Achtunddreißig
Hesperus entfernte
sich ein Stück weit von der beschädigten, arm- und beinlosen
metalläugigen Puppe, die einmal Kadenz gewesen war. Zuvor hatte er
nach Lebenszeichen gesucht und sich vergewissert, dass sie sich
nicht selbst in ein tiefes Koma versetzt hatte, während ein
abgeschirmter Teil ihres Bewusstseins bereits den Gegenzug
plante.
»Schau weg«, sagte
er, dann feuerte er mit der Energiepistole. Auf einmal roch es
verbrannt. Als ich wieder hinsah, war Kadenz ein qualmender
schwarzer Klumpen, in dessen Wunden bläuliche Flammen tanzten.
»Jetzt kann sie uns nicht mehr schaden«, sagte
Hesperus.
»Das ist dir
schwergefallen.«
»Sie war eine von
uns. Sie hat für ihre Überzeugungen ihr Leben aufs Spiel
gesetzt.«
»Für einen geplanten
Völkermord.«
»So kann man das
nicht sagen. Sie war wirklich überzeugt davon, dass das Organische
den Fortbestand einer Maschinenzivilisation nicht dulden würde. Mit
Hass hatte das nichts zu tun, sondern es war eher Einsicht in eine
Notwendigkeit. Und jetzt bin ich in ihr Bewusstsein eingedrungen
und habe etwas erstickt, das einmal geleuchtet hat und lebendig
war.« Er reichte mir die Energiepistole. »Ja, es ist mir
schwergefallen. Aber ich musste es tun.«
»Ich danke dir für
alles, was du für uns getan hast, Hesperus.«
»Du fragst dich
vielleicht, warum ich die Dinge nicht so sehe wie
sie.«
Ich bekam eine
Gänsehaut. »Der Gedanke ist mir schon gekommen.«
»In gewisser Weise
tue ich das sogar. Im Lichte der vorliegenden Fakten würde nur ein
Narr darauf vertrauen, dass organische Intelligenzen und Maschinen
auf Dauer harmonisch zusammenleben werden. Kadenz’ Angst um den
Fortbestand des Maschinenvolks war berechtigt.«
»Und war auch ihr
Plan gerechtfertigt, die Ersten Maschinen aus dem Sternendamm
herauszulassen?«
»Nein. Ihre
Befürchtungen waren berechtigt, aber ihr Handeln war falsch, obwohl
es auf vernünftigen Überlegungen beruhte. Ich werde nach wie vor
alles daransetzen, dass Kaskade seinen Auftrag nicht vollenden
kann.«
»Bis hin zur
Zerstörung der Arche?«
»Das wäre die letzte
Option, wenn alles andere scheitert.« Er zögerte kurz, dann fuhr er
fort: »Du musst jetzt in Stasis gehen, denn Galgant wird bald
seinen Angriff starten.«
»Während des letzten
Angriffs war ich wach.«
»Ich glaube, diesmal
wird es anders sein. Sowohl der Angriff als auch die Gegenreaktion
werden heftiger ausfallen. Wahrscheinlich wird es zu ungedämpften
Belastungen kommen, die unangenehme Folgen für dich haben
könnten.«
»Kadenz und Kaskade
haben beim ersten Angriff Rücksicht auf mich genommen, nicht
wahr?«
Hesperus antwortete
mir, als teilte er einem Kind eine schwerwiegende, traumatisierende
Wahrheit mit. »Nein. Dein Überleben spielte für die Umsetzung ihrer
Ziele keine Rolle. Sie waren nur am Öffner interessiert. Sie haben
sich von Fakten leiten lassen, aber ihr Wissen ist unvollständig.
Kadenz’ Erinnerungen deuteten darauf hin, dass sie bereits einen
Öffner gefunden und ihn auch benutzt haben. Allerdings hatten sie
den falschen Sternendamm ausgewählt. Das war gar nicht der, den sie
hatten öffnen wollen, doch das haben sie erst dann gemerkt, als sie
den Öffner schon eingesetzt hatten.«
Ich schüttelte
ungläubig den Kopf. »Ugarith-Panth – die Vereinigung. Willst du
damit sagen, sie hätten das
getan?«
»Es war ein Irrtum.
Sie haben die falsche Tür geöffnet.«
»Und eine ganze
Zivilisation ausgelöscht.«
»Der Irrtum blieb
für sie folgenlos – das war lediglich ein Rückschlag. Sie
analysierten noch einmal die ihnen vorliegenden Informationen,
alles, was sie über die Familie in Erfahrung gebracht hatten, und
stellten fest, dass vieles darauf hindeutete, dass der Öffner sich
an Bord der Silberschwingen des Morgens
befand. Aber da sie den genauen Aufbewahrungsort nicht kannten,
mussten sie verhindern, dass die Raumschiffe in deinem Hangar
beschädigt wurden.« Er blickte zu Kadenz hinüber, als wollte er
sich vergewissern, dass ihre verkohlten Überresten ihn nicht
belauschten. »Wo ist er eigentlich versteckt?«
»Das ist ja das
Problem. Ich weiß es nicht.«
»Dann werden wir
nach ihm suchen und uns daranmachen, ihn zu zerstören. Aber erst
einmal müssen wir Galgants Angriff überstehen.«
Die nächste
Stasiskammer war nur ein paar Schritte von der Brücke entfernt.
Vier Einheiten waren nebeneinander aufgereiht, alle weiß und
rechteckig, wie quaderförmige Eier.
»Ich mag die Stasis
nicht.«
»Aber in Stasis bist
du besser geschützt als im Kryophag. Ich werde dir beim
Wiedereintauchen in die Normalzeit behilflich sein, falls es zu
Schwierigkeiten kommen sollte.« Hesperus öffnete die weiße Tür der
nächstgelegenen Einheit, hinter der das komplizierte Innenleben der
Stasiskammer zum Vorschein kam: Aggregate, Thron, Steuerung und
Dämpfungssysteme, alles so dicht gepackt wie Innereien. Der Stuhl
schob sich vor und lud mich ein, mich seiner teigigen Umarmung zu
überlassen. Mit den Fingerspitzen ertastete ich
Steuerelemente.
»Welchen Faktor und
welche Zeitdauer soll ich einstellen?«
»Ich kümmere mich um
die Steuerung. Ich möchte, dass du erst dann wieder rauskommst,
wenn von Galgant keine Bedrohung mehr ausgeht.«
Die Klaustrophobie
legte mir ihre knochigen kalten Finger um den Hals. »Und wenn ich
nicht mehr rauskomme?«
»Dafür werde ich
schon sorgen. Möchtest du Campion noch etwas sagen, bevor ich das
Gerät einschalte?«
Ich ließ mich auf
dem Thron nieder und schob Hände und Füße in die selbststraffenden
Gurte. »Ist es dafür nicht schon ein bisschen spät?«
»Du vergisst, dass
ich ein qualitativ hochwertiger Aufzeichnungsapparat bin. Sag, was
du ihm sagen willst, dann werde ich es an Campion weiterleiten,
sobald wir wieder Funkkontakt haben.«
»Sag ihm, dass ich
ihn liebe und ihm dankbar bin, dass er mich bis hierher begleitet
hat.«
»Nein, sag es direkt
zu mir. Als ob ich Campion wäre.«
Ich holte tief Luft.
Ich hatte Mühe, mir vorzustellen, anstelle des goldenen Gesichts
meinen Geliebten und Freund vor mir zu haben. »Ich liebe dich,
Splitterling. Ich danke dir für alles, was du getan hast. Tu, was
du kannst, um die Silberschwingen
aufzuhalten, aber pass auch auf dich auf. Ich möchte dich
wiedersehen. Ich möchte mit einem Glas Wein in der Hand mit dir
zusammen den Sonnenuntergang betrachten und mit dir über all diese
Ereignisse reden, als hätten sie sich vor langer Zeit zugetragen
und als hätten wir seitdem viele weitere Abenteuer und gute Zeiten
erlebt.«
»So wird es sein«,
sagte Hesperus.
Der Sitz zog sich in
die Stasiskammer zurück, die Gurte strafften sich und fixierten
mich. Hesperus schloss die Tür – ich sah ihn aber noch durch das
Einwegfenster. Ein Kragen legte sich mir surrend um den Hals und
zog mich tiefer in den Sitz hinein, so fest, dass es unbequem war,
aber nicht fest genug, um mich zu strangulieren. Eine Stimme
verkündete, ich sei im Begriff, mit einem Kompressionsfaktor von
einer Million in Stasis zu gehen, und solle unverzüglich die
Abbruchtaste betätigen, wenn ich den Feldaufbau verhindern wolle.
»Letzte Warnung!«, wiederholte die Stimme. »Stasis wird eingeleitet
in drei Sekunden … zwei … eins … jetzt.«
Hesperus verschwand.
Die Außenwelt flammte bläulich auf, dann normalisierte sie sich
allmählich wieder. In der Sekunde, in der mir klar wurde, dass ich
mich bereits zu lange in der Kammer aufhielt, verstrichen in der
Realzeit meines Schiffs zehn Tage.
Hesperus war
entweder tot, oder er hatte mich reingelegt. Meine Finger wanderten
über die Steuerelemente. Ich stellte den Regler zurück und spürte,
wie er in die verschiedenen Markierungen einrastete. Eine Million.
Einhunderttausend. Zehntausend.
Die Stimme sagte:
»Bitte beachten Sie, dass die manuelle Steuerung der Stasiskammer
außer Kraft gesetzt wurde. Nur externe Eingaben werden
ausgeführt.«
Zehn Sekunden waren
verstrichen. Einhundert Tage.
Die Silberschwingen des Morgens war der
Lichtgeschwindigkeit bereits so nahe gewesen, dass die Bordzeit
gegenüber der Planetenzeit um den Faktor zwanzig verlangsamt war.
Und das Schiff beschleunigte noch immer. Hundert Tage Bordzeit
entsprachen zweitausend Tagen im stationären Universum. Seit
Betreten der Kammer hätte ich mühelos den Atem anhalten können.
Dennoch hatten wir bereits sechs Lichtjahre zurückgelegt. Und
weitere sechs, seit ich angefangen hatte, mir Gedanken über die
zurückgelegte Entfernung zu machen.
Zwölf Lichtjahre.
Jetzt schon eher achtzehn. Oder zwanzig. Nicht mehr lange, und die
Silberschwingen des Morgens hätte seit
dem Start aus dem Orbit um Neume ein Jahrhundert Flugzeit hinter
sich gebracht.
In der Stasiskammer
würde es kaum einen Tag dauern, bis wir den Sternendamm erreicht
hätten.
»Hesperus«, sagte
ich, »du verlogener Mistkerl.«