, kaum dass ich das gesagt habe. Idiot! Das ergibt doch gar keinen Sinn, weil ich ihr nichts von Gutierrez erzählt habe oder wo er ist, und dabei fällt mir ein, dass ich schon zu lange geblieben bin, aber ich kriege einfach keine Worte dafür zusammen, wie gut es war, sie nur zu sehen, darum sage ich gar nichts. Alle warten auf mich.
Ich muss wieder los, denke ich.
«Sie müssen wieder los», sagt sie, als würde sie meine Gedanken lesen.
Das war’s. Ich werde niemals gegen diese Frau Karten spielen, aber ich muss zugeben, die Vorstellung, sie in meinem Team zu haben, ist was ganz anderes. Ich muss den Kopf ein bisschen schräg gelegt haben bei diesem Gedanken, denn sie schenkt mir ein kleines Lächeln, das jede Erwiderung unmöglich macht.
«Sehen Sie sich vor da draußen», sagt sie.
Ihr Tonfall ist so höflich, aber es klingt trotzdem fast wie ein Befehl – ein höflicher Befehl –, weshalb ich nicht weiß, was ich sagen soll, sondern nur halb automatisch nicke und gehe. Ich bin so frustriert und verlegen über den Verlauf unseres Gesprächs, dass ich mich nicht mal mehr umdrehe. Ich ziehe bloß die Hände aus den Taschen und schaue noch mal auf meine Nägel, immer noch Blut an Zeigefinger und Ringfinger, und ich denke wieder an Gutierrez, an Junior und den Anruf, den er und seine Mama bald kriegen werden, der ihnen mitteilen wird, was los ist, und ich gehe schneller.
4 Ich schieb’s weg. Das gebe ich zu. Ich packe alles, was eben passiert ist, in eine Kiste in mir drin und versuche, sie nicht mehr zu öffnen. Die Sirenen schweigen, als wir wieder rausfahren, und diesmal fahre ich nicht vorne. Das Fahrzeug des Zugführers ist wieder da, wo es hingehört, und das ist gut, denn ich bin im Augenblick nicht hundertprozentig da. Ich fahre in der Mitte, von vorne und von hinten geschützt.
Wir haben einen Neuen an Guts Stelle, McPherson, und wir fahren wieder nach Norden, eine kleine Lichterkolonne auf dem Freeway. Der Zugführer gibt über Funk schon eine Adresse durch, den neusten Gewinner der Feuerwehrlotterie von Los Angeles, aber ich höre gar nicht richtig hin. Ich versuche mit aller Macht, nicht an der Kiste herumzufummeln, in der die Gedanken an Gutierrez und seine Familie stecken, oder an die so schlecht gelaufene Begegnung mit Schwester Gloria, oder daran, was ich im Gesicht dieses Gangsters mit einem Hammer anrichten würde, und darum bleibe ich einfach in der Formation. Ich versuche, mich abzulenken. Ich überlege, wie viele Gebäude wohl abbrennen werden, weil einfach nicht genug Löschzüge da sind.
Aber eins ist wirklich zum Totlachen: was die Nachrichten aus all diesen Bränden machen. Die Fernsehtypen kommen einfach nicht damit klar, dass die Leute ihre eigenen Viertel in Brand stecken. Sie finden das traurig, meinen, das ist so eine Art hirnlose, urtümliche Wut. Aber das ist es nicht. Es ist größtenteils geplant, und es passiert meistens aus einem von drei Gründen – aus Missgunst, fürs Chaos oder wegen der Versicherung. Das ist jetzt übrigens keine offizielle Definition oder so was. Sind bloß meine Gedanken. Missgunst ist es, wenn ein Typ den anderen aus irgendeinem Grund nicht abkann und sich daher das Durcheinander zunutze macht und die Sache in die Hand nimmt, sogar die Rassenkonflikte gehören also dazu, was die Schwarzen zum Beispiel den Koreanern antun. Fürs Chaos heißt, dass einfach so absichtlich ein Feuer gelegt wird oder man versucht, ein Verbrechen damit zu vertuschen, oder dass es der Ablenkung dienen soll, um Rettungskräfte irgendwohin zu locken, damit man seine Straftaten ungestört anderswo begehen kann, was die Gangs definitiv tun. Das haben sie schon vor den Unruhen getan, das machen sie während der Unruhen, und sie werden es auch danach noch machen. Ich kann euch jetzt schon sagen, dass ich mich kein bisschen auf diesen Sommer freue. Der ganze Mist, der jetzt passiert, wird Vergeltung fordern, wenn nicht in den nächsten Tagen, dann eben später, vielleicht sogar erst im Sommer. Und als letzter und wahrscheinlichster Grund, die Versicherung: Man hat ein Geschäft in einem heruntergekommenen Stadtteil, das nicht so viel einbringt, wie man möchte, dafür aber gut gegen Feuer versichert ist, wofür man schon viel zu lange happige Prämien bezahlt hat, und dann werden eines Tages die rassistischen Cops freigesprochen, und plötzlich bietet sich die Gelegenheit, den eigenen Laden anzustecken, ohne dafür belangt zu werden – man muss ja nur den Gangs oder den Plünderern die Schuld geben, warum also nicht?
Als ich zum ersten Mal von dem Urteil hörte, saß ich neben Charlie Carrillo auf der Baseballtribüne im Peck Park in Pedro. Carrillo gehört zu den 53ern, aber wir sind auf die gleiche Highschool gegangen und spielen jetzt zusammen im lokalen Baseballteam. Ich bin Catcher. Meiner Meinung nach ist das die wichtigste Position auf dem ganzen Feld. Man kann so ein Freizeitspiel auch ohne Shortstop spielen, wenn es gar nicht anders geht – also acht gegen acht –, aber ohne Catcher? Keine Chance. Der Catcher ist die Konstante. Er zeigt jeden Wurf an, und egal, wie oft auf dem Werferhügel gewechselt wird, der Catcher bleibt. Ohne ihn gibt es kein Spiel. Wie dem auch sei, das Training war gerade vorbei, und zwischen uns stand ein kleines Radio.
Ich sitze also neben Carrillo, als der Nachrichtensprecher die Einzelheiten über den Freispruch von Briseno, Wind und Koon vorliest – wobei mir einfällt, wie unglücklich ist das eigentlich, wenn bei einem Fall, wo es um Rassismus geht, einer der Polizisten Koon heißt, wie «Coon» mit «C», was so viel bedeutet wie «Nigger»? Es wird auch erwähnt, dass die Geschworenen im Fall von Powell nicht zu einem Urteil gelangt sind, aber mich beschäftigt was anderes.
Ich schnalle meine Beinpolster ab und frage Carrillo: «Wieso wird in den Nachrichten eigentlich immer nur von den weißen Polizisten geredet? Briseno ist doch gar nicht weiß, oder?»
«Ich bin ziemlich sicher, dass er Briseño heißt», sagt Carrillo, «und das ist ein Hispano-Name.»
Carrillo ist selbst Hispano, also wird er das wissen.
«Dann ist es doch nicht ganz fair, ihn als weiß zu bezeichnen», sage ich.
«Passt einfach besser zur Story, schätze ich. Weiß gegen Schwarz.»
«Ja klar», sage ich, «aber das verdreht doch die Fakten.»
«Na und», sagt Carrillo, «das machen die doch dauernd. In dem Beruf muss sich kein Mensch verantworten, das weißt du doch. Müsste man im Fernsehen einen Schadensbericht schreiben, wenn man Scheiße gebaut hat, und die Verantwortung dafür übernehmen, so wie wir, würde niemand mehr Fernsehjournalist werden.»
«Stimmt», sage ich, «aber ich glaube, jetzt spielt das sowieso keine Rolle mehr. Hier wird alles in die Luft gehen.»
Ich habe gleich danach bei der Dienststelle angerufen und gefragt, ob sie mich in der Wache brauchen, aber sie meinten, ich sei doch für den nächsten Tag eingeteilt, ich solle einfach dann zur Schicht kommen.
Das habe ich also gemacht, nachdem tatsächlich alles in die Luft gegangen war, noch schlimmer, als alle gedacht hatten. Da wusste ich allerdings noch nicht, dass unser geschätzter schwarzer Bürgermeister im Fernsehen auftreten und sagen würde, es sei jetzt langsam Zeit, die Sache auf die Straßen zu tragen, oder jedenfalls irgendetwas in der Richtung. Die Jungs in der Wache kriegten sich gar nicht mehr ein deswegen. Sie fühlten sich verraten, so als hätte er uns mit diesen Worten vor den Bus geschubst – uns einem größeren Risiko ausgesetzt –, und das kann ich verstehen, ich fühle mich auch verraten, aber ich bin auch Realist. Glaubt ihr wirklich, die Leute sitzen zu Hause rum und warten, was der Bürgermeister sagt, ehe sie anfangen zu randalieren? Eben, ich auch nicht. Die Crips waren in Florence und Normandie schon unterwegs, bevor Bradley im Fernsehen auftrat.
Die Nachwirkungen sehe ich vor mir ausgebreitet, während ich mich darauf vorbereite, mich wieder mitten ins Getümmel zu stürzen. Vom Fahrersitz sieht es so aus, als sei Los Angeles aus der Luft angegriffen worden. Als wären Bomben gefallen. Rechts und links vom Freeway 110 flackern orangerote Inseln, manche in pechschwarzer Umgebung, weil der Brand die Stromversorgung im ganzen Straßenzug unterbrochen hat, und nicht zum ersten Mal denke ich, so muss es in der Hölle aussehen. Man sieht keine Sterne, wie auch schon in den letzten beiden Nächten. Der Baldachin aus schwarzem Qualm, der im Talkessel hängt, ist undurchdringlich.
Ich schaue auf die Anzeige und informiere Cap, dass meine Treibstoffmenge unter ein Viertel gesunken ist, und wenn das bei mir so ist, dann sagt die ungeschriebene Regel, dass es allen anderen genauso geht. Das ist der entscheidende Zeitpunkt, wo der Zugführer entweder beschließt, dass wir alle bei der nächstbesten Gelegenheit nachtanken und vielleicht noch sechs Stunden auf der Piste bleiben, oder alle dafür zum Materialdepot zurückkehren und dabei gleich auch neue Schläuche aufnehmen. Aber über Funk sagt er zu Cap nichts weiter als danke, was mir keinen Hinweis darauf gibt, wozu er eher neigt. Aber eine gewisse Ansage liegt schon darin – halt’s Maul und mach deinen Job.
5 Wir müssen gar nicht so weit fahren wie befürchtet, denn wir werden von einem Brand an der Slauson abberufen und angewiesen, früher vom Freeway abzufahren, weil wir noch dichter an einem anderen Feuer sind. Gebäudebrand Nähe Manchester und Vermont, ein halber Block südlich der Kreuzung. Ich mache meinen Job und bringe uns hin. Die Jungs von der Highway Patrol tun ihren und sperren den Block an beiden Enden ab, halten uns die ganze Straße zum Arbeiten frei, und was noch wichtiger ist, zwei Fluchtwege. Ich parke auf der Vermont, mit der Schnauze Richtung Manchester Avenue, weil das der beste Ausweg ist.
Wir sind bei den 8600er-Hausnummern, Vermont Knolls. Das sieht ganz nach Missgunst aus hier, könnten aber auch Versicherungen sein. Jemand hat nebenan ein Möbelgeschäft in Brand gesteckt, das Koreanern gehört, und die Flammen haben sich zum Nachbargebäude hin ausgebreitet, einen Sandwichladen – VERMONT SANDWICH SHOP, FOOD TO GO steht auf dem Schild, und darunter eine Telefonnummer, die langsam schwarz wird –, und wiederum daneben ist das Universal College of Beauty. Beide scheinen nicht zu retten zu sein. Sie sind schon ziemlich weit runtergebrannt, als wir ankommen. Keine echte Chance, irgendwas zu erhalten, aber wir können ja immerhin das Feuer löschen.
Ich lasse den Motor laufen. Mit einem 200-Liter-Benzintank läuft der Motor ungefähr sechs Stunden. McPherson legt einen Anderthalbzöller, und ich behalte den Pumpendruck im Auge, aber ich muss nicht die ganze Zeit draufstarren. Die Schläuche fördern 480 Liter die Minute, das heißt, ich hätte bei einem Schlauch etwa vier Minuten, wenn wir nur aus dem Tank löschen würden. Tun wir aber nicht. Nur einen Schlauch fahren wir allerdings schon, den hält Suzuki und legt einen schönen Bogen aufs Dach, während zwei Schläuche von einem anderen Fahrzeug die Überreste des Schaufensters übernehmen. Ich drehe den Druck auf 10 Bar hoch, und der Brand ist schon ziemlich niedergekämpft, grauer Rauch und Wasserdampf dringen aus allen verfügbaren Öffnungen. Ich habe einen Förderschlauch vom Hydranten zu meinem Löscher gelegt, um die Wassertanks wiederaufzufüllen, bevor wir abziehen.
Es gehört zu meinem Job, den Überblick zu behalten und schon zu reagieren, bevor es nötig wird. Bei Gutierrez habe ich versagt, weshalb ich die Zuschauer jetzt besonders wachsam im Auge habe. Ich schaue mir alle Gesichter zweimal an, aber keiner hier sieht aus wie ein Gangmitglied. Sie sehen aus wie Eltern und Verwandte. Tatsächlich stehen ältere Leute in losen Gruppen auf der anderen Straßenseite und beobachten uns. Sie machen Fotos, sogar Videos, als wären wir das Unterhaltungsprogramm.
Ein Typ in Shorts und Slippers und ohne Hemd hat einen großen Camcorder auf der linken Schulter und das Auge am Sucher. Er schwitzt, seine Haut glänzt und sieht aus dieser Entfernung beinahe blauschwarz aus. Außerdem hat er in der freien Hand ein Sandwich, von dem er abbeißt. Also, ich bin ja kein Polizist, aber wenn ich den Brandstifter eines noch brennenden Sandwichladens verhaften wollte, würde ich doch als Erstes den cleveren Typen fragen, der direkt gegenüber um was-weiß-ich-wie-viel Uhr morgens – ich schaue auf die Uhr – um 4:02 morgens ein Schinken-Käse-Sandwich isst.
Es ist noch nicht mal 4:08, als die Verkehrspolizisten den Einsatzradius um eine Querstraße erweitern, in deren Nähe eine Einheit der Nationalgarde stationiert ist, und der Zugführer zwei weitere Fahrzeuge dorthin schickt, um den nächsten Brand zu löschen, der dort gerade aufgeflammt ist, aber wir bleiben bei den Überresten des Möbelladens, auch wenn man durch den Rauch jetzt schon das Dachskelett sehen kann. Das sagt alles. Das Gebäude ist hinüber.
Über uns fliegt ein Hubschrauber – sieht nach ABC 7 aus – und hat einen Scheinwerfer auf uns gerichtet, als würden wir auf dem Grund eines tiefen schwarzen Lochs hocken. Die Leute, die hier leben, wissen ganz genau, wie sich das anfühlt. Die wissen, wie hässlich das Leben sein kann. Alle anderen, die Leute, die zu Hause sitzen und sich das alles im Fernsehen angucken, die haben keine Ahnung. Die sind richtig geschockt von den Unruhen. Sie verstehen das alles nicht, weil sie die andere Seite nicht verstehen. Sie begreifen nicht, was mit Leuten passiert, die kein Geld haben und in einer Gegend leben, wo die Kriminalität eine zuverlässige berufliche Perspektive bietet, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt, und damit will ich das gar nicht entschuldigen oder rechtfertigen oder behaupten, es sei unvermeidlich, ich sage nur, wie es ist.
Und eins kann ich euch noch sagen: Diese Leute haben auch keine Vorstellung davon, wie man sich als frischgebackener Rettungssanitäter fühlt, wenn man in meinem Bezirk im Einsatz ist, in einem der heftigsten Gang-Reviere in der Gang-Hauptstadt der Welt. Denen kann man nicht erklären, wie das ist, wenn du als Ersthelfer zu einem Tatort kommst und einen Menschen mit mehrfachen Stichverletzungen vorfindest – neun im oberen Brustbereich und fünf in der Bauchgegend, darunter ein langer Schnitt, als hätte jemand den kleinen zehnjährigen Gangster wie einen Fisch ausnehmen wollen –, und da liegt nun dieses Kind und heult, Rotz läuft ihm über die Wangen, und er verblutet vor deinen Augen, und er kann nur deshalb noch nach Luft schnappen, weil seine Lunge angestochen ist. Natürlich denkst du da überhaupt nicht nach, sondern machst einfach deinen Job. Klar, wenn er durchkommt, wird er den Rest seines Lebens mit künstlichem Darmausgang leben müssen, aber daran denkst du in dem Moment auch nicht, du tust einfach, was du tun musst, wofür du ausgebildet worden bist. Du ziehst die lebensrettenden Maßnahmen durch und lässt ihn ins County Hospital bringen, und wenn du später nach ihm siehst, kriegst zu hören, dass du sein Leben tatsächlich gerettet hast, und eine kurze Weile hast du das Gefühl, deine Arbeit sei sinnvoll – sogar wertvoll –, du kannst sogar mit dem Finger auf deine Arbeit zeigen und sagen: Seht her, ich sorge dafür, dass die Dinge besser werden.
Aber einen Monat und ein paar Wochen später bist du auf denselben Straßen unterwegs und musst den Amtsarzt bei einer Leichenbergung unterstützen – denn dafür haben sie natürlich, um Himmels willen, keine eigenen Mittel –, und als du den Verstorbenen am Grunde eines Abflussgrabens siehst und feststellst, dass er noch nicht zugedeckt wurde, da erkennst du mit langsam heraufkriechendem Schrecken die Wunden wieder – wo die Narben an Rippen und Bauch liegen, die lange über den Unterbauch, wo nicht mehr viel vom Bauchnabel übrig ist, nur eine dunkelrote Wulst, die im Dunkeln glänzt –, die erkennst du, bevor du das Gesicht erkennst. Er ist immer noch zehn. Er wird nie älter werden, weil sie diesmal keine Messer genommen haben. Diesmal haben sie ihn einfach exekutiert, in den Hinterkopf geschossen. Du hast ihn also vor so vielen Leben eingesammelt und zusammengeflickt, und wofür? Um sein Leben zu ändern, zum Besseren zu wenden? Nein. Du hast ihm nur ein paar Tage mehr in der Hölle verschafft. Das ist alles. Das Einzige, was du verlängert hast, war sein Sterben. Wie fühlt sich das an?
Irgendwo da drin steckt eine Wahrheit, und vielleicht ist es diese: Es gibt ein verborgenes Amerika, tief vergraben in jenem, das wir der Welt zeigen, und nur eine kleine Anzahl Menschen kriegt es je zu sehen. Manche von uns sind durch Geburt oder Geographie hineingesperrt, aber wir anderen arbeiten bloß hier. Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehr, Polizei – wir kennen es. Wir sehen es. Wir feilschen mit dem Tod, dort wo wir arbeiten, denn das gehört einfach zu unserem Job. Wir sehen die verschiedenen Schichten, die Ungerechtigkeit, die Unvermeidlichkeit. Trotzdem kämpfen wir auf verlorenem Posten weiter. Wir lavieren darum herum, manchmal stehlen wir sogar etwas aus dieser Welt. Und wenn du dann einen Menschen triffst, der sie anscheinend genauso gut kennt wie du, dann kannst du gar nicht anders als dich fragen, wie es wohl wäre, mit jemandem zusammen zu sein, der Verständnis hat.
Schwester Gloria zieht mich deshalb so an, weil sie offensichtlich unsere ganze Welt versteht, nicht bloß eine Hälfte. Ich muss ihr nicht alles erklären, weil ich ihr vielleicht nicht mal mich selbst erklären muss. Sie hat diese verborgene Seite ebenso gesehen wie ich. Sie weiß, wie der Tod aussieht und wie sich Vergeblichkeit anfühlt. Diese Last trägt sie. Das sehe ich daran, wie sie sich bewegt, wie sie spricht –
«Hey, Yanic», sagt Suzuki, «guck dir das an.»
Er steht neben mir und streckt die Hand aus, bedeutet mir, ich soll ihm meine auch offen hinhalten, was ich auch tue. Ich sehe, dass McPherson an Suzukis Schlauch steht, und Suzuki drückt mir eine eisengraue Pistolenkugel in die Hand, mit zerdrückter Spitze und ohne Hülse, immer noch ein bisschen warm. Ich muss ihn wohl komisch angeguckt haben – was zum Teufel? –, weil er mir vorspielt, wie jemand mit einer Pistole in die Luft schießt, mit dem Mund einen Knall macht und dann mit dem Finger die Flugbahn des Geschosses nachzeichnet, dazu ein leises Pfeifen, es geht ganz bis nach oben und dann wieder runter, ehe es mit einem Klick des Fingernagels auf seinem Helm landet. Ich drehe das Ding in meiner Hand, aber ich sehe ja nicht zum ersten Mal eine Patrone.
Nach jedem Neujahr und jedem 4. Juli fegen wir das Dach der Feuerwache und finden selbst da schon mehr Kleinkaliber-Patronen, als man glauben würde, aber jetzt im Augenblick ist es einfach beschissen viel. Hab das Gefühl, auf der Straße heute Nacht mehr Schrot gesehen zu haben als Fahrbahnmarkierungen. Die schiere Menge haut mich um. Wie viele Feuerwaffen gibt es im Stadtgebiet von L.A., vorsichtig geschätzt? 360000? Das wären ungefähr zehn Prozent, also pro zehn Einwohner eine Waffe. Ihr könnt mir glauben, auf keinen Fall ist die Zahl der Waffenbesitzer, legal oder illegal, auch nur annähernd so niedrig, aber wir wollen ja vorsichtig schätzen. Nehmen wir außerdem einmal an, dass mit wiederum stolzen zehn Prozent dieser Waffen in den letzten 48 Stunden nur einmal geschossen wurde. Das würde bedeuten, dass 36000 Pistolen und Gewehre im Verlauf der schlimmsten Ausschreitungen, die L.A. je erlebt hat, schlimmer als Watts 1965, mindestens einmal abgefeuert wurden. Na klar. Glaubt ihr, ein Gangster wird jemals nur einen einzelnen Schuss abgeben? Und wenn schon, das wären immer noch 36000 Kugeln. Sechsunddreißigtausend. Man käme auf die gleiche Zahl, wenn fünf Prozent der Waffen zweimal abgefeuert würden, oder nur zwei Prozent fünfmal. So richtig will ich das nicht glauben, will es als total verrückt abtun, aber das kann ich nicht. Und diese Zahl ist noch viel zu niedrig, aber noch beängstigender finde ich, dass wir längst nicht aus dem Gröbsten raus sind.
«Gib sie mir zurück», sagt Suzuki. «Die schenke ich meinem Jungen.»
«Wieso solltest du deinem Sohn eine Kugel schenken?», frage ich.
«Weiß ich auch nicht. Vielleicht bohre ich ein Loch rein und ziehe eine Kette durch, dann kann er sie um den Hals tragen. Und ich erzähle ihm, dass die mal seinen Vater getroffen und der sie aufgehalten hat wie Superman.»
Sie ist noch warm, als ich sie ihm zurückgebe. Ich weiß nicht, ob die Wärme von seiner Hand kommt oder ob sie erst vor kurzem abgefeuert wurde. Ich weiß allerdings auch nicht, ob ich das so genau wissen will.
6 Als der Brand eine Straße weiter auch unter Kontrolle ist, teilt uns der Zugführer mit, dass wir zu einem Busbahnhof des RTD in Chinatown fahren, um Material aufzunehmen, weil der Außenposten an der 44th und Arlington zu stark von anderen Einsatzfahrzeugen beansprucht wird, also packen wir schnell ein und fahren die Vermont rauf zur Manchester, dann die Manchester weiter zum Harbor Freeway und nach Norden. Wir fahren im Konvoi nach Downtown rein, und statt die 101 zu nehmen, fahren wir schon an der 4th Street ab, dann bis zur Alameda, dann links ab und wieder nach Norden. Kommt mir im Großen und Ganzen nicht wie der schnellste Weg vor, aber ich nehme an, der, der uns leitet, weiß irgendwas, was ich nicht weiß, also meckere ich nicht.
«Downtown ist gar nicht so schlimm», sagt Suzuki von hinten.
Cap grinst. Er sitzt wieder vorn. Ich muss ihm zugutehalten, dass er kein Wort über das Blut gesagt hat.
«Stimmt», sage ich, «ich habe auch gedacht, es wäre schlimmer, aber wahrscheinlich gibt es hier einfach nicht mehr viel, was man noch plündern kann.»
Downtown ist seit den Siebzigern erledigt, als die Hausbesitzer aufgaben, billig verkauften und ihr Geld auf der Westside oder im Valley investierten. Gleichzeitig machten sich die Slumlords an die Arbeit und die Innenstadt zum unbewohnbarsten Teil von ganz Los Angeles. Skid Row war nie besonders toll, aber jetzt wurde aus der Gosse eine Arrestzelle. Die Ära der Saisonarbeiter und der Landstreicher ging zu Ende, als die Stadt anfing, billige Absteigen abzureißen, die Lebensmittelmärkte wurden ausgedünnt oder verdrängt durch regionale Supermärkte, und Skid Row war kein Heim für Wanderarbeiter mehr, sondern eine Zuflucht für Menschen mit psychischen Störungen oder Drogenproblemen oder beidem. In den Achtzigern machte Crack die Verhältnisse zum Dauerzustand. Jetzt ist überhaupt nicht mehr viel da außer dem Gerichtsgebäude, ein paar Hotels aus der Stummfilmzeit, die mehr als nur frische Farbe brauchen würden, um wieder Glamour auszustrahlen, verlassenen Varietés auf der Main Street und einem Haufen leerer Lagerhäuser.
Als wir die 3rd Street überqueren, sehe ich zwei Frauen mit Kinderwagen, in denen aber keine Kinder liegen, sondern jede Menge Spielzeug, Kisten über Kisten, als wären sie gerade bei Macy’s einkaufen gewesen. Eine hat eine Narbe im Gesicht, vom Ohr die Wange hinunter. Die Narbe ist wulstig und sieht fast aus wie ein Stoßzahn. Natürlich ist das nicht das Gleiche, aber sie erinnert mich an die Schulternarbe dieses Gangtypen, und damit fallen die Dominosteine in meinem Inneren wieder. Mein Hass auf ihn erwacht von neuem. Ich will ihm einen Backstein ins Gesicht schlagen und sehen, wie ihm das gefällt. Der Gedanke zaubert mir ein krankes Grinsen auf die Lippen, aber dann denke ich an Guts. Die blutigen Nachwehen. Wie seine Zunge aussah, als sie sich bewegt hat. Und dann kann ich bloß noch auf die Gebäude starren, an denen wir vorbeifahren.
Die Zeitlupe steckt wieder in meinem Kopf fest. Der Baustein saust herab – das Geräusch beim Aufprall –, ich erinnere mich, es waren zwei; zuerst das Knirschen, als er den Kiefer trifft, dann ein dumpfer Schlag, als der Stein auf den Boden fällt; und mich schaudert. Das Schlimmste war das Gesicht des Angreifers. Bis ich das sah, hätte ich nie gedacht, dass man gleichzeitig die Zähne fletschen und lächeln kann. Ich habe schon die Folgen vieler verzweifelter Taten von verzweifelten Menschen gesehen, aber das war noch mal was anderes. Ich gebe mir selbst das Versprechen, dass er für seine Tat bezahlen wird. Ich werde ihn finden. So ein Gangster hat doch mit Sicherheit ein Vorstrafenregister. Man fällt nicht einfach so morgens aus dem Bett und beschließt, einem Feuerwehrmann einen Stein ins Gesicht zu rammen. Darauf arbeitet man hin.
McPherson unterbricht meinen Gedankengang mit den Worten: «Was da wohl passiert ist?»
Wir überqueren den Freeway 101, ich sehe, was er meint, und plötzlich wird auch verständlich, warum wir den auf dem Hinweg nicht genommen haben. Unter uns brennt ein Fahrzeug. Es scheint keinen Grund dafür zu geben, dass es dort steht, ist bloß ein Jeep, aus dem Rauch quillt. Ist aber unter Kontrolle. Ich lese die Nummer auf dem Löschfahrzeug, das den Schlauch draufhält: Es ist ein 4er.
Suzuki weist darauf hin, dass weder an der Union Station noch auf dem Marktplatz an der Olvera Street ein Auto parkt. Als wir am Ord and Philippe’s an der Ecke vorbeikommen, meldet sich mein Magen. Das French Dip Sandwich wurde in Los Angeles erfunden. Das wissen nicht viele. Erfunden wurde es bei Cole’s, angeblich für einen Kunden mit Gebiss, der kein hartes Brötchen essen konnte, weshalb ihm der Barmann eine Schüssel mit Bratensaft dazustellte, damit er die Kruste darin einweichen konnte, und das wurde dann unter der Bezeichnung au jus bekannt. Bei uns muss man sich für eine Variante entscheiden. Ich persönlich stippe mein Brötchen gern selbst in den jus, also gehe ich zu Cole’s, auch wenn alle anderen in der Wache 57 anscheinend Philippe’s vorziehen, wo sie den jus in der Küche zubereiten und schon auf das Fleisch gießen, fast wie Soße.
Unser Ziel ist ein Busbahnhof an der North Spring Street, zwischen Mesnagers und Wilhardt. Eine der wenigen sicheren Tankstellen in der Stadt. Wenn kein Notstand herrscht, ist es bloß ein Betriebshof des Rapid Transit District, aber jetzt ist es ein provisorischer Befehlsstand für die Polizei von L.A. und ein Materialdepot für uns – Vorräte auffüllen, aufs Klo gehen, zu Hause anrufen, was zu essen besorgen. Es ist eine Sicherheitszone, darum ist es kein Wunder, dass das Gelände bewacht wird, aber jetzt sieht es aus wie in Mad Max, wo alle Sprit für ihre Wagen brauchen und bereit sind, dafür zu töten. Diese Vorstellung klingt fast zu passend für eine autoverrückte Stadt wie Los Angeles, also spreche ich sie aus, und Cap nickt, aber weder Suzuki noch McPherson haben den Film gesehen, ich mache mir also nicht die Mühe, meine Beobachtung zu erklären, sondern sage den beiden auf den billigen Plätzen, sie müssten sich den Film schon selbst anschauen. Als das Schiebetor mit dem Nato-Draht obendrauf aufgeht, fahre ich hinein, dicht vorbei an einer Gruppe von Männern in grünen Uniformen mit M-16-Gewehren.
7 Später, als wir uns von unserer Eskorte aus Ventura County verabschieden, die zu ihrem Stützpunkt beim Freeway 101 an der Vermont zurückkehrt, nennt ein Kollege – Taurino heißt er – die Typen am Eingangstor Ninja Turtles.
Das passt, sie stecken nämlich von Kopf bis Fuß in olivgrünen Uniformen. Sie tragen Oberschenkelschützer und komisch aussehende Armeehelme, überzogen mit dem gleichen grünen Stoff und mit dunklen Visieren, die ihre Augen verdecken. Aus dieser Entfernung sehen sie echt aus wie mannsgroße Schildkröten. Taurino weiß nicht, ob sie zum FBI oder zum ATF gehören, zur Bundesbehörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen, aber auf jeden Fall gehören sie zur Bundespolizei, er hat nämlich gesehen, dass sie von außerhalb eingeflogen wurden und in Los Alamitos gelandet sind, dem Stützpunkt der Nationalgarde.
«Sieht aus, als würden sie zum Einsatz aufbrechen, wer weiß wohin», sagt Taurino. «Ich bin auf jeden Fall froh, dass sie nicht zu mir zu Besuch kommen.»
Ich folge seinem Blick über den Parkplatz und sehe die Ninja Turtles in ein schwarzes Fahrzeug steigen, das wie eine Kreuzung aus Panzer und Riesenjeep mit flacher Schnauze aussieht. Es hat kein Nummernschild oder sonstiges Kennzeichen. Es ist einfach nur schwarz, wie ein metallener Schatten. Es müssen mindestens zwölf Mann sein, und sie sind ausgerüstet wie ein Spezialkommando. Einer hat sogar Patronengurte umhängen wie ein mexikanischer Bandit im Western. Sie sehen zum Fürchten aus. Keine Frage.
Ich verabschiede mich von Taurino und wende mich ab, aber er sagt: «Hey, Sekunde mal.»
Ich drehe mich wieder um, und er flüstert mir zu, dass ich getrocknetes Blut im Nacken kleben habe. Mehr muss er nicht sagen. Ich weiß, das ist von Gutierrez.
Ich zwinge mich zu einem Lächeln, bedanke mich bei Taurino und gehe zu meinem Löscher.
Ich gebe den Verkehrspolizisten nicht die Schuld an dem, was Gutierrez zugestoßen ist. Aber ich sage auch nicht, dass sie nicht schuld sind. Es ist kompliziert. Wenn ich es ein paar Tage habe sacken lassen, kann ich mir überlegen, wer welche Schuld und wie viel davon trägt, denn das muss ich, wenn ich meinen Bericht schreibe.
Ich mache meine Fahrerkabine mit einem Putzmittel sauber, das zur allgemeinen Verwendung bereitsteht, vor allem das Armaturenbrett, das Lenkrad und den Beifahrersitz, auf dem Gutierrez gesessen hat. Ich komme gut klar dabei. Ich halte alles in den richtigen Kästchen im Kopf, und nichts quillt heraus.
Der Morgen dämmert noch nicht, Cap ist schon im Büro und erledigt Papierkram, aber ich gehe erst mal zur Essensausgabe, hole mir was zu beißen und nehme ein frühes Frühstück mit Suzuki, McPherson, ein paar 57ern und ein paar Kollegen von den leichten Löschgruppen, dazu kommen nach und nach noch ein paar Jungs aus anderen Mannschaften, die gerade Material aufstocken. Das Essen ist erträglich. Hat kein Feuerwehrmann gekocht, sonst wäre es besser. Es gibt Haferflocken, Schinkenspeck, Eier, Würstchen, Tortillas, Salsa und Bratkartoffeln, die schon ein bisschen lange warm gehalten werden. Ich nehme Haferflocken, schaufele Rosinen drauf und noch zwei Tütchen Zucker.
Wenn so viele Feuerwehrleute auf einem Haufen sitzen, fünf Klapptische auf dem Asphalt des Busbahnhofs besetzen und nichts anderes zu tun haben als zu essen und sich anzustarren, ist es unvermeidlich, dass sie irgendwann anfangen, Kriegsgeschichten auszutauschen. Und klar, ein Typ von den 58ern – ich kenne ihn nicht – fängt an.
«Habt ihr irgendwo Ärger mit Straßenblockaden gekriegt?»
Die meisten von uns kauen, aber ich nicke, die anderen Maschinisten auch, weil natürlich Leute vor uns auf die Straße marschiert sind, bestenfalls unsere Arbeit behindern wollten und uns schlimmstenfalls in Zielscheiben verwandelt haben. Ein Maschinist erzählt kurz, wie sein Fahrzeug mit Steinen bombardiert wurde und dass die beiden Burschen, die draußen auf den Notsitzen hockten, praktisch ungeschützt waren; sie haben einfach die Helme aufbehalten und die Köpfe eingezogen, und niemand wurde verletzt. Suzuki schaut mich an. McPherson nicht. Es liegt auf der Hand, dass sie beide an Gutierrez denken. Ich bin aber nicht bereit, darüber zu reden, also nicke ich dem Kerl zu, der das Gespräch begonnen hat; er soll weiterreden.
«Also, letzte Nacht bin ich in Koreatown, okay? Wir hatten gerade einen Kaufhausbrand in Beverly Hills erledigt, und jetzt sind wir auf dem Rückweg und werden zu einem Großbrand an der Ecke West Adams und Crenshaw gerufen.» Er hält inne und schaut sich um, ob auch alle zuhören, wir hören, er fährt fort. «Ich dampfe also auf der 6th nach Osten, und direkt hinter der Kreuzung Western Avenue rennt so ein Junge auf die Straße und wedelt mit einer Kanone.»
«Und die richtet er auf dich?», frage ich.
«Nein, eher in die Luft, er wedelt so hektisch mit den Armen und versucht, mich anzuhalten. Wenn ich jetzt drüber nachdenke, bin ich gar nicht mehr sicher, ob er sie überhaupt richtig in der Hand hatte.»
Jemand fragt nach, was das für ein Junge war.
«Koreaner. Mit Brille. Und mit Schulsakko.»
Darauf folgt eine nachdenkliche Pause, denn das kommt unerwartet. So etwas hatte keiner von uns vor Augen, als von einem pistolenschwenkenden Jugendlichen die Rede war.
Ich frage: «Und was hast du dann gemacht?»
«Was soll ich schon machen? Ich habe auf ihn zugehalten, Gas gegeben und gebetet, dass er verdammt noch mal aus dem Weg geht.»
«Keine andere Wahl», sage ich.
«Und, ist er?», will Suzuki wissen. «Aus dem Weg gegangen?»
«Na klar», sagt der Kollege und grinst.
Als Nächstes erzählt einer von den 58ern, sie hätten von einem mexikanischen Gangster gehört, der zahlreiche Brandstiftungen im ganzen Stadtgebiet begangen und jedes Mal eine Zahl und seinen Namen gerufen habe, so als wollte er mitzählen und es außerdem allen mitteilen.
«Nummerr einundzwanzig!», sagt er in übertriebenem Hispano-Akzent, «Das war Puppet! Nummerr sechsundzwanzig! Das war Puppet!»
Der Name auf seiner Uniform lautet Rodriguez, er darf das also.
Nach einigen ungläubigen Seufzern sagt Suzuki: «Mann, in wirklich jeder cholo-Gang gibt es mindestens zwei Puppets! Könnte er nicht einen Namen haben, mit dem man ihn leichter findet? Wie wär’s mit Spaghetti? Wie viele Gangmitglieder gibt es wohl, die Spaghetti heißen?»
Die meisten lachen, weil sie wissen, dass er recht hat.
Danach wird die Stimmung gedämpfter, weil ein Maschinist von den 94ern fragt, ob wir was von Miller gehört haben. Die 94er konnten übrigens nicht mal die Wache verlassen, weil sie aus der Nachbarschaft mit schwerem Feuer belegt wurden, und sie hätten womöglich die ganze Nacht dort festgesessen, wenn nicht ein Sondereinsatzkommando die Straße freigeschossen hätte.
«Ich habe gehört, dass Miller getroffen wurde, aber mehr weiß ich nicht», sagt McPherson.
Die bisher bekannten Einzelheiten sind immer noch vage. Mittwochabend hat Miller einen Leiterwagen gesteuert, wurde dabei in den Hals geschossen und hat einen Hirnschlag erlitten. Der Schütze ist neben ihm gefahren und hat ihn einfach abgeknallt, weil er eine Uniform anhatte und ein Feuerwehrauto fuhr, nehme ich an. Miller ist operiert worden, sein Zustand ist stabil, aber mehr wissen wir auch nicht.
Ich bin Miller ein paarmal begegnet, und ich mag ihn. Er ist nicht so ein typischer Einsatzfahrer, so großes Maul und breite Beine – im Grunde sind die meisten wie die Motorrad-Cops auf dem Highway, bloß dass sie Leitern zwischen den Beinen haben. Aber Miller nicht, der ist zurückhaltend. Und das Schlimmste ist, er hat sich erst vor zwei Monaten von den 58ern versetzen lassen, rüber an die Westside, wo es weniger wild zugeht, und dann so was.
«Das ist echt scheiße», sagt Suzuki.
Das Gefühl teilen alle. Wir finden es alle scheiße, aber wir halten den Mund. Wir sagen nicht, dass wir hoffen, dass er durchkommt, weil das sowieso auf der Hand liegt. Das muss man nicht aussprechen. Als ich meine Haferflocken aufgegessen habe, geht’s in der Unterhaltung um Kugeln, die vom Himmel fallen.
Das ist Suzukis Stichwort, seine Patrone rumgehen zu lassen, also stehe ich auf, ich habe sie ja schon gesehen. Ich stelle meine Schüssel mit dem Löffel auf den Essenswagen für die Geschirrrückgabe, gehe aufs Klo, um mir noch mal gründlich das Blut vom Genick zu waschen, und als ich damit fertig bin, schlendere ich rüber zum Befehlsstand der Polizei am anderen Ende des Betriebshofs, und mein Kragen klebt hinten nass und glatt an der Haut.
8 Bei der Polizei frage ich, ob ich ihr Mobiltelefon leihen kann, und ein junger Polizist reicht es mir. Es hat eine schwarze ausziehbare Antenne, ein kleines Display, eine graue Hülle, weiße Zahlentasten mit einer grünen Lampe darunter, die sie beleuchtet, noch ein paar Knöpfe, von deren Funktion ich keine Ahnung habe, und eine quadratische Sprechmuschel, die alle Tasten verdecken würde, wäre sie nicht an einem Scharnier aufgeklappt. Ein erstaunliches Ding, ganz ohne Kabel. Ich tippe die Nummer unserer Wache ein und drücke auf den grünen Knopf mit der Aufschrift SND, was wohl Senden heißt und die Verbindung herstellt, und so ist es auch, ich höre ein Freizeichen.
Als Rogowski sich meldet, frage ich ihn: «Irgendwas von Gutierrez gehört?»
«Operiert», antwortet er. «Ist gerade wieder rausgekommen. Rücken und Hals sind okay, aber seine Kiefer haben sie zugedrahtet und eine Platte reingeschraubt. War aus dem Gelenk gesprungen und an zwei Stellen gebrochen.»
«Aber er wird wieder gesund?» Ich halte den Atem an.
«Ja», sagt Rogowski. «Er wird eine ganze Weile durch den Strohhalm essen, Monate vielleicht, aber er wird wieder gesund. Ich habe gehört, du warst richtig gut. Hast dir nichts sagen lassen. Es heißt, du bist so schnell da raus, dass der Zugführer gar keine Wahl hatte und alle anweisen musste, dir ins Krankenhaus zu folgen.»
«Davon weiß ich nichts», sage ich, aber beim Ausatmen löst sich etwas in mir drin, die Schwerkraft wiegt ein bisschen weniger schwer. Ich frage mich, wo Rogowski diese Informationen herhat, aber dann denke ich, dass vorher bestimmt schon einmal der Captain angerufen hat, wahrscheinlich als ich die Kabine geputzt habe.
«Also, seine Familie ist schon benachrichtigt, sie sind unterwegs.» Rogowski versucht jetzt bloß noch, mich zu beruhigen. «Ist nicht toll, aber so gut wie es unter den Umständen sein kann. Du hast das gut gemacht.»
Ich glaube, danach muss ich gar nichts mehr weiter hören, aber Rogowski lacht und wechselt zu einem Thema, vor dem ich mich schon heimlich gefürchtet habe. Meine Mutter hat zu jeder vollen Stunde angerufen, um zu hören, ob es mir gutgeht. Ich bedanke mich bei Rogowski, lege auf und rufe sie an. Sie nimmt beim ersten Klingeln ab, als hätte sie neben dem Telefon gesessen. Hat sie wahrscheinlich auch.
«Was machst du, dušo?», fragt sie.
Meine Mutter spricht immer noch mit starkem kroatischem Akzent, sie kann nicht anders. Ihre Zunge ändert sich nicht. Dušo ist einfach ein Kosewort, so wie manche Leute ein «Schatz» an Sätze hängen, die sie zu einem geliebten Menschen sagen. Das ist übrigens immer ihre allererste Frage an mich, egal, wo ich bin und was ich tue. Immer diese Worte. Bei ihr heißt das alles Mögliche gleichzeitig, zum Beispiel Wo bist du, wie geht es dir, und hast du was gegessen?
«Mir geht’s gut, Mama. Ich bin in der Einsatzzentrale in Chinatown. Ich habe gerade gegessen.»
«Was hast du gegessen?»
«Haferflocken.»
«Das ist doch keine Mahlzeit», sagt sie.
Für meine Mutter ist nur ein Menü aus zwei Gängen, von denen einer Pasta sein muss, eine echte Mahlzeit. In ihrer Welt gilt: Wenn ich keine Pasta gegessen habe, habe ich nicht genug gegessen. Lohnt nicht, sich darüber zu streiten. Ich frage sie, wie es ihr geht.
«Ich bleibe in Haus. Ich mach Wäsche.»
Meine Mutter erzählt Lügen über so manches – wie viel kruškovac sie heimlich getrunken hat, wie viele Messer in ihrem Haus versteckt sind, wie wenig sie ihre allerbesten Freundinnen hasst –, aber wenn es um Hausarbeit geht, lügt sie nie. Sie tut bestimmt das, was sie sagt, aber sie sieht dabei fern, und das heißt, sie sieht Nachrichten, und das heißt, sie macht sich Sorgen um mich, und wenn sie sich Sorgen macht, ruft sie in der Wache an, um nach mir zu fragen.
«Welches Haus?», frage ich, nur um sicherzugehen.
Ich wohne drei Häuser neben meinem Elternhaus, in dem meine Mutter immer noch wohnt, auf der West 21st, zwischen Cabrillo und Alma – auf der nördlichen Straßenseite, von wo man auf den Hafen hinuntersieht. Trotzdem hat meine Mutter das Gefühl, dass wir zu weit voneinander entfernt sind. Mein Vater ist diesen Winter gestorben, Herzinfarkt. Deswegen ist im Augenblick jeder Abstand zu groß für meine Mutter.
«Deins. Ist hübscher», sagt sie.
Das meint sie nicht so. Sie findet mein Haus nicht hübscher. Ich bereue oft, dass ich meiner Mutter den Schlüssel gegeben habe. Sie weiß, ich mag es nicht, wenn sie in meiner Abwesenheit allein dort ist – meine Post liest, in Medizinschränken herumschnüffelt, Schubladen aufzieht, was sie alles trotzdem macht – aber im Augenblick lässt es sich nicht ändern. Muss ich sie eben später anschreien. Ich glaube, sie tut das, weil sie sich mir dadurch näher fühlt und weil sie so aus dem Haus rauskommt, das sie über siebenunddreißig Jahre mit meinem Vater geteilt hat. Aber eins muss ich ihr auf alle Fälle sagen.
«Mama», sage ich, «ruf nicht mehr auf der Wache an.»
«Ich denke an dich, dann rufe ich an.»
«Mama.» Ich versuche, meine Stimme ruhig zu halten, obwohl sie mich in den Wahnsinn treibt. «In solchen Ausnahmesituationen brauchen wir jede freie Leitung, damit die Leute mit wirklichen Notfällen zu uns durchkommen.»
«Wenn ich nicht weiß, wo du bist», sagt sie, «ist Notfall für mich.»
«Tschüs, Mama», sage ich mit zusammengebissenen Zähnen.
«Dušo. Iss was. Iss was Richtiges. Für mich. Bitte. Und außerdem –»
Ich drücke auf den roten «Auflegen»-Knopf und gebe dem Polizisten das Telefon zurück. Er sagt nichts, aber sein Blick sagt: Mütter – man kann nicht mit ihnen leben, man kann sie nicht umbringen. Sein Name ist Najarian, wahrscheinlich armenisch, und wenn das stimmt, versteht er mich vielleicht. Er trägt seine blaue Uniform so, wie man es beim LAPD macht, ein Dreieck ihres albernen weißen Unterhemds guckt zwischen den Kragenecken raus. Er ist noch jung, Anfang zwanzig vielleicht, und wirkt ganz eifrig mit seinem glatt zurückgekämmten schwarzen Haar. Ich frage mich, was er wohl sonst für einen Job hat, dass er sich während der Unruhen so einen Posten angeln kann.
Neben Najarian sehe ich ein Fass, in dem lauter Schrotflinten mit den Kolben nach oben stecken, wie ein Blumenstrauß ohne Blüten, nur Stängel. Müssen mindestens dreißig Stück sein. Die ganzen Kugeln fallen mir wieder ein, und es ist wohl schlicht morbide Neugier, die mich zu der Frage treibt, wie viele Leute während der Unruhen wohl schon umgebracht wurden. Ob er eine ungefähre Ahnung hat.
«Oh», sagt er, «das müssen Sie sich angucken.»
Ich folge ihm, weg vom Gebäude zu einem großen Sattelanhänger, der abseits der langen Reihe von Rettungswagen steht, abseits von allem eigentlich. Er hat keine Zugmaschine vorgespannt, was in einem Betriebshof nicht unbedingt ungewöhnlich ist, aber dann fällt mir auf, dass es ein Kühlwagen ist, und eins ist seltsam: Er brummt.
«Machen Sie ihn auf», sagt Najarian.
So langsam habe ich das Gefühl, dass ich hier in eine Sache hineingezogen werde, mit der ich nichts zu tun haben will.
«Ist schon gut», sage ich.
«Nein, im Ernst», sagt Najarian lächelnd, «machen Sie auf.»
Najarian zeigt auf die drei Gitterstufen, weil man von dort die Tür am leichtesten öffnen kann.
Der Morgen dämmert allmählich hinter dem Spitzdach des Busdepots – na ja, sehr allmählich. Schwach leuchtendes Orange wird durch die schwarzen Rauchschwaden und Wolken über uns gefiltert und glänzt auf der Seitenwand des Anhängers.
«Sie müssen erst daran ziehen.» Najarian zeigt auf einen Metallstab, den ich erst aus seiner Verriegelung nehmen muss, ehe ich die Türen öffnen kann.
Ich gehe die kleine Treppe hinauf und löse den Riegel, worauf die rechte Tür von allein aufgeht und mich eine Nebelwolke und ein Schwall kalter Luft trifft. Erst als ich wieder herunterspringe, wird mir klar, dass ich in ein fahrbares Leichenhaus schaue. Neun – nein, zehn Leichen liegen auf Edelstahlregalen, die wie Stockbetten an die Wände des Anhängers gebaut sind, jeder Körper in weißes Tuch gehüllt.
Najarian klettert rauf und geht hinein. Er drückt auch die linke Tür auf.
Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf. Die Cops knallen einfach Leute ab. Wenn das stimmt, kann ich es ihnen überhaupt nicht verdenken, nicht nach allem, was ich heute Nacht gesehen habe. Eine Sekunde wünsche ich mir, der Gangster, der Guts erwischt hat, läge auch da drinnen. Aber nur eine Sekunde.
«Dieser hier», sagt Najarian und zieht das Tuch von einer Leiche, «wurde gestern Nachmittag abgelegt, hier an der Spring Street, gleich da drüben.» Er zeigt auf den Zaun zwischen uns und der Straße. «War ziemlich verdächtig, denn vor dem Schichtwechsel war der noch nicht da, danach aber schon, es muss also genau während des Wechsels passiert sein, und das heißt, sie wussten Bescheid, wann der ist, oder sie hatten ziemliches Glück. Jedenfalls richtig raffiniert.»
Er hat das Laken jetzt ganz weggezogen, aber ich sehe nicht, womit ich gerechnet habe. Statt eines Gesichts sehe ich ein Flanellhemd, schwarz-weiß gestreift.
Najarian deutet mit dem Kopf darauf. «Unheimlich, oder? Wieso verdecken sie sein Gesicht so, wenn es nicht total weggeschossen ist? Ich habe nachgesehen. Ist alles noch da, nur die Wange ist ein bisschen eingedrückt und ein Ohr fehlt, aber daran ist er nicht gestorben. Er wurde erstochen.»
Mir kommt es gar nicht so unheimlich vor. Für mich heißt das nur, das Hemd haben ihm nicht die aufs Gesicht gelegt, die ihn verletzt haben. Denn wer das getan hat, dem hat er etwas bedeutet. Sieht fast so aus, als wollte man nicht, dass er friert. Und noch was: Wie die Ärmel umgeschlagen und herumgewickelt sind – das trifft mich, ich weiß nicht wieso –, die Hemdsärmel sind fast unter seinem Kopf festgefroren, aber sie sind so gefaltet worden, fast wie ein Kissen, fast wie das, was ich für Gutierrez gefaltet habe, nur anders, denn ich weiß – auch wenn ich nicht weiß, woher –, dass jemand das für ihn getan hat, nachdem er gestorben ist. Für mich sieht das aus wie ein Abschiedsgruß, so wie manche Leute den Verstorbenen etwas für die Reise mit in den Sarg geben.
Nein, denke ich, nicht unheimlich. Irgendjemandem hat er bloß unheimlich viel bedeutet, wer er auch war.
Als Najarian das Laken wieder über ihn breitet, greife ich wie automatisch nach meiner Halskette, an der mein Medaillon von St. Antonius hängt, mein Namenspatron, und im Kopf spreche ich ein kurzes Gebet für den Mann unterm Flanellhemd, egal, wer er war und wie er hier gelandet ist, und dafür, dass sein Leichnam sicher nach Hause kommt, damit seine Familie immerhin diesen Trost finden kann.