Bennett Galvez
alias Trouble
alias Trouble G.
2. MAI 1992
01:09 UHR
1 Wenn ich ’ne krasse Sache vorhabe, dann fange ich nicht an zu zittern, sondern zu schwitzen. Mir wird richtig heiß im Nacken, fühlt sich an wie Sonnenbrand oder so, und alles wird glitschig. Kann ich nichts gegen machen. So bin ich gebaut. Ist, wie es ist. Jetzt grad ducke ich mich in meinen Kragen, damit der Stoff den Schweiß aufsaugt, wir sind mit drei Wagen unterwegs, dieses Ding durchzuziehen, und ich lebe nur noch dafür, diese Bitch Payasa in einer Pfütze von ihrem eigenen Blut zu ertränken, weil da, wo ich herkomme, da bezahlst du, wenn du meiner Familie so was antust. Ich will, dass sie fühlt, was ich in den letzten Tagen gefühlt habe. Das brauche ich. Wenn man mir die einzige Schwester und den einzigen Bruder nimmt, kann man nichts anderes erwarten.
Ich hab das noch keinem erzählt, aber ich brenne richtig, seit Ramiro vor meinen Augen gestorben ist. Mein Körper fühlt sich nicht mehr richtig an. Manchmal ist es so eine schwache Hitze in den Füßen, unter den Sohlen, und außerdem in den Kniekehlen, manchmal kommt es mir vor, als würde mein ganzer Körper brennen, und ich kann es nicht aufhalten. Manchmal verändert sich die Hitze mit meinen Gedanken, je nachdem, was ich denke. Dann wird es heißer, wenn ich es im Kopf noch mal durchspiele. Kann ich nichts gegen machen.
Ich war im Wohnzimmer und wartete auf das Bier, das mein Mädchen mir aus der Küche holen sollte, und ich weiß noch, wie gut ich mich fühlte, weil wir einen von ihnen erwischt hatten, diesen Ernesto. Endlich! Fühlte sich richtig gut an, versteht ihr? Über einen Monat mussten wir warten, dass wir meine kleine Schwester rächen konnten. Meine Eltern mussten ins Fernsehen, in die Nachrichten und alles. Wir mussten die Trauerfeier zu Hause abhalten, der Sarg neben dem ausgeschalteten Fernseher, das hat den Bestattern gar nicht gefallen, aber sie haben’s gemacht, weil ich sie bezahlt habe, und ich hab sie bezahlt, weil meine Mutter sich umgebracht hätte, wenn ihre Kleine nicht wenigstens noch ein einziges Mal nach Hause gekommen wär. Danach mussten wir in Kolonne raus zum Friedhof, um sie zu begraben. Ich musste zusehen, wie meine kleine Schwester in der Erde verschwand, durch diesen fetten grünen Rand aus Kunstrasen um das Loch rum. Ich musste direkt daneben stehen und die Zahnräder des kleinen Hubkrans knirschen hören, der sie in den Boden senkte. Hat sich angehört wie ein Hund, der an einer Metallkette kaut. Ich glaube, dieses Geräusch kann ich niemals vergessen, obwohl ich es will. Ich musste als Erster Erde in die Grube schaufeln, weil mein Dad es nicht konnte. Wollte schon, aber konnte nicht. Er saß in seinem Rollstuhl und hatte den Hut in der Hand, also mussten Joker und ich ans Grab gehen und Erde auf den Sarg unserer kleinen Schwester werfen. Auf unsere Yesenia. Und als die Erde aufs Holz klopfte, fing unsere Mutter an zu heulen. Ganz hoch. Das Geräusch vergisst du auch nicht. Das bleibt dir im Ohr. Manchmal wachst du nachts davon auf.
Also, als ich hörte, dass dieser Typ vom Tacos El Unico-Wagen mit Lil Mosco verwandt war, der unsere Yesenia umgebracht hat, sogar sein richtiger großer Bruder war, was ich vorher nicht wusste, weil er ja überhaupt nicht drin war, da war die Sache natürlich klar. Vorher hatte er gar keinen Namen. Nachdem ich das erfahren hatte, war er für mich Lil Moscos toter Bruder. So hab ich ihn vor allen meinen Homies genannt, und zuerst haben sie gelacht, weil sie wohl nicht wussten, wie ernst es mir war.
Um ehrlich zu sein, es war mir scheißegal, ob er drin war oder nicht. Wie ich das sehe, hat Lil Mosco ihn selbst ins Spiel gebracht. Wenn Lil Mosco meine Schwester umbringt und verschwindet, dann ist es, wie es ist. Im Grunde hat Lil Mosco seinen großen Bruder selbst umgebracht, als er diese feige Nummer abgezogen hat, anstatt wie ein Mann das zu nehmen, was auf ihn zukommt. Als die Stadt also beschließt, wegen Rodney King und dieser Scheiße einen Krieg anzuzetteln, da denk ich mir, es wird Zeit, Joker, dem Arschloch, zu folgen und uns ein bisschen was von dem zurückzuholen, was sie uns mit unserer Yesenia genommen haben. Wir haben nicht den gekriegt, den wir wollten, nicht Lil Mosco, aber einen von ihnen, und damit waren wir quitt. Meine kleine Schwester, dein großer Bruder. Faire Sache, dachte ich. Das war’s, dachte ich.
Und dann stand ich am selben Abend in diesem Wohnzimmer und guckte nach oben auf den Fernseher, wo das Tuch mit den Kanarienvögeln drauflag, das meine Mutter dreimal gefaltet hatte, damit es nicht zu weit runterhing, und auf dem Tuch standen die ganzen großen und glänzenden Gebetskerzen mit Heiligen drauf, und Jesus mit einem fetten roten Herz, das vor seiner Brust schwebt. Und davor ein Bild von meiner kleinen Schwester, lächelnd und mit Zahnklammer, obwohl das Ding ihr immer heftig in den Mund geschnitten hat, und Ramiro und ich hätten auch eine gebraucht, aber da war mein Dad schon arbeitsunfähig, und die Ersparnisse reichten gerade für ihre, und links vom Fernseher war noch der leere Platz, wo ihr Sarg bei der Trauerfeier gestanden hatte, und ich weiß noch, an dem Abend, nachdem Ernesto gestorben war, habe ich auf das Stück Teppich geschaut, wo ihre Leiche gewesen war, und es kam mir nicht mehr so leer vor, versteht ihr? War auch nicht voll, aber immerhin. Sie war gerächt. Jemand hatte dafür bezahlt.
Was dann passiert ist, macht mich immer noch fertig. Ich sehe im Kopf ständig Wiederholungen davon, die nie aufhören. Geht immer weiter, immer weiter. Es fängt mit meinem Mädchen an, die kommt mit dem Bier in so einem glänzenden roten Plastikbecher, sie lächelt, als wär sie stolz auf mich, schiebt sich mit der anderen Hand die Haare hinters Ohr, und dann einfach so peng. Draußen. Ein Schuss. Mein Mädchen zuckt zusammen, weil sie so überrascht ist, das Bier schwappt aus dem Becher und durch die Luft auf mich zu, und als es mich trifft, sind mein Hemd unten und meine Shorts oben klitschnass.
Ich weiß, der Knall war eine Knarre, das weiß ich schon, als ich mich zur großen Glasterrassentür wende. Über die anderen Köpfe hinweg sehe ich Joker fallen, Blut spritzt aus seinem Ohr oder Hals oder was weiß ich, und als ich das sehe, da bricht das letzte Gute in mir, das einzig Gute, was ich noch hatte, das bricht in eine Million Stücke, aber das weiß ich noch nicht, denn ich kann nur das Mädchen mit den Spitzenhandschuhen und der hocherhobenen Glock ansehen, die jetzt auf Fox zielt und ihm die Brust hinten aus dem Rücken schießt, da kommt so viel Blut, dass es aussieht, als hätte jemand eine Ketchupflasche an die Wand geschmissen und die wär explodiert, und –
Jetzt sagt Momo vom Rücksitz zu mir: «Alles in Ordnung bei dir oder was?»
Ist eigentlich keine richtige Frage. Klingt eher so überlegen, wie er das sagt, so als wär er was Besseres. Aber wenn er nichts gesagt hätte, dann hätte ich gar nicht gemerkt, dass ich meinen Kragen in beiden Händen halte und übers nasse Genick hin und her ziehe wie ein Handtuch oder so. Muss ich schon länger gemacht haben, ohne es zu merken.
«Mach dir um mich keine Sorgen», sage ich. «Kümmere dich um dich selbst.»
Aber ich lasse den Kragen los. Lege die Hände in den Schoß. Wir sind fast da. Fast beim Boardwalk, den die Wichser so mögen. Gleich bringen wir es zu Ende.
In letzter Zeit bin ich öfter so, stecke irgendwie so in mir fest, verliere Zeit und Umgebung aus den Augen. Ist, wie es ist. Ging mir schon so, als es meine Schwester erwischt hat, aber nicht ganz so schlimm, weil es nicht vor meinen Augen passiert ist. Ihr Blut hab ich nicht gesehen. Aber Jokers? Und wie. Zu viel.
Ich erinnere mich, wie ich zur Terrassentür renne, während alle anderen davon weglaufen, dann fallen noch mehr Schüsse, und ich kann nicht richtig sehen, weil zu viele Leute vor mir sind, und ich schreie sie an, sie sollen sich verpissen, die Tür gleitet weiter auf, und da höre ich so ein lautes Buumm, wie der Knall eines Revolvers, Kaliber .357 oder .44, ein fettes Teil. Ist mir aber egal, wo das herkommt, ich drängle mich zur Tür und trete und boxe die Idioten aus dem Weg, mir scheißegal, ich will bloß zu Ramiro, und als ich aus der Tür komme, hab ich ganz vergessen, dass da zwei Betonstufen sind, ich stolpere und knalle voll hin, reiße mir übel das linke Knie und beide Hände auf, spüre ich aber gar nicht, ich steh auf und bin neben ihm, und er atmet noch und guckt mich an, und dabei zittert er irgendwie so am ganzen Körper, und er versucht … was? Zu reden? Und das einzige Wort, das ich noch sagen kann, ist nein, und das sage ich immer und immer wieder, so oft und so schnell, dass es gar nichts mehr bedeutet. Es ist bloß noch so ein Geräusch, das aus meinem Mund kommt, als Ramiro aufhört zu atmen, dieser kleine Scheißer, dem ich das Radfahren beigebracht habe, weil Dad es nicht mehr konnte, wegen seinem Rollstuhl. Ich halte den kleinen Scheißer im Arm, diesen kleinen Scheißer, der immer bloß so sein wollte wie ich, und ich denke, der verarscht mich doch. Er wird wieder atmen. Er macht bloß ’nen Witz. Also lache ich, vielleicht hat er darauf bloß gewartet, denke ich, dass ich lache, damit er wieder atmen kann … aber er atmet nicht. Seine Lunge füllt sich nicht, sie fällt zusammen. Und aus seinem Hals kommt so ein Gurgeln, darum versuche ich ihn mit der Hand zuzuhalten. Kann nicht anders. Ich versuche, das Einschussloch zuzuhalten, das so groß ist wie zehn Cent. Ich drücke mit beiden Händen. Fest. Ich drücke und drücke, aber ich fühle, sein Herz schlägt nicht mehr. Und ich sage immer noch nein. Ganz leise. Nicht so laut und dramatisch, bloß nein. Nein. Nein. Nein. Und dann kommt der lauteste Knall von allen. Die Schrotflinte.
Wahrscheinlich hab ich darum nicht geschlafen seitdem, nicht so richtig geschlafen. Ich trinke, damit ich das Gesicht meines Bruders nicht mehr so sehe. Ich dröhne mich zu, damit ich seinen Hals nicht mehr offen sehe. Mehr kann ich nicht tun. Ich kann nur schlafen, wenn ich mich richtig wegknalle, aber wenn ich dann Stunden später die Augen wieder aufschlage, ist alles egal. Ist alles noch da, alles wieder in meinem Kopf, und mir tut alles weh, überall, und ich brenne immer noch. Ist, wie es ist.
Jetzt ist mir die Sache so richtig ernst, als ich eine fette Line Koks vom Daumen ziehe, nachdem wir uns an der Virginia Avenue getroffen haben, alle drei Wagen. Das brennt auch. Danach stecke ich alle Erinnerungen an Joker in mir weg, denn jetzt geht’s an die Arbeit. So als ob ich meine Rippen aufklappe und sie da verstaue und dann wieder zumache und die Brust fest verschließe. So halte ich ihn in mir drin. Nah bei mir. Dauert nicht lange, dann durchzuckt es mich wie Blitze, ich bin total aufgedreht. Und das ist auch gut so, weil, jetzt kann ich nicht mehr ich sein. Kann nicht Bennett mit all seinen Scheißproblemen sein. Ich muss Trouble sein. Derjenige, von dem alle wissen, dass er voll drin ist, egal, was passiert.
Kein Mensch auf der Straße außer uns und so einem Obdachlosen, so ein schwarzer Wichser, der ein Stück die Straße rauf die offenen Mülltonnen durchwühlt. Der Müll ist seit Tagen nicht mehr abgeholt worden, aber die Leute stellen die Tonnen trotzdem noch raus. Schwachköpfe. Ich muss gar nicht lange hinstarren, um zu merken, das ist derselbe Spinner, den Momo gefragt hat, ob er was über seinen kleinen Hausbrand weiß, worauf er bloß so irres Gefasel geantwortet hat, dass irgendein Scheiß in Stücken zum Himmel fährt oder so.
Abgesehen von dem lahmen Schlurfen des Verrückten ist das ’ne Geisterstadt hier. Im ganzen Block sind die Lichter aus, die Vorhänge zu, nur die Straßenlampen brennen. Das Schöne ist, es riecht nach Blumen, ich weiß nicht, was für welche, und nur ein bisschen nach Rauch. Wir sind eindeutig über ihre Grenze, gleich neben diesem Weg, den sie Boardwalk nennen. Davon hat mir mein kleiner Bruder erzählt. Fate und seine clica nutzen ihn als Fluchtweg, vor den Sheriffs oder sonst wem, aber jetzt ist es unser Weg mitten hinein in ihr Revier.
2 Das Koks wirkt, und ich fühle mich schon besser. Stark. Es wird Zeit zurückzuschlagen, finde ich, ein paar Lichter auszupusten. Wir sind neun Homeboys, nur hardcore veteranos, denn heute können wir keinen Affenzirkus von irgendwelchen kleinen Homies gebrauchen, die sich einen Namen machen wollen. Sie wissen alle, das hier ist ein Selbstmordkommando, und sie sind dabei, weil ich dabei bin. Ich mache so was schon lange, und ich bin unschlagbar darin. Kein Mensch rechnet damit, dass jemand einfach in ein Haus stürmt und irgendwelche Idioten auf dem Sofa abknallt, so richtig vato-loco-Style. Aber ich hab das durchgezogen und bin am Leben geblieben. Und im Augenblick ist das mein Trumpf, dass mir alles egal ist. Mich juckt überhaupt nichts mehr. Früher habe ich solche Nummern immer allein durchgezogen. So einen großen Einsatz habe ich noch nie geleitet. Allein schon alle über die Atlantic zu kriegen, war harte Arbeit. Immer mehr von der Nationalgarde patrouillieren auf den großen Straßen oder sitzen an Kreuzungen, deshalb konnten wir keinen Konvoi fahren. Wir mussten schlau sein und haben uns auf drei Wagen verteilt, dann sind wir verschiedene Wege gefahren und haben uns hier wieder getroffen und geparkt.
Der Garde wollen wir nämlich auf keinen Fall in die Quere kommen. Wir haben drei Jungs da drin, die einberufen wurden und von Inglewood aus eingesetzt werden. Was, habt ihr gedacht, in der Nationalgarde gibt es keine Gangster? Scheiße. Wacht mal auf. Ihre Namen werde ich euch allerdings nicht sagen. Ich bin sicher, andere Gangs haben auch ihre Homies drin. Da kann man nämlich eine Menge über Waffen und Taktik und so was lernen. Was mit nach Hause nehmen, versteht ihr?
Ich habe Momo erzählt, wir würden Fate und seine Leute am Nachmittag angreifen, gleich nachdem wir bei dem jamaikanischen Schlitzauge waren und die ganzen Schießeisen eingesackt haben, aber das war nie der Plan. Ich hab gelogen. Fick dich, Momo. Niemals würden wir am helllichten Tag reingehen. Außerdem hatten wir zuerst noch was zu erledigen. Mussten ein Haftbüro hochnehmen und ein hübsches Feuerchen anzünden, damit ein paar Leute ihre Freiheit behielten.
Das war so ein Spaß – danach mussten wir uns zur Feier des Tages erst mal abschießen. Nein, das muss ich noch mal richtig ausdrücken. Momo hat uns aus reiner Herzensgüte bisschen Stoff spendiert, weil er so großzügig ist und natürlich nicht bloß seinen Arsch retten wollte wie eine vibora. Der Typ ist wirklich eine Natter, beißt dich, wenn du ihn lässt.
Momo benimmt sich schon seit Wochen komisch. Ich bin nicht der Einzige, der das bemerkt hat. Er hat nicht auf Anrufe reagiert oder auf direkte Fragen geantwortet. Er verschwindet ab und zu, versteht ihr? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er will uns verpfeifen, denn als ich ihn kennengelernt habe, also richtig kennengelernt, da war er nicht so. Er hat nicht viel geredet, aber er war ehrlich. Und ich weiß, dass er nicht die Wahrheit gesagt hat, als er meine Anrufe auf seinem Pager ignoriert hat, obwohl wir wussten, dass Ramiro mit seiner Waffe erledigt wurde, und da habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen. Und jetzt muss ich ihm auch nicht mehr die Wahrheit sagen.
Mein Mädchen hat auch was Kluges gesagt: Ich sollte Momo nicht mehr telefonieren lassen, er könnte ja irgendwen anzurufen versuchen, weil wir ihn so respektlos behandeln. Daran habe ich mich dann auch gehalten, und noch besser, ich habe seinen Jungen Jeffersón mit meiner neuen Schrotflinte den Weg nach Hause gezeigt. Hat ihm nicht gefallen, in den Lauf zu starren, aber was will er schon machen? Außer aufhören, so hart zu gucken, und sich verpissen, immer schön rückwärts, weil er mich nicht aus den Augen lassen will? Gar nichts kann der machen.
Als er ging, habe ich ihm gesagt, Momo braucht bloß einen, der ihm Deckung gibt, nämlich mich. Und genau deshalb steht diese Muschi jetzt neben mir und sieht so was von panisch aus, klammert sich an seine klapprige Knarre mit dem Tape drum, weil seine Hand so schwitzt, weil er nämlich sowieso niemals schießt, darum.
Ich schaue ihn an und frage: «Jetzt hast du keine schlauen Fragen mehr an mich, oder?»
«Es gibt eine Zeit zu reden», sagt er, «und eine Zeit zu handeln.»
Klingt hart, aber man sieht einfach, er will das hier überhaupt nicht, er macht nur mit, weil er weiß, sonst blase ich ihm aus nächster Nähe den Schädel von den Schultern. Das ist das Schöne daran, dass ich jetzt eine Flinte ganz für mich allein habe. Ich hätte ihn auch schon früher erledigen können, aber es macht einfach viel mehr Spaß, wenn ich ihn mitmarschieren lasse.
Ich gebe den Fahrern die Anweisung, bei den Wagen zu bleiben und sie laufen zu lassen, denn wir werden mit heißen Füßen rauskommen, und als wir alle bereit sind, lasse ich Momo als Ersten gehen, vor mir her. Als Schutzschild, wenn nötig, versteht ihr? Wir sechs und Momo gehen rein wie ’ne Armee, so richtig superstill und heimlich den Boardwalk rauf, die einzige Geräusche kommen von unseren Schritten und den Ästen, die wir zur Seite schieben. Ich muss lächeln, weil ich weiß, sie werden uns nicht kommen sehen. Wir sind wie der Scheiß-Vietcong. Für Ramiro, für Fox, für Lil Blanco, den es am Zaun erwischt hat, und für alle anderen, die bei der Party was abgekriegt haben.
Wir gehen durch eine Gasse mit Garagen auf beiden Seiten und dann wieder auf den Boardwalk und raus auf die Pope Avenue, in einer langen Reihe wie die Ameisen, wir schauen links und rechts, aber da ist niemand, also durch noch eine Gasse in die Duncan Avenue. Momo kommt als Erster raus, ich als Zweiter. Ich sehe sofort das Haus, wo Fate und diese manflora Payasa und die anderen wohnen, und ich laufe die Straße rauf.
War Momo also doch noch zu was gut, weil er nämlich genau sagen konnte, wo sie wohnen. Ich habe ihn gefragt, woher er das so genau weiß, und er meinte, seine Kunden erzählen allen möglichen Scheiß, wenn sie high sind, und wenn dieser Motherfucker Lil Creeper drauf ist, dann redet er ohne Ende, und manchmal hat Momo ihn Sachen über Fates clica gefragt, damit er wusste, was so läuft, klar? Als er mir das erzählt hat, habe ich bloß genickt, denn das war zwar schlau, aber auch irgendwie natternmäßig.
Das Haus liegt hinter einem hüfthohen Maschendraht, mein Blick wandert dran entlang bis zu drei Briefkästen, die vorn an einer gemeinsamen Einfahrt stehen, die bis weit nach hinten führt. Rechts von diesem Betonstreifen liegt das Haus. So ein sandfarbener, billig verputzter Kasten, das Dach fällt zur Straße hin ab, wie eine tief ins Gesicht gezogene Basecap, gehalten von sechs Säulen. Zwischen den beiden mittleren Pfosten ist die Eingangstür, und daneben auf beiden Seiten Fenster, die auf den traurigsten Rasen aller Zeiten hinausgehen.
Die Jalousien sind ganz runtergelassen, aber hinter der linken sieht man einen Lichtstreifen, eine Lampe oder so was. Und ein Fernseher wirft auch bunte Farben nach draußen. Gut.
Ich hebe die Hand und gehe als Erster die Einfahrt rauf, um die Briefkästen herum auf den Rasen, direkt auf die Haustür zu. Kein Zögern. Für Ramiro. Für unsere Yesenia. Als ich eine gute Position gefunden habe, stelle ich mich auf, alle anderen auch. Als ich das Feuer eröffne, machen alle mit. Wir ziehen es ab wie Al Capone, eine Reihe ballernder Gangster.
Die Fenstergitter sind kein Hindernis, aber irgendwas müssen sie doch ausrichten, ich höre nämlich dauernd so ein Ping, Ping, Ping, das finde ich komisch, denke mir aber nicht viel dabei, weil wir sämtliches Glas raushauen. Es fliegt in alle Richtungen, über den Fußweg, über den Rasen.
Ich lache, als ich die Sicherheitstür wegballere, boo-yaa macht die Schrotflinte, und ich fühle mich unbezwingbar, man sieht gleich, dass die Tür nicht aus Eisen ist, so wie die sich verbiegt, als ich mit der Flinte draufhalte, durchlade und noch mal abdrücke, und als sie bloß noch so schräg da hängt, bin ich ganz dicht dran, weil ich zum Haus gelaufen bin, und jetzt trete ich sie aus den Angeln, ich reiße am Türknauf, der vom Schrot ganz verbeult ist, und habe ihn gleich in der Hand, und ich so: «Yo, Mann!»
Ich hole so weit wie möglich aus und trete gegen die Tür, lege mein ganzes Gewicht rein, und da ist bloß noch Holz ohne Türknauf oder Riegel, sollte also einfach unter meinem Stiefel einknicken.
Tut es aber nicht. Ich pralle total ab!
Und mein Hacken tut echt weh. Mein Knie auch.
Also trete ich noch mal zu. Das Gleiche. Nichts rührt sich.
Hinter mir sagt jemand: «Ist denn das für ’n Scheiß?»
Ich gucke ganz schnell durch das Loch, das der Knauf gelassen hat, aber da ist eigentlich gar kein Loch. Ich meine, da ist schon ein Loch, aber dahinter ist noch was. Eisen.
Ich ramme meinen Gewehrlauf rein, aber der kommt nicht weit. Muss so dick sein wie ein Gullydeckel. Sind kleine Dellen drin von den Schrotkugeln, ich fahre mit dem Finger drüber, und es ist noch so heiß, dass ich sie mir verbrenne, und als ich sie wegreiße, denk ich auch so: Ist denn das für ’n Scheiß?
Und dann trifft es mich wie ein Schwall heißes Wasser den Nacken runter. Mein ganzer Körper wird wieder heiß. Ich schäme mich, bin traurig, bin wütend, alles auf einmal. Nein. Nein, nein.
Was für ’n Scheiß das ist? Eine Falle, das ist es. Die abgefuckteste Falle, die es je gab. Oh nein.
Und ich hab uns geradewegs reingeführt. Ich. Fuck!
Mein Mund ist total trocken, als ich meinen Homies zurufen will, sie sollen sich retten, aber dann gehen Lichter an. Nein, nein …
Blendende gelb-weiße Lichter hinter mir und von der Seite, ich muss blinzeln, als ich mich umdrehe, muss die Augen schließen und die Flinte davorhalten, um sie abzuschirmen, muss mich ducken, und da höre ich den ersten Schuss von weit weg und wie Leute wegrennen.
Und ich denke was? und krümme mich, so tief ich kann, mit dem Rücken zum Haus schiebe ich mich am Putz entlang, der mir das Rückgrat aufschabt, als ich mich schnell zur Seite bewege, zur Hausecke, damit ich nach hinten abhauen kann.
Ich schreie laut «Scheiße, alle abhauen!» Aber es klingt ganz erstickt.
Ich höre noch mehr Schüsse knallen, diesmal schneller, dichter. So blam-blam-blam …
Nein.
Kugeln pfeifen, eine knallt über mir in die Hauswand, der Putz explodiert krachend über meinem Kopf, Staub und Kiesel rieseln mir ins Gesicht, und dann kommt der schlimmste Lärm, den ich je gehört habe, so ein Brrrrt, brrrrt …
Das ist die dicke Dame, die singt, so ein Geräusch macht eine AK, wenn sie Kugeln spuckt. Ich weiß nicht, wie weit sie weg ist oder wohin sie zielt, aber ich spüre das Geräusch in der Brust, es lässt mein Herz zucken, und ich weiß, wir werden fertiggemacht, genau hier, genau jetzt. Nein, nein.
Überall höre ich Schreie, rund um mich herum. Mein Puls pocht schnell und heftig in den Ohren, davon schmerzt mir der Kopf und wird heiß.
Nein. Jetzt ist alles zu laut. Zu schnell.
«Nein», sage ich, und mehr kann ich nicht denken.
Der Scheiß hier ist allein meine Schuld. Aber jetzt ist nicht die Zeit, über Schuld nachzudenken. Das Einzige, was wir tun können, ist uns den Weg freischießen.
Durch meinen Kopf läuft fast so eine Ansage mit den Namen aller Homies, die ich in die Scheiße geritten habe. Das Beste, was ich jetzt für Ramiro tun kann, und für unsere Yesenia, und Lil Blanco, und, und …
Für Fox, für Looney und …
«Schießt die Lichter aus», schreie ich, lade meine Flinte durch und ballere auf die schwarzen Umrisse, die sich vor der Helligkeit bewegen.
Ich lade durch und schieße und erledige einen der Scheinwerfer mit Funkensprühen und lautem Zischen, also lade ich wieder durch und schieße noch mal, dann ist mein Magazin leer, das weiß ich, aber ich lade trotzdem noch mal durch und drücke den Abzug. Nichts passiert.
Ist, wie es ist.
Ich sage: «Ihr Motherfucker, bringt mich doch um! Ihr sollt mi–»
Was ich auch sagen wollte, es kommt nichts mehr. Ich liege platt auf der Seite und weiß nicht mal mehr, wie ich hingefallen bin.
Mir heulen die Ohren, als wären Sirenen drin. Und ich huste. Dann höre ich vier schnelle Schüsse, so pop-pop-pop-pop.
Und dann fällt jemand auf mich drauf, genau auf meine Schulter. Wie ein Stein.
Und ich will sehen, was los ist, aber ich kann meine Augen nicht mehr richtig offen halten, die Lider sind so schwer.