Fünfundzwanzig
 
 
 
 
 
Fasziniert vom Knattern der bunten Fahnen, die einen angenehmen Kontrast zum blauen Himmel bildeten, vertrat ich mir gerade die Beine auf einer der Brücken Ymirs, als Betonie sich zu mir gesellte.
»Campion«, sagte er und stellte den Kragen seines schwarzen Mantels hoch, um sich vor dem Wind zu schützen.
»Ist Mezereum schon fertig?«
»Es geht um Portula. Wir haben soeben eine beunruhigende Nachricht erhalten.«
Der Wind hatte mir bis jetzt nicht zu schaffen gemacht, doch auf einmal drang mir die Kälte bis ins Mark. »Was ist passiert?«
»Wir wissen nur, dass sie zusammen mit den Robots zur Silberschwingen hochgeflogen ist. Ihr Raumschiff hat ohne Vorankündigung den Orbit verlassen. Anscheinend fliegt sie mit Maximalbeschleunigung von Neume weg.«
Ich musste mich am Brückengeländer festhalten. Die Nachricht hatte mich so unerwartet getroffen wie ein Schwindelanfall. »Wann ist sie gestartet?«
»Vor einer knappen Viertelstunde. Ich bin gleich zu dir gekommen.«
»Ich muss in den Orbit.«
»Alle Shuttles sind derzeit in Gebrauch. Ich fliege in ein paar Minuten hoch – du kannst gern mitkommen. Wenn du willst, setze ich dich auf der Bummelant ab, bevor ich an der Blauen Adonis andocke.«
Ich war so benommen, dass ich sein freundliches Angebot kaum zur Kenntnis nahm. »Was ist mit den anderen Schiffen?«
»Drei sind ohne Besatzung gestartet. Sie haben den Orbit bereits verlassen und nehmen die Verfolgung der Silberschwingen auf. Einholen können sie sie nicht, aber sie werden wenigstens …«
»… in Schussweite kommen«, kam ich ihm zuvor.
»Es ist noch nichts in Stein gemeißelt, aber wir dürfen auch nichts ausschließen. Es ist noch unklar, was dort oben passiert ist, Campion, aber wir wissen jedenfalls, dass es anders geplant war. Ich sage nicht, wir sollten sie ohne Vorwarnung abschießen – das wäre die allerletzte Option. Aber wenn wir die Silberschwingen beschädigen und längsseits gehen könnten …«
»Ich weiß, was du denkst. Aber Portula würde niemals ihr eigenes Schiff kapern.«
»Es hat ihr nicht gepasst, dass sie es den Robots überlassen sollte.«
»Hätte dir das an ihrer Stelle etwa geschmeckt?« Ich schüttelte zornig den Kopf. »Das sieht Portula gar nicht ähnlich. Sie wollte die Silberschwingen an die Robots übergeben und mit erhobenem Kopf zurückkommen.«
»Was ist also passiert, was meinst du?«
»Ich habe diese beiden Robots noch nie gemocht.«
»Glaubst du etwa, sie hätten das Schiff gekapert?« Betonie funkelte mich wütend an. »Sie hätten es doch ohnehin bekommen, Campion – weshalb sollten sie es kapern, wenn sie nur die Übergabe hätten abzuwarten brauchen?«
»Das weiß ich auch nicht. Ich habe bloß gesagt, dass ich sie nicht mag. Und behaupte ja nicht, ich hätte eine Maschinenphobie. Mit Hesperus hatte ich keine Probleme.« Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Hat schon jemand versucht, sie anzufunken?«
»Das haben wir gleich als Erstes versucht, als sie den Orbit verlassen hat. Aber Portula hat nicht geantwortet.«
»Das beweist, dass sie die Aktion nicht zu verantworten hat.«
»Wie das?«
»Portula wäre niemals gestartet, ohne uns Bescheid zu geben, Betonie – sie hätte gewollt, dass wir ihre Motive verstehen.«
»Vielleicht meldet sie sich später, wenn sie sich sicher fühlt.«
»Sie meldet sich nicht, weil sie sich nicht melden kann. Irgendetwas ist da passiert.« So allmählich, wie sich am klaren Himmel eine Gewitterwolke bildet, formte sich ein hässlicher Gedanke: Vielleicht war Portula ja gar nicht mehr am Leben? Ich schob den Gedanken beiseite, doch er meldete sich hartnäckig zurück. Wenn die Robots aus irgendeinem Grund beschlossen haben sollten, ihr das Schiff abzunehmen, anstatt die Übergabe abzuwarten, hätten sie Portula mühelos töten können.
»Ich muss in den Orbit«, wiederholte ich.
»Wir fliegen hoch.« Betonie fasste mich grob am Ellbogen. »Campion, hör mir genau zu. Wir hatten Meinungsverschiedenheiten. Ich verlange nicht, dass du mich magst oder mir auch nur verzeihst, was ich Portula angetan habe. Aber ich hatte meine Gründe, das musst du mir glauben – ich habe an die Familie gedacht, an dieses unglaublich fragile, unglaublich kostbare Gebilde. Ich wollte demonstrieren, dass wir mehr denn je auf Disziplin angewiesen sind. Es ging dabei nicht um persönliche Motive; ich habe mich nicht von Rachsucht leiten lassen. Und weißt du was? Ich gebe zu, dass es ein Fehler war, Mezereum die Leitung der Befragung zu überlassen. Aber ich bin auch kein Unmensch. Wenn du mir verzeihst, was ich deiner Ansicht nach dir oder Portula angetan habe, bin ich im Gegenzug bereit, über deine Kränkungen und deine anmaßende Haltung gegenüber der Familie hinwegzusehen. Ich reiche dir die Hand der Freundschaft und des Verzeihens. Wenn Portula etwas Falsches getan hat, sollte man ihr Gelegenheit geben, es wiedergutzumachen. Wenn nicht, hat sie Anspruch auf unsere bedingungslose Unterstützung. Ich werde den Antrieb meines Schiffes bis zum Äußersten beanspruchen, um sie einzuholen, und ich weiß, dass du das Gleiche tun wirst. Die übrigen achtundvierzig Splitterlinge sehen das genauso wie ich.«
Ich wartete einen Moment, dann sagte ich: »Ansprache beendet?«
»Ich habe gesagt, was ich loswerden wollte. Wenn du mitkommen willst, mein Shuttle steht bereit, uns in den Orbit zu bringen. Wenn du die Vorstellung, mit mir zusammen zu fliegen, nicht erträgst, kannst du mit Akonit oder Rainfarn mitfliegen.«
Nach kurzem Überlegen sagte ich: »Lass uns starten.«
 
Die Familienregeln verlangten, dass unsere Raumschiffe sich in ständiger Flugbereitschaft befanden, damit wir unverzüglich in den interstellaren Raum flüchten konnten, falls die Patrouillen die Annäherung gegnerischer Raumfahrzeuge melden sollten. Der Gedanke an eine schnelle Flucht war uns auf Neume stets gegenwärtig. Somit waren wir in der Lage, dem Planeten von einer Stunde auf die andere für immer Lebewohl zu sagen.
Das bedeutete jedoch nicht, dass alle verbliebenen Raumschiffe der Silberschwingen nachjagen würden. Dies war eine unerwartete Entwicklung, jedoch kein Grund, Großalarm zu geben – Galgant war mit seiner Königin der Nacht auf Patrouille und hatte keine Eindringlinge gemeldet; es gab keinerlei Hinweis darauf, dass eine gegnerische Flotte aus interstellarer Geschwindigkeit verzögerte. Die Familie würde ihre Arbeit, wenn auch in verminderter Zahl, fortsetzen. Außerdem war mindestens die Hälfte der verbliebenen fünfunddreißig Raumschiffe zu langsam, um mit Portula mithalten zu können, und weniger als zehn hatten überhaupt Aussicht, sie einzuholen. Drei waren bereits ohne ihre Besitzer gestartet. Die Bummelant hätte ohne den Umbau, den sie Ateshga zu verdanken hatte, zu den langsamsten Schiffen gehört. So aber war sie ein Grenzfall – um die Silberschwingen einzuholen, hätte man den Antrieb bis weit in den roten Bereich belasten müssen, und ich hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren würde.
»Wir funken sie ständig an«, sagte Betonie, als er das Shuttle in Flitzentfernung zur Bummelant brachte, »aber sie hat sich immer noch nicht gemeldet. Falls die Robots das Kommando übernommen haben sollten, haben sie jedenfalls noch keine Forderungen an uns gestellt.«
Sie brauchen nichts von uns, dachte ich. »Liegen schon Erkenntnisse über den Kurs vor?«
»Das Schiff bewegt sich auf das galaktische Zentrum zu, parallel zur Scheibe. Wenn es den interstellaren Raum erreicht hat, könnte es den Kurs ändern, doch vorerst besteht kein Anlass, daran zu zweifeln, dass es die Heimatwelt der Maschinenwesen ansteuert.«
»Irgendetwas stimmt da nicht.«
»Die ganze Sache stinkt.«
»Was immer da los ist, es geht nicht von Portula aus. Ich glaube, im Grunde ist dir das auch klar.«
»Es würde mich wundern, wenn es so wäre, aber ich habe in letzter Zeit schon einige Überraschungen erlebt.«
Ich bedankte mich für den Flug und flitzte zur Bummelant hinüber. Das Schiff spürte meine Anwesenheit und stellte sogleich Startbereitschaft her. In weniger als zwölf Stunden würde die Silberschwingen so dicht an der Lichtgeschwindigkeit fliegen, dass selbst das schnellste Raumschiff hunderttausend Jahre bräuchte, um sie einzuholen. Und wenn es so weit wäre, würden sie sich auf der anderen Seite der Galaxis befinden. Die einzige Möglichkeit, sie zu erreichen, bestand darin, alle Sicherheitsbedenken in den Wind zu schlagen und sie schnell einzuholen.
Ich setzte mich an die Steuerung, legte den Verfolgungskurs fest und beschleunigte mit tausend Ge. Neume verschwand wie ein Stein, der in einen Brunnen fällt. Wie immer hatte ich auf der Planetenoberfläche das Gefühl grenzenloser Weite gehabt, doch nun sah ich Neume als den silbrigen Kiesel, der er in Wirklichkeit auch war – ein kleiner, runder Felsbrocken, der in der unendlichen Leere schwebte, vor dem Vakuum nur durch eine hauchdünne Atmosphäreschicht geschützt.
Ein paar Minuten lang war ich allein und kein anderes Objekt befand sich in der unmittelbaren Reichweite meiner Sensoren, doch nach einer Weile formierten sich die anderen Schiffe um mich herum und passten sich meiner Beschleunigung an. Die vor uns befindlichen drei Raumschiffe gehörten Hederich, Melde und Agrimony. Fünf Schiffe folgten ihnen, darunter die Bummelant und Betonies Schiff. Die anderen drei Schiffe gehörten Oxalis, Rainfarn und Bilse; Hederich, Melde und Agrimony flogen als Passagiere mit. Bald würde auch noch ein sechstes Schiff zu uns sto ßen, denn Galgant hatte seinen Patrouillenflug abgebrochen, um sich der Verfolgung anzuschließen. Er beschleunigte mit zwölfhundert Ge und holte noch das letzte Newton aus dem Pseudoschub der Königin der Nacht heraus. Von allen Schiffen des Verfolgergeschwaders hatte er die besten Aussichten, den Abstand zur Silberschwingen zu verringern, auch wenn er mit Portulas Reisegeschwindigkeit nicht würde mithalten können.
Nach einer Stunde waren wir drei Lichtminuten von Neume entfernt – jetzt war der Planet nur noch ein achteraus liegender heller Stern, der von seiner Sonne beinahe überstrahlt wurde. Nachdem wir uns auf ein Beschleunigungslimit von tausend Ge geeinigt hatten, sammelten wir unsere Schiffe, so dass wir eine Unterhaltung in Realzeit führen konnten. Mitten auf der Brücke bildete sich ein runder Tisch, der identische Gegenstücke an Bord der anderen Raumschiffe hatte. Imagos meiner Mitsplitterlinge verteilten sich darum. Außer Galgant waren alle sorgfältig gerendert. Galgants flüchtige Erscheinung sollte uns daran erinnern, dass er noch etwa eine Lichtminute zurücklag, so dass er nur mit entsprechender Verzögerung an der Debatte teilnehmen konnte.
»Heute Mittag«, sagte Betonie, »hat keiner von uns damit gerechnet, dass wir vor Sonnenuntergang in unseren Schiffen wären und von Neume wegfliegen würden. Aber das muss man uns lassen, wir haben schnell auf die veränderte Situation reagiert. Hederich, Melde und Agrimony: Ich möchte euch dafür danken, dass ihr eure Schiffe unbemannt habt starten lassen. Diesen Großmut wird euch die Familie nicht vergessen.«
»Flitzen ist zu gefährlich, aber wenn wir auf elf- bis zwölfhundert Ge gehen, können wir uns bis auf Shuttle-Reichweite an die Schiffe heranarbeiten«, sagte Melde, die Hand auf die Tischplatte gelegt. Sie hatte lange, scharfe Fingernägel, die sie für Mieres Totenfeier tiefschwarz lackiert hatte. »Ich wäre lieber an Bord meines Schiffes, als ihm aus der Ferne hinterherzusehen. Die drei Schiffe sind bereits zu schnell, als dass man sie wirkungsvoll fernsteuern könnte, und meins hat keine Protokolle für diese Situation.« Leise setzte sie hinzu: »Ich spreche von Kampfprotokollen, falls ich mich unklar ausgedrückt haben sollte.«
»Mit den Protokollen werden wir uns gleich befassen«, sagte Betonie. »Zunächst einmal erteile ich Campion das Wort. Er kennt Portula besser als wir alle, und das ist nicht als Spitze gemeint. Die Angelegenheit ist abgeschlossen. Wenn er etwas beizutragen hat, was bei der Bewältigung der Krise hilfreich sein könnte, sollten wir ihn anhören.«
»Ich bin der festen Überzeugung, dass dies nicht auf Portula zurückgeht. Abgesehen davon habe ich im Moment nichts beizutragen«, sagte ich. »Sie ist entweder tot, von den Robots ermordet, oder sie ist ihre Gefangene.«
»Weshalb sollten die Robots das tun?«, fragte Hederich. »Sie haben doch nichts zu gewinnen, wenn sie sie gefangen nehmen oder ermorden. Das Schiff gehörte ihnen doch bereits.«
»Wenn Portula gegen die Interessen der Familie gehandelt hat …«, setzte Rainfarn an.
»Das hat sie nicht«, entgegnete ich. »Ich war mit ihr zusammen, bis sie mit dem Shuttle in den Orbit geflogen ist. Sie war nicht begeistert davon, die Silberschwingen aufgeben zu müssen, aber sie hatte sich damit abgefunden. Au ßerdem wollte sie, dass die beiden Robots Hesperus helfen – wenn das bedeutet hätte, ihr Schiff herzugeben, wäre sie mit Freuden dazu bereit gewesen.«
»Könnte sie dich und uns getäuscht haben?«, fragte Oxalis und streichelte seinen feinen, grau gesprenkelten Bart. »Es tut mir leid, aber jemand muss diese Frage stellen. Falls Portula dies alles von langer Hand geplant haben sollte, hätte sie dies vor dir verborgen.«
»Sie hat mir nichts vorgemacht.«
»Das kannst du nicht wissen. Wir sind keine Gedankenleser. Wenn sie mit großer Entschlossenheit vorgegangen ist …«
Ich starrte Oxalis nieder. Bislang waren wir noch nie aneinandergeraten, doch ich hatte ihn auch nicht als engen Freund betrachtet. »Glaub mir, Portula hatte nicht die Absicht, ihr eigenes Schiff zu kapern.«
»Wir sollten einstweilen davon ausgehen, dass Campion Recht hat«, sagte Betonie. »Unser vorrangiges Ziel ist es, das Schiff zu stoppen. Wenn wir das geschafft und das Schiff geborgen haben, können wir rekonstruieren, was passiert ist.«
»Wie sollen wir die Silberschwingen aufhalten, ohne sie zu vernichten?«, fragte Rainfarn. »Tut mir leid, ich hätte das zurückhaltender formulieren sollen, aber man kann das Schiff nun mal nicht mit dem Lasso einfangen und erwarten, dass es langsamer wird.«
»Wir werden versuchen, das Schiff zu beschädigen, ohne die Passagiere zu gefährden«, sagte Betonie. »Das ist im Moment die aussichtsreichste Vorgehensweise.«
»Hat man schon versucht, Portula anzufunken?«, fragte Hederich.
Betonie nickte. »Gleich als sie den Orbit verlassen hat, aber sie antwortet nicht.«
»Das beweist gar nichts«, sagte ich. »Wenn die Robots das Kommando übernommen haben, werden sie kein Interesse daran haben, mit uns zu sprechen.«
»Glaubst du, Portula ist noch am Leben?«, wandte Rainfarn sich an mich.
»Ich hoffe es.«
»Das ist keine Antwort.«
»Mehr habe ich nicht zu bieten. Bitte setz mich nicht unter Druck.«
Zu meiner Erleichterung ließ sie von mir ab.
»Da ist noch etwas, das wir in Betracht ziehen müssen, bevor wir die Silberschwingen angreifen«, sagte Melde, mit den Fingernägeln auf die imaginäre Tischplatte klopfend. »Falls die Robots das Kommando übernommen haben, müssen wir davon ausgehen, dass sie im Auftrag des Maschinenvolks handeln. Wenn wir auf Portulas Schiff feuern, und sei es nur in der Absicht, es zu beschädigen, könnte man das als feindlichen Akt auslegen. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, könnte man das als Kriegserklärung an das Maschinenvolk auffassen.«
»So dumm würde niemand sein«, widersprach Agrimony. »Das hier ist ein isolierter Zwischenfall; ein Raumschiff wurde ohne jede Erklärung entführt. Es ist unser gutes Recht, das Eigentum der Familie zurückzuholen.«
Meldes Miene war entschlossen; Widerspruch wollte sie nicht gelten lassen. »Ich habe gesagt, aus einem bestimmten Blickwinkel. Wir müssten mindestens damit rechnen, dass man uns aus der Körperschaft ausschließt. Der Hinweis darauf, welch katastrophale Folgen das in diesen krisenhaften Zeiten für die Familie Gentian haben würde, erübrigt sich wohl. Schlimmstenfalls könnten wir die Robots zu einem Vergeltungsschlag herausfordern.«
»Wir werden unser Vorgehen erklären«, sagte Betonie.
»Dann können wir nur hoffen, dass uns auch jemand zuhören wird. Es gibt auch noch Abstufungen dieser beiden Extremmöglichkeiten, die aber fast alle für uns ungünstig sind. Eine andere Familie könnte uns angreifen, um den Robots ihre Verbundenheit zu demonstrieren. Auch wenn ausreichend viele Wandelzivilisationen beschließen, gegen uns vorzugehen, könnte das für uns gefährlich werden.«
»Wenn sie die Frechheit hätten, würden wir sie zermalmen«, entgegnete Betonie. »Wenn die Maschinenwesen sich gegen uns wenden, werden wir sie ebenfalls zermalmen. Sie sind schnell und stark, aber uns gibt es schon sehr viel länger.«
Ich bemühte mich, der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen. »Wir sollten der Entwicklung nicht vorgreifen. Es gibt vieles, was wir über die beiden Robots nicht wissen – und das gilt auch für das Maschinenvolk.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Hederich.
»Wir sollten für alle Möglichkeiten offen bleiben. Wir haben bereits Grund zu der Annahme, dass mein Besuch bei der Vigilanz den Angriff zumindest mitverursacht hat. Doktor Meninx hatte eigene Gründe, die Vigilanz zu besuchen; Hesperus desgleichen. Für Kaskade und Kadenz könnte das ebenfalls zutreffen.«
»Sie haben nicht die Vigilanz angeflogen, sondern sind zu uns gekommen«, sagte Oxalis.
»Trotzdem. Die Vigilanz stand auf einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und wegen meines Strangs wurden wir in die Angelegenheit verwickelt. Die Maschinen könnten zu dem Schluss gelangt sein, dass ein Besuch bei der Vigilanz in ihrem Interesse liegt.«
Oxalis wirkte nach wie vor skeptisch. »Ich verstehe nicht, weshalb das der Fall sein sollte. Wenn sich alle für die Vigilanz interessieren, wieso steuern sie sie dann nicht direkt an?«
»Die Vigilanz gibt sich nicht mit Robots ab, nur mit organischen Intelligenzen. Den Grund kennt nur sie selber. Hesperus hatte vorgehabt, sich als Mensch auszugeben, doch das hätte schwere Opfer von ihm verlangt, denn er hätte seine Bewusstseinsprozesse auf ein Minimum herunterfahren müssen – vielleicht wäre es ihm auch gar nicht gelungen. Kadenz und Kaskade waren vielleicht nicht bereit, so weit zu gehen, oder sie sind zu dem Schluss gelangt, das Entdeckungsrisiko sei zu hoch. Was meint ihr wohl, wie es ausgesehen hätte, wenn das Maschinenvolk dabei ertappt worden wäre, dass es Menschenzivilisationen infiltriert! Das hätte wahrscheinlich völlig unabhängig von unserem Vorgehen eine galaxisweite diplomatische Krise ausgelöst. Also kommen sie zu uns, da sie wissen, dass wir von der Vigilanz sensible Daten bekommen haben. Weil sie glauben, sie könnten sich ohne Einbeziehung der Vigilanz Zugang zu den Daten verschaffen.«
»Glaubst du wirklich, dass sie uns so genau beobachten?«
»Irgendjemand hat es getan«, sagte ich mit einem müden Achselzucken.
»Glaubst du, es gibt eine Verbindung zwischen den Robots und dem Haus der Sonnen?«, fragte Betonie.
»Alles ist miteinander verknüpft«, antwortete ich. »Das muss freilich nicht bedeuten, dass alle das gleiche Ziel verfolgen.«
»Ich war bereit zu glauben, wir hätten eine andere Familie gegen uns aufgebracht und der Angriff sei die Vergeltung für einen Vorfall gewesen, der sich vor Dutzenden Umläufen ereignet hat, für eine Achtlosigkeit, die wir längst vergessen haben«, sagte Betonie.
»Aber jetzt siehst du das anders«, sagte ich.
»Wenn die Maschinenwesen darin verwickelt sind, muss es eine andere Erklärung geben. Jetzt mal ehrlich – es sieht ganz danach aus, meint ihr nicht auch?« Betonie schaute in die Runde. »Ich will dir nicht zu nahetreten, Sainfoin …«
»Aber es sieht so aus, als hätten die Robots sie dazu benutzt, an uns heranzukommen«, sagte ich. »In diesem Fall wäre alles, worin wir verwickelt sind, für das Maschinenvolk von Interesse. Sie haben Hesperus zu uns geschickt. Ich glaube, Kaskade und Kadenz könnten sie ebenfalls beauftragt haben. Die Frage ist nur, verfolgen sie alle die gleichen Ziele?«
»Da sie dem Maschinenvolk angehören, müssen wir das wohl annehmen«, meinte Oxalis.
»Nicht unbedingt«, widersprach ich. »Das Maschinenvolk könnte ebenso zersplittert sein wie eine beliebige Menschenzivilisation.« Von der Anstrengung, die verschiedenen Möglichkeiten zu durchdenken und eine sinnvolle Ordnung in die Ereignisse der letzten Zeit zu bringen, brummte mir der Schädel. »Ich will damit sagen, dass Kadenz und Kaskade vielleicht einen anderen Auftrag haben als Hesperus oder dass man ihnen bei der Umsetzung größeren Spielraum eingeräumt hat.«
»Mein Eindruck ist, dass sie gar nicht viel gemacht haben«, sagte Rainfarn. »Sie sind zur Reunion gekommen, haben den Angriff überlebt, eine gewisse Zeit auf Neume verbracht und sich dann entschlossen, ihrem Volk die Neuigkeit zu überbringen. Oder habe ich da etwas übersehen?«
»Nein«, sagte ich. »Außer der Tatsache, dass sie jetzt Hesperus bei sich haben, was wahrscheinlich gar nicht so geplant gewesen war. Aber wenn sie nicht erheblich hinterlistiger sind, als uns klar ist, können wir davon ausgehen, dass sie keinen Zugang zu unseren Geheimnissen bekommen und auf Neume nichts in Erfahrung gebracht haben, was sie nicht schon wussten. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass sie ein spezielles Interesse an der Befragung gezeigt hätten – ich hatte eher den Eindruck, sie wären nicht besonders daran interessiert.«
»Vielleicht wussten sie ja schon, was Grilse und die anderen aussagen würden«, meinte Hederich.
»Wenn sie es also nicht auf unsere Geheimnisse abgesehen hatten und auch nicht auf die Aussagen der Gefangenen, worauf waren sie dann aus?«, fragte Oxalis.
»Auf etwas ganz anderes«, sagte ich. »Auf etwas, das uns eigentlich in die Augen springen sollte, weil es so offensichtlich ist, dass wir vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen oder das sich unserer Kenntnis noch entzieht.«
»Aber es muss etwas mit uns zu tun haben«, meinte Hederich.
Zum ersten Mal meldete sich Galgants durchscheinendes Ebenbild zu Wort. »Entschuldigt die Störung, aber mir scheint, wir sind uns in einer Beziehung alle einig: Das steht nicht im Einklang mit Portulas Charakter. Ich schließe mich Campion an: Sie wurde von den Robots hereingelegt. Wir sollten auch nicht vergessen, dass sie als Erste angedeutet haben, sie bräuchten ein schnelles Raumschiff. Es war Portulas Pech, dass ihr Schiff die Anforderungen am besten erfüllte und dass die Situation es gerade erforderte, ihr ein bisschen auf die Finger zu klopfen.«
Betonie mahlte mit dem Kiefer, enthielt sich jedoch einer Bemerkung.
»Sie ist ganz einfach ein Opfer der Umstände geworden. Zum Glück geht es hier um Portula. Sie ist klug und stellt sich leicht auf veränderte Umstände ein, außerdem geht es hier um ihr Schiff. Ich glaube, die Chancen stehen gut, dass sie noch am Leben ist. Gleichzeitig dürfen wir die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass die Robots die Kontrolle über die Waffen der Silberschwingen haben. Es könnte deshalb schwierig werden, das Schiff anzugreifen.«
»Es gibt Sicherheitsvorkehrungen, die verhindern, dass ein Schiff der Familie auf ein anderes feuert«, sagte Oxalis.
Nach einer Minute erwiderte Galgant: »Wenn die Robots wirklich so erfinderisch sind, können sie die bestimmt umgehen. Ich möchte nur davor warnen, unnötige Risiken einzugehen. Aber wir verfügen ebenfalls über Panzerung, Impassoren, Waffen und sind zudem in der Überzahl. Ich schlage vor, wir deaktivieren die Beschleunigungssicherung der drei Führungsschiffe und lassen sie so dicht wie möglich zu Portula aufschließen.«
Melde war empört. »Ich möchte irgendwann wieder mit meinem Schiff fliegen.«
»Ich auch«, sagte Hederich.
»Raumschiffe kann man ersetzen«, entgegnete Galgant. »Jeder von uns ist wertvoller als jedes Schiff.«
»Und wenn der Plan scheitert?«, fragte Betonie. »Wenn wir drei Schiffe verlieren, was ist dann?«
»Mein Schiff hat die besten Chancen, Portula einzuholen«, sagte Galgant. »Außerdem können es meine Panzerung und Bewaffnung mit jedem anderen Schiff des Verfolgergeschwaders aufnehmen. Wenn es hart auf hart kommt, erwischt es mich als Ersten.« Er lächelte verkniffen. »Ich bin mir der möglichen Folgen meines Vorschlags voll bewusst, das könnt ihr mir glauben.«
»Wenn du angreifst, dann wir alle«, sagte ich.
»Das ist sehr großmütig von dir, Campion, aber wir müssen an die Familie denken – zu viel selbstlose Tapferkeit, zu viele heroische Gesten, und es ist bald keiner mehr übrig. Um zu überleben, müssen wir in Maßen der taktischen Feigheit frönen.« Galgant lächelte erneut – es war das Lächeln eines Mannes, der seine Chancen, einen weiteren Umlauf zu überleben, nicht sehr hoch einschätzte. »Ich bin nicht einer der Tapfersten. Auch ist keiner von uns der geborene Feigling, aber wir alle haben einen gesunden Sinn für Selbsterhaltung. Doch ich besitze nun mal das schnellste Raumschiff, deshalb bin ich verpflichtet, es zum Wohle der Familie einzusetzen.«
»Du wirst so lange abwarten, bis wir die ersten drei Schiffe eingeholt haben«, sagte Betonie. »Und dann wird es keine Einzelaktionen geben.«
»Dann ist das also schon beschlossene Sache?«, sagte Melde. »Unsere Schiffe werden ab sofort als entbehrlich betrachtet?«
»Besser die Schiffe als du«, erwiderte Betonie; sein Tonfall ließ erkennen, dass er das Thema für abgeschlossen hielt. »Seit dem Start beschleunigen wir mit konstant tausend Ge. Gibt es jemanden, der nicht darauf vorbereitet ist, im Notfall auf zwölfhundert Ge zu gehen?«
Wir zögerten mit der Antwort; uns allen war bewusst, dass wir unsere Raumschiffe stärker beanspruchen würden als je zuvor. Selbst wenn die Triebwerke durchhielten, wären wir darauf angewiesen, dass die Trägheitsdämpfer ihre Arbeit auch jenseits der normalen Belastungsgrenze zuverlässig verrichteten. Wir wechselten Blicke, in dem Bewusstsein, dass wir alle an einem Strang zogen und die Risiken gemeinsam schulterten.
»Ich bin dabei«, sagte ich.
»Wir machen alle mit«, sagte Hederich. »Alles oder nichts, so halten es die Gentianer.«