Einundvierzig
 
 
 
 
 
Als ich aus der Stasis kam, wartete eine Nachricht von Hesperus auf mich. Ich hatte vorgehabt, die Stasis zu beenden, wenn die Silberschwingen sich dem Sternendamm näherte und die Aktivierung des Öffners unmittelbar bevorstand. Wie es sich ergab, tobte gerade eine Raumschlacht, als ich unter die Lebenden zurückkehrte, beinahe ein Mikrokrieg zwischen den Verteidigern des Sternendamms und dem Raumschiff, das sie aufhalten wollten. Der Begriff »Raumschlacht« impliziert, dass das Kräfteverhältnis in etwa ausgeglichen ist. In diesem Fall aber handelte es sich um ein einseitiges Blutbad. Die Silberschwingen wehrte die Angriffsversuche der lokalen Zivilisationen so mühelos ab, als sei es unter ihrer Würde, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Dennoch ließen sie nicht locker, auch dann nicht, als sich schon Dutzende Raumschiffe in den Kampf gegen das hoffnungslos überlegene Angriffsziel geworfen hatten. Die Menschen und die Maschinen griffen weiter an. Ich beobachtete das Schauspiel mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen.
»Ich bin gescheitert«, sagte Hesperus, nachdem ich Portulas letzte Nachricht abgehört hatte, die sie vor dem Eintritt in die Stasis aufgezeichnet hatte. Er hatte die Nachricht vor einer Stunde abgeschickt und machte trotz der grauenhaften Zerstörungen ringsumher einen ruhigen und gefassten Eindruck. »Ich habe Portula gesagt, wir hätten nur dann Aussicht, dieses Schiff zu stoppen, wenn wir die weiße Arche vernichten. Ich dachte, ich könnte das, doch ich habe mich geirrt. Bedauerlicherweise konnte ich mich erst dann vergewissern, als ich den entsprechenden Befehl übermittelt hatte. Vorher hatte ich keine Möglichkeit, mich von dessen Wirksamkeit zu überzeugen.«
Er berichtete mir, was geschehen war – wie er und Portula gemeinsam zu der Entscheidung gelangt waren, das Schiff zu zerstören und auf diese Weise das Massaker und die Öffnung des Sternendamms zu verhindern. Er erzählte mir, er habe Portula dazu überredet, in einer Stasiskammer Zuflucht zu suchen, wo sie zumindest eine kleine Chance hätte, die Zerstörung der Arche, des Öffners und der Silberschwingen zu überstehen.
»Als ich alles zu meiner Zufriedenheit geregelt hatte, gab ich den Befehl. Als mein Bewusstsein nicht erlosch, wusste ich, dass ich gescheitert war. Portula ist klüger gewesen als wir beide, Campion – klüger als ich, klüger als ihr zukünftiges Ich. Sie hat Maßnahmen ergriffen, um den Öffner vor Sabotage zu schützen, deshalb hat sie wohl auch diese Möglichkeit vorausgesehen. Der Befehl wurde abgefangen und von Sicherheitsvorkehrungen neutralisiert, die meiner Aufmerksamkeit entgangen waren. Doch das ist noch nicht alles. Der Öffner wurde aktiviert – ich habe den Gravitonenimpuls gespürt, der den Silberschwingen vorausgeeilt ist. Ich weiß nicht, ob mein Befehl die Aktivierung ausgelöst hat, oder ob es sich um ein zufälliges Zusammentreffen handelte. Jedenfalls sind wir gescheitert.« Hesperus schwieg so lange, dass ich schon glaubte, die Nachricht sei zu Ende. Dann sagte er: »Wir verzögern. Sie werden es vielleicht schon bemerkt haben, aber für den Fall, dass Sie an Ihren Instrumenten zweifeln sollten, haben Sie jetzt meine Bestätigung. Jetzt können Sie uns leichter einholen, aber da der Öffner bereits aktiviert wurde, wäre nichts gewonnen, wenn Sie die Silberschwingen zerstören würden. Sie könnten den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht natürlich auch anzweifeln. Ich würde Ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Aber Sie sollten sich auf jeden Fall Gedanken darüber machen, welchen Sinn das Bremsmanöver haben könnte. Wenn wir den gegenwärtigen Kurs beibehalten – und bislang haben wir keine Kursänderung vorgenommen -, werden die Silberschwingen den Sternendamm wenige Stunden nach Eintreffen des Öffnersignals erreichen. Hätten wir die Geschwindigkeit beibehalten, wäre die Öffnung nicht groß genug, um ein Schiff zwischen den Ringwelten hindurchzulassen. Da wir aber verzögern, ändert sich das Bild ganz erheblich. Die Toleranz wäre noch immer sehr gering, doch ich glaube, dass die gewonnene Zeit ausreichen wird, um ins Innere des Sternendamms einzufliegen. Die Geschwindigkeitsänderung wurde vor dreißig Jahrhunderten Bordzeit festgelegt, Campion – ich glaube, die Robots hatten von Anfang an die Absicht, in den Sternendamm einzufliegen, was immer sich darin verbergen mag. Ihre Absicht war es, die Ersten Maschinen zu befreien, doch offenbar wollten sie auch Kontakt mit den Maschinen in Andromeda herstellen. Die Robots wollten durchs Wurmloch fliegen, und ich glaube, nichts kann sie jetzt noch daran hindern.« Er verstummte erneut, so dass ich Zeit hatte, das Gehörte mit den Informationen in Beziehung zu setzen, die uns Galgant gegeben hatte, bevor wir ihn nach Neume zurückverfrachtet hatten, wo Mezereum sich seiner annehmen würde. Das Tor, die Öffnung, der Durchgang – die makroskopische Wurmlochverbindung zwischen unserer Galaxis und Andromeda.
Jetzt endlich begriff ich, worauf Hesperus hinauswollte.
»Der Sternendamm wird nicht ewig offen bleiben. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass die Silberschwingen den Durchgang überstehen wird – eine solche Reise hat noch kein von Menschen erbautes Raumschiff unternommen -, doch wenn Sie uns jetzt nicht folgen, werden Sie vermutlich keine zweite Gelegenheit mehr bekommen. Es ist ein weiter Weg bis nach Andromeda.«
Ich übermittelte ihm meine Antwort. »Wenn der Kordon mich durchlässt, folge ich Ihnen.«
Die Anweisungen der Familie an die Adresse der lokalen Zivilisationen waren hinsichtlich des Angriffsziels eindeutig gewesen, und trotz der verheerenden Verluste, welche die Silberschwingen den Raumschiffen und Abwehrstationen des Kordons zugefügt hatte, versuchte niemand, an der Bummelant Vergeltung zu üben. Sie hatten begriffen, dass ich der Silberschwingen seit zweiundsechzigtausend Jahren folgte; sie wussten, dass ich keine Bedrohung für sie darstellte.
Die Silberschwingen hatte bis auf achtzig Prozent Lichtgeschwindigkeit verzögert; ich verzögerte ebenfalls, nachdem ich mich dem anderen Raumschiff bis auf fünf Lichtminuten genähert hatte. Obwohl der Öffner bereits aktiviert worden war, unternahm der Kordon einen letzten Versuch, die Silberschwingen aufzuhalten. Seine Waffen erzielten kaum mehr als ein paar Streiftreffer und vermochten das Schiff auch nicht zu verlangsamen.
Die schwarze, geschlossene Maschinerie des Sternendamms begann bereits auf das Signal zu reagieren. Die von Schubstationen in Position gehaltenen Ringwelten neigten sich aus ihrer Inklinationsebene heraus. Der Vorgang ging unendlich langsam vonstatten, doch die Überwachungsgeräte des Sternendamms bestätigten, dass tatsächlich Veränderungen stattfanden. Alarm wurde keiner ausgelöst, denn die Überwachungsgeräte wussten nur, dass ein als authentisch identifizierter gentianischer Öffner den Befehl übermittelt hatte. Eine sich stetig weitende, linsenförmige Öffnung tat sich an der Peripherie des Damms auf, als öffnete eine dunkle Murmel langsam ihr Zyklopenauge. Im Laufe einer Stunde verzögerte die Silberschwingen weiter bis auf fünfzig Prozent Lichtgeschwindigkeit, dann auf ein Drittel. Sie steuerte exakt das sich öffnende Auge an.
Wenn es noch einen Hoffnungsschimmer gab, so war es das Fehlen blendend hellen Lichts. Dieser Damm hatte keine Nova eingedämmt; die lokalen Zivilisationen brauchten wenigsten diese Gefahr nicht zu fürchten. Alles deutete darauf hin, dass Galgant die Wahrheit gesagt hatte.
Ich beobachtete, wie die Silberschwingen des Morgens durch die Lücke in das schwarze Uhrwerk des Sternendamms hineinstürzte. Sie hielt mehrere Lichtsekunden lang den Kurs, dann schwenkte sie abrupt ab und verschwand außer Sicht. Ein paar Minuten später kam ein stotterndes Signal durch, das möglicherweise von zahlreichen Reflexionspunkten zerhackt worden war. Die Bummelant destillierte jedoch eine verständliche Nachricht aus den Fragmenten.
»Hier spricht Hesperus. Ich hoffe, Sie können mich noch immer hören, Campion. Wir haben mit einer Reihe abrupter Kurskorrekturen begonnen, um die Lücken zwischen den inneren Ringwelten zu durchfliegen. Die Manöver fallen so heftig aus, dass die Trägheitskompensation nicht mehr richtig funktioniert. Bis zu fünfhundert Ge schlagen ungedämpft durch. Portula ist in der Stasis sicher, doch in Realzeit hätte sie nicht überlebt. Ich rate Ihnen dringend, ähnliche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Ich habe noch immer keine vollständige Kontrolle über die Silberschwingen, doch ich werde der Bummelant unsere Manöverdaten übermitteln, damit Sie unserem Kurs folgen können. Wenn Sie über die Bedingungen im Innern des Damms Bescheid wissen, können Sie die Belastung für Ihr Schiff entsprechend minimieren.«
»Danke«, sagte ich. »Ich gehe jetzt in Stasis. Viel Glück, Hesperus. Ich hoffe, ihr schafft es.«
»Wir sehen uns auf der anderen Seite wieder, Campion. Ich glaube, dann werden wir eine Menge zu bereden haben.«
»Ganz bestimmt«, sagte ich und wunderte mich, weshalb er auf einmal so menschlich wirkte.
Kurz darauf meldete die Bummelant, sie habe den Kurs der Silberschwingen erfasst. Portulas Schiff drang im Zickzackkurs immer weiter in den Sternendamm vor und zwängte sich durch Lücken, die in einigen Fällen nur wenige Tausend Kilometer breit waren. Hesperus hatte gut daran getan, mich vorzuwarnen. Der Durchflug war auch dann schon schwierig genug, wenn die Bummelant keine Rücksicht auf menschliche Passagiere nehmen musste.
Die Zeit reichte gerade noch aus, um eine Botschaft Richtung Neume zu übermitteln und die Familie von meinen Plänen zu unterrichten. Eine Kopie sandte ich an den nächsten Knotenpunkt unseres geheimen Netzwerks, denn jetzt kam es nicht mehr darauf an, ob es geknackt worden war oder nicht. Ich konnte mir nicht einmal sicher sein, dass die anderen Gentianer überhaupt noch lebten. Wir waren so schnell geflogen, dass die von Neume aufgefangenen Nachrichten lediglich einen Zeitraum von ein paar hundert Jahren abdeckten.
Da ich getan hatte, was ich konnte, überließ ich es der Bummelant, Portulas Kurs zu folgen, und flitzte zur Stasiskammer. Ich wählte einen Faktor von einer Million und wählte eine Dauer von hundert Stunden Bordzeit (eine grobe Schätzung, da ich keine Ahnung hatte, wie lange es dauern würde, den Mittelpunkt des Sternendamms zu erreichen und den Übergang durchs Wurmloch zu vollziehen). Dann ließ ich mich vom Feld einhüllen.
Vier Sekunden später war ich wieder in der Realzeit angelangt.
Ich trat aus der Kammer. Der Raum wirkte unverändert; die Schwerkraft war normal, das Schiff flog ohne wahrnehmbare Erschütterungen. Da ich mich tief im Innern des Raumschiffs befand, waren keine Schäden oder sonstige Beeinträchtigungen der Bordsysteme festzustellen. Einen Moment lang fragte ich mich, ob Hesperus mein Überleben womöglich höher bewertet hatte als sein gegebenes Wort und die Bummelant auf einen Kurs geleitet hatte, der am Sternendamm vorbeiführte. Diesen Gedanken verwarf ich jedoch gleich wieder: Er hatte genau gewusst, dass ich eher sterben würde, als die Verfolgung Portulas abzubrechen. Der Kabinenuhr zufolge waren bereits zehn Tage verstrichen.
Mit dem Gefühl, kaum weg gewesen zu sein, flitzte ich zur Brücke hoch. Als ich dort eintraf, wirkte auf den ersten Blick alles ganz normal, so als schwebte die Bummelant im Vakuum des Weltraums. Das Display allerdings gab keine Außensicht wieder, sondern behauptete, es habe Mühe, ein konsistentes Bild der Umgebung anzuzeigen. Außerdem wollte es keine Angaben zur momentanen Position der Bummelant machen. Die letzte verlässliche Positionsbestimmung war vor dem Einflug in den Sternendamm erfolgt, doch dem Bordspeicher zufolge hätte das Schiff vor fast hundert Stunden bereits wieder aus dem Damm austreten sollen. Trotzdem vermochte es keine Pulsare oder andere Orientierungspunkte zu erfassen und ortete auch keine bekannten Sternbilder. Es ortete überhaupt keine Sterne.
Dann befanden wir uns also woanders – vielleicht gar nicht mehr in der Milchstraße. Vielleicht waren wir ja bereits in der schwarzen Andromeda-Absenz angelangt und schwebten in einer sternenlosen Leere, die einst eine Galaxis gewesen war. Ich nahm im Steuersessel Platz und zog die Schwebekonsole zu mir heran, gab Befehle ein, um das Display zu zwingen, irgendetwas preiszugeben, und sei es wider besseres Wissen. Die Bummelant war nämlich so fürsorglich, dass sie Daten eher zurückgehalten hätte, als mir ungesicherte Informationen zu übermitteln, die womöglich aufgrund des Maschinenäquivalents eines »halluzinatorischen Deliriums« verzerrt worden waren. Schließlich aber setzte ich meinen Willen durch.
Das war ein Fehler.
Ich vermag nicht zu beschreiben, was ich sah. Ich war mir bewusst, dass ich nur den Versuch der Bummelant vor mir hatte, ihre eigene Wahrnehmung in eine für mich verständliche Form zu bringen, also das Echo eines Echos, doch es war immer noch zu viel, zu unverständlich, zu fremdartig. Gewaltige leuchtende Gebilde strömten aus zu vielen Richtungen auf mich zu und an mir vorbei, um die Eindrücke zu verarbeiten, sich gleichzeitig nähernd und sich entfernend, ständig in fließenden Übergängen die Form wechselnd, so dass sie weniger Maschinen glichen als vielmehr einem Naturphänomen, einem sich umstülpenden protoplasmischen Lebewesen, das in einem fort sein Inneres nach außen kehrte. Ich hatte den Eindruck furchterregender Geschwindigkeit und erschreckender Reglosigkeit, als würde die Bummelant von einem Sturm mitgerissen, den sie gleichzeitig um sich herum erschuf, während sie in dessen selbsterschaffenem Auge ruhte. Wenn dies nicht eine Wiedergabe der Bedingungen innerhalb der Absenz war, führte kein Weg daran vorbei, mir einzugestehen, dass ich mich noch immer im Innern des Wurmlochs befand.
Die Früheren haben das erbaut, dachte ich. Wenn wir die Ringwelten und die das Schwarze Loch der Mitte unserer Milchstraße umkreisenden sphinxhaften Maschinen betrachteten, haben wir geglaubt, ihre Wissenschaft sei der unseren überlegen gewesen. In Wahrheit haben wir nichts von ihren wahren Fähigkeiten begriffen. In Anbetracht einer solchen Wissenskluft wollte sich mein Bewusstsein in meinem Schädel verkriechen und darauf warten, dass das Universum verschwand. In sechs Millionen Jahren hatten wir noch nicht einmal an der Oberfläche des Möglichen gekratzt. Wir hatten kaum erkannt, dass es überhaupt eine Oberfläche zum Ankratzen gab.
Ich erwog, mich abermals in Stasis zu begeben, doch da ich noch nicht wusste, wie lange es dauern würde, entschied ich mich stattdessen für Synchromasch. Ich wählte den Faktor zehn, der es mir erlauben würde, zumindest zeitverzögert auf äußere Ereignisse zu reagieren. Nach drei Stunden subjektiver und zehn Stunden Bordzeit traf eine Nachricht ein, die, der vorsichtigen Einschätzung der Bummelant zufolge, von »vorne« kam.
Die Nachricht war von Hesperus. Das Signal war aufgrund des Dopplereffekts so verzerrt, als wäre die Fluggeschwindigkeit der Silberschwingen abrupten Schwankungen unterworfen – schien sie sich eben noch mit halber Lichtgeschwindigkeit zu entfernen, näherte sie sich im nächsten Moment mit einem Viertel Lichtgeschwindigkeit. Ich konnte nur vermuten, dass die Raumzeit zwischen unseren beiden Schiffen in hohem Maße elastisch war.
»Ich hoffe, Sie können mich hören, Campion. Ich kann Sie orten, woraus ich schließe, dass bei Ihrem Schiff zumindest die grundlegenden Funktionen intakt sind. Die Zeitverzögerung ändert sich ständig – es könnte sein, dass die Verbindung jeden Moment abbricht. Ich fürchte, die Silberschwingen ist während des letzten Abschnitts des Durchflugs und beim Eintreten ins Wurmloch beschädigt worden. Ich bemühe mich, das Schiff zu stabilisieren und die grundlegenden Funktionen wiederherzustellen, doch die Blockaden, die Kaskade errichtet hat, stehen mir dabei im Weg. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauern wird, bis wir wieder in den konventionellen Raum eintauchen, doch ich glaube, der Austritt aus dem Wurmloch wird nicht weniger heftig ausfallen als der Eintritt. Sie haben den Vorteil, dass Ihr Schiff kleiner und vielleicht auch wendiger ist. Ich werde mich nach Kräften bemühen, Portula zu schützen, doch ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es mir gelingen wird.«
»Ich bin wohlauf«, sagte ich. »Die Bummelant hat Mühe, sich zu orientieren, doch ansonsten ist sie in guter Verfassung.«
Hesperus’ Antwort ließ vierzig Minuten auf sich warten. »Das ist ja eine gute Nachricht, Campion. Ich würde Ihnen trotzdem empfehlen, so bald wie möglich wieder in Stasis zu gehen. Programmieren Sie den Apparat so, dass ich Sie aufwecken kann, sobald ich den Eindruck habe, dass unsere Schiffe nicht mehr gefährdet sind.«
»Danke, Hesperus, aber ich fühle mich im Moment ganz wohl.«
Diesmal traf die Antwort nach neunzig Sekunden ein. »Das ist Ihre Entscheidung, Campion. Sobald sich die Rückkehr in den Normalraum abzeichnet, schicke ich Ihnen gleichwohl eine Warnung. Vielleicht reicht die Zeit für Sie ja aus, um sich zu schützen, bevor die Bummelant in Schwierigkeiten kommt.«
»Ist Ihnen irgendetwas entgegengekommen?«
»Der Begriff ›entgegenkommen‹ ist in Anbetracht der diffusen Umgebung etwas problematisch.« Diesmal musste ich elf Minuten lang auf seine Antwort warten, die so stark rotverschoben war, dass sie kaum mehr verständlich war. »Aber wenn ich die Frage richtig verstehe, ich habe im Wurmloch keine anderen physikalischen Objekte detektiert. Unsere beiden Raumschiffe sind allein. Sie denken zweifellos an die Ersten Maschinen.«
»Wenn tatsächlich eine Invasionsflotte auf eine Gelegenheit gewartet hat, in die Galaxis durchzubrechen, dann wundert es mich, dass von ihr nichts zu sehen ist.«
Fünf Sekunden später sagte er: »Sie haben sich lange nicht gemeldet, Campion – ich habe angefangen, mir Sorgen zu machen. Ich bin sehr erleichtert, dass Sie noch am Leben sind. Mit Ihrer Beobachtung haben Sie Recht. Es ist vielleicht noch zu früh, um Schlussfolgerungen zu ziehen, aber der Umstand, dass kein Schiffsverkehr festzustellen ist, von Hinweisen auf die Ersten Maschinen ganz zu schweigen … das ist in der Tat verwunderlich.«
»Ich wüsste gern, was Kadenz und Kaskade dazu zu sagen hätten.«
»Ich nehme an, sie wären … beunruhigt«, erwiderte Hesperus zweieinhalb Stunden später.
»Wir wissen, dass die Ersten Maschinen existiert haben. Das lässt sich nicht bestreiten – oder doch?«
Nach elf Minuten: »Ich bin ihnen selbst begegnet, Campion. Das ist zwar lange her, doch ich glaube nicht, dass mir mein Gedächtnis Streiche spielt.«
»Ich weiß zwar nicht, wie das zugegangen sein soll, aber ich weiß, dass Sie und Portula nicht viel Zeit hatten, mir davon zu erzählen. Ich habe zahllose Fragen, aber vor allem beschäftigt mich eine: Wo sind sie?«
Nach fünfzehn Sekunden: »Vielleicht wissen wir mehr, wenn wir das Wurmloch hinter uns gelassen haben.«
»Was glauben Sie, werden wir in Andromeda vorfinden? Werden wir innerhalb der Absenz überhaupt existieren können?«
Nach neunzehn Stunden, zweiundzwanzig Minuten: »Kadenz und Kaskade haben offenbar geglaubt, sie könnten dort existieren, sonst hätten sie die Silberschwingen nicht auf diesen Kurs gebracht.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Freilich sind sie Roboter. Das könnte ihr Denken beeinflusst haben.«
Ich musste lächeln, obwohl diese Bemerkung für mich alles andere als beruhigend war. »Was, glauben Sie, wollten sie damit erreichen?«
Sechs Stunden später: »Sie wollten den Ersten Maschinen begegnen. Als Pilger vor Gott treten. Das habe ich Kadenz’ Bewusstsein entnommen, Campion. Sie hat das Ganze als Pilgerreise zu einem heiligen Bestimmungsort betrachtet.« Nach kurzer Pause: »Ich detektiere etwas – eine Veränderung der lokalen Bedingungen. Vielleicht spüren Sie es auch. Ich glaube, wir nähern uns dem Austrittspunkt. Sie sollten in Stasis gehen, Campion. Ich selbst …«
Er verstummte abrupt. Auf einmal herrschte undurchdringliche Stille. Es kam nicht einmal mehr ein Trägersignal herein. »Hesperus?«
Keine Antwort. Ich wartete eine Minute, zehn Minuten. Dann flitzte ich zur Stasiskammer, wählte eine Zeitdauer von hundert Stunden mit einem Faktor von einer Million und vertraute mich der Kammer an.
 
Ein Sternenband überspannte den Himmel, zusammengesetzt aus einer Milliarde Sternen, von denen keiner je von Menschen einen Namen verliehen bekommen hatte. Ich dachte an den lichtverstärkten Himmel über der Welt der Zentauren, an den Geschmack des starken Weins, als Portula und ich abends an der Bucht gesessen und Doktor Meninx bei seinem Schwimmversuch beobachtet hatten, während wir nervös darauf warteten, dass Herr Nebuly sein Urteil über meinen Datenspeicher fällte. Damals hatte ich die Milchstraße betrachtet. Jetzt sah ich sie wieder – doch es war eine andere Milchstraße – ein anderer Spiralarm -, die sich über den Himmel einer anderen Galaxis spannte. Sie wirkte schmerzlich vertraut, dabei war ich zweieinhalb Millionen Lichtjahre von zu Hause entfernt. Ein Sternengespinst ähnelt dem anderen, auch wenn sich alle Bezugspunkte verschoben haben.
Ich wusste, ich war nach Andromeda gereist und nicht zu einem anderen Punkt des Bezugsrahmens meiner Heimatgalaxis zurückgeschleudert worden. Obwohl die Umgebung mir vertraut vorkam, galt dies nicht für die Details. Die Bummelant horchte auf das Ticken von tausend Pulsaren und detektierte keinen einzigen bekannten. Auch in dieser galaktischen Scheibe gab es Pulsare, doch keiner rotierte mit der erwarteten Frequenz. Selbst wenn man die Verlangsamung berücksichtigte, die in einer Million oder in zehn Millionen Jahren auftreten mochte, entsprach keines der Muster den erwarteten Werten. Das Gleiche galt für die hellsten Sterne am Himmel – die wir zu Hause mit Sternendämmen umgeben hätten. Sie fügten sich nicht in die Himmelskarten ein. Das war Terra incognita.
Aber nicht ganz. Schließlich war Andromeda in den Millionen Jahren vor dem Auftreten der Absenz nicht gänzlich unbeobachtet geblieben. Im Speicher fanden sich Daten über Sternpopulationen, Pulsare, Kugelsternhaufen, sogar über die Position und den Typ einzelner Sterne. Im Laufe der Zeit würde das Navigationssystem der Bummelant die uralten Daten durchforsten, sie extrapolieren und mit den Beobachtungen korrelieren, um eine grobe Positionsbestimmung vorzunehmen.
Früher oder später würde ich wissen, wo ich mich befand, auch wenn die Positionsbestimmung nicht aufgrund irgendwelcher nahe gelegener Orientierungspunkte erfolgte. Schließlich befand ich mich immer noch innerhalb der lokalen Gruppe. Ich wies die Bummelant an, die Milchstraße und andere Galaxien der lokalen Gruppe zu lokalisieren und daraus unsere gegenwärtige Position abzuleiten. Die Fehlergrenze durfte ruhig ein paar tausend Lichtjahre in jede Richtung betragen. Ich wollte lediglich wissen, in welchem Spiralarm ich mich befand.
Die Bummelant machte sich an die Arbeit. Während ich auf das Ergebnis wartete, schaute ich mich in der näheren Umgebung um. Hesperus und die Silberschwingen waren nicht zu sehen. Ich wusste nicht, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war – immerhin war es besser, als wenn ich ein Schiffswrack vorgefunden hätte. Ich versuchte es mit einem Rundumfunkspruch, doch selbst nach hundert Stunden war noch immer keine Antwort eingetroffen. Abgesehen vom sinnlosen Knattern und Pfeifen der Radiostrahlung der Quasare herrschte absolute Funkstille. In der Galaxis, aus der ich stammte, herrschte ein ständiges Stimmengewirr. Das hier war ein Mausoleum.
Die Bummelant rechnete noch immer.
Hinter mir lag ein Planet, der sich mit einem Drittel Lichtgeschwindigkeit entfernte. Der Planet hatte keine Sonne – entweder hatte man ihn absichtlich in den interstellaren Raum befördert, oder er war durch eine gravitative Störung aus seinem Sonnensystem herausgeschleudert worden. Der Planet besaß keine Lufthülle, war von Kratern übersät und wurde allein vom Sternenlicht erhellt, doch in seinem Orbit kreiste etwas: eine Verzerrung des Raumgefüges, die offene Mündung des Wurmlochs, das mich hierher befördert hatte. Die Maschinerie der Früheren, welche den Tunnel offen hielt, war so unglaublich hochentwickelt, dass sie sich außerhalb der sichtbaren Dimensionen des makroskopischen Raums befand. Ich wies die Bummelant an, die Bahn des Planeten genau zu bestimmen, damit ich ihn jederzeit wiederfinden konnte. Dann fragte ich an, weshalb es so lange dauere, die Position der lokalen Gruppe zu berechnen.
Die Bummelant antwortete, sie habe Mühe, die Galaxis zu finden, in der ich geboren sei. In der Richtung, in der sie liegen sollte (basierend auf den mutmaßlichen Positionen der anderen Galaxien in der Gruppe), befände sich ein schwarzes Oval, umgeben von ein paar vereinzelten Sternen.
Eine zweite Absenz.
Ich hatte das Gefühl, man habe mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Noch ganz benommen von den Implikationen dieser Entdeckung sagte ich der Bummelant, sie solle davon ausgehen, dass die zweite Absenz mit der alten Galaxis identisch sei, und auf dieser Grundlage eine Positionsbestimmung vornehmen. Diesmal dauerte es weniger lang.
Ich befand mich in der Andromeda-Galaxis. Meine Position lag in einem definierten Raumvolumen mit tausend Lichtjahren Kantenlänge. Jetzt vermochte die Bummelant sogar einige Orientierungspunkte zu identifizieren. Sechstausend Lichtjahre in Richtung des galaktischen Zentrums lag eine Sternenbrutstätte, die noch immer Sonnen und Welten hervorbrachte und dem Datenspeicher bekannt war. Dreißigtausend Lichtjahre weiter fand sich ein U-Geminorum-Stern, ein Vetter des Veränderlichen SS433 aus unserer Heimatgalaxis.
Ich hatte Mühe zu begreifen, weshalb alles so vertraut aussah. Wohin ich auch blickte, überall sah ich ganz normal wirkende Sterne, die ganz gewöhnliche Konstellationen bildeten und normalen Umlaufbahnen folgten. Jenseits der Sterne konnte ich Kugelsternhaufen erkennen, Satellitengalaxien Andromedas und weitere, fernere Galaxien. Ich konnte bis hinter die lokale Gruppe blicken, bis in die karge Unendlichkeit des lokalen Clusters. Und jenseits des lokalen Clusters erstreckte sich die gewaltige Struktur der Schöpfung – galaktische Leere und galaktische Supercluster. Jenseits des am weitesten entfernten Superclusters erscholl das Trillern der stark rotverschobenen Quasare und das Zischeln der kosmischen Hintergrundstrahlung. Alles war so, wie es sein sollte.
Von der Absenz war nichts zu sehen. Kein schwarzer Nebel, der alles einhüllte. Kein schwarzer Vorhang, der die Galaxis vom Rest des Universums abschirmte.
Da wusste ich, dass alle unsere Annahmen über die Absenz falsch gewesen waren. Sie war nicht das, was wir darin gesehen hatten. Offenbar hatten wir uns auch im Hinblick auf die Ersten Maschinen getäuscht. Von ihnen fehlte jede Spur.
Allerdings musste jemand das Wurmloch aktiviert haben.
Kurz darauf fing ich ein gentianisches Signal auf. Es war erschreckend schwach, aber weil es das einzige sinnvolle Signal im Rauschen und Knattern des kosmischen Getöses war, konnte die Bummelant es gut isolieren. Offenbar stammte es von einem mehr als dreitausend Lichtjahre entfernten Sonnensystem. Um mir keine falschen Hoffnungen zu machen, hielt ich mir vor Augen, dass es unmöglich von Portula stammen konnte. Es sei denn, sie wäre aus einer anderen Wurmlochmündung ausgetreten, konnte sie in dieser kurzen Zeit nicht so weit geflogen sein.
Da ich jedoch nichts anderes zu tun hatte, wies ich die Bummelant an, dem Signal zu folgen.
 
Die Stasis verkürzte die hundertfünfzig Jahre Flugzeit auf wenige Minuten, die das Synchromasch kaum wert waren. Als ich näher kam, wurde das Signal stärker; abgesehen von einer periodischen Frequenzverlagerung, die von der Umlaufbewegung des Planeten um die Sonne hervorgerufen wurde, war es konstant. Hin und wieder wurde es undeutlicher, als werde es abgeschirmt. Der Sender befand sich entweder auf einem Planeten oder in einem Raumschiff, das sich in der gleichen Umlaufbahn bewegte. Hin und wieder wehrte ich mich gegen die Hoffnung, es könnte von Portula stammen, und fragte mich gleichzeitig, wie eine gentianische Signatur nach Andromeda gelangt sein sollte. Dass jemand unsere Funksprüche über den intergalaktischen Abgrund hinweg aufgefangen hatte, war ausgeschlossen, denn dafür war das Protokoll viel zu modern.
Die Ersten Maschinen hatten sich immer noch nicht blicken lassen, und auf die Früheren Andromedas gab es lediglich indirekte Hinweise. Als ich mich jedoch mit fast Lichtgeschwindigkeit dem Sonnensystem näherte, detektierte die Bummelant in der Nähe des Sterns gewaltige Gebilde, sie so groß waren wie die größten im Datenspeicher dokumentierten Früheren-Artefakte. Eine langsame Annäherung erschien mir ratsam. Als ich noch ein halbes Lichtjahr entfernt war, begann ich zu verzögern und machte mir Gedanken über das gewaltige, demütigende Spektakel, das mich erwartete. Ich wusste nicht, ob dies das Werk von Maschinen oder organischen Intelligenzen war. Ich wusste nur, dass die größten Bauwerke der Familie im Vergleich dazu wie die primitiven Hütten von Frühmenschen wirkten. Wir waren stolz auf unsere Sternendämme, aber sie waren aus den Komponenten einer anderen Zivilisation erbaut – wir bewegten lediglich die Einzelteile umher. Wir hielten uns viel auf unsere clevere Verwendung der Wurmloch-Materieleiter zugute, obwohl wir deren Funktionsweise nicht einmal ansatzweise verstanden hatten.
Das Sonnensystem, dem ich mich näherte, war das Monument gottgleicher Intelligenzen mit gottgleichen Fähigkeiten. Die stolzen Pläne der Familien verblassten dagegen. Die Botschaft lautete, kommt wieder, wenn ihr es ernst meint.
Es handelte sich um eine dreidimensionale Darstellung der geometrischen Grundkörper des platonischen Kosmos. Jedes der fünf Polyeder – Oktaeder, Ikosaeder, Dodekaeder, Tetraeder, Kubus – war von einer Kugel umschrieben, die als Gitterwerk ausgeführt war. Die Streben dieses gewaltigen Gebildes waren dicker als eine Sonne und hundertmal dicker als ein Planet. Sie maßen mehrere Lichtminuten in der Länge; die äußerste Kugel besaß somit einen größeren Durchmesser als der größte Sternendamm, den die Familie Gentian jemals erbaut hatte. Die Polyeder rotierten, jede Schicht in entgegengesetzter Richtung wie die nächst äußere. Der einzige Planet des Sonnensystems beschrieb seine Umlaufbahn in dem gewaltigen Gebilde und war in dem dunklen Planetarium kaum wahrzunehmen. Während ich weiter verzögerte, beobachtete ich, wie der Planet zwischen den Streben hindurchflog, ohne von seiner Bahn abgelenkt zu werden. Das Gebilde war lichtundurchlässig genug, um die Sicht auf den Planeten zu verdecken und das von dessen Oberfläche stammende Funksignal abzuschwächen, doch seine Masse musste verschwindend gering sein. Benommen fragte ich mich, ob es vielleicht aus einer stabilen Form der Läsionsmaterie bestand, welche die Homunculus-Waffen zurückließen.
Mit einem Hundertstel Lichtgeschwindigkeit durchflog die Bummelant die größte Kugelschale. Ich hatte bei der Durchquerung der Außenschicht mit einer Reaktion gerechnet, doch es trat weder bei dem Gebilde noch bei dem Planeten oder dem Funksignal eine Veränderung auf. Inzwischen hatte ich herausgefunden, dass die Signalquelle sich entweder auf der Planetenoberfläche oder in Bodennähe in der Atmosphäre befand. Der Planet besaß blaues Wasser und grünes Leben und eine Sauerstoffatmosphäre. Die Bummelant hatte, vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse, bereits gemeldet, ich könnte auf der Oberfläche überleben.
Ich stürzte durch den Kubus und den Tetraeder in den Zwischenraum des Dodekaeders hinein. Die Umlaufbahn des Planeten fädelte sich wie ein Ariadnefaden zwischen den Streben hindurch. Die Sonne stand sechs Lichtminuten weiter innen, umhüllt von den beiden kleinsten Polyedern und den dazugehörigen Kugelschalen. Sie glich einer Laterne mit durchbrochenen Verzierungen, die ein Schattentheater aufs Universum warf.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Planeten zu und bremste die Bummelant bis auf eine Annäherungsgeschwindigkeit von eintausend Kilometern pro Sekunde ab. Aus dem interstellaren Raum hatte ich bereits Kontinente und Meere ausgemacht, doch nun konnte ich die Topographie in allen Einzelheiten erkennen. Während der Planet eine Rotation vollendete – die Rotationsdauer betrug exakt vierundzwanzig Stunden, ein Hinweis auf Menschenwerk -, verfeinerte die Bummelant die Landkarten und suchte nach Anzeichen technischer Aktivitäten.
Da entdeckte ich im Orbit das Wrack der Silberschwingen des Morgens, das den Planeten knapp außerhalb der atmosphärischen Ausläufer umkreiste, die es hätten abbremsen können.
Mir stockte der Atem. Ich hatte erlebt, wie dieses wundervolle Schiff die Aufmerksamkeit interstellarer Zivilisationen an sich hatte abprallen lassen, ohne deren Waffen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ich hatte mich bemüht, es einzuholen, als es in den Sternendamm eintauchte, ohne mich von seinem hochriskanten Kurs abschrecken zu lassen. Ich hatte seine Annäherung an die Meere von tausend Welten miterlebt. Mit der Zeit hatte ich es dermaßen mit der Frau identifiziert, die ich liebte, dass es mir schier das Herz brach, es in diesem Zustand zu sehen.
Seine letzte Handlung hatte offenbar darin bestanden, Portula zu dieser Welt zu bringen. Die Schäden waren so gewaltig, dass ich ihm höchstens noch einen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit zutraute. Kilometerlange Teile waren abgerissen, darunter auch ein Großteil der Verkleidung des Antriebs. Die nach oben geschwungenen Flügel waren auf der einen Seite verbogen und auf der anderen abgerissen. Die einstmals silbern glänzende Hülle war, abgesehen von den Stellen, wo verborgene Maschinen herauslugten, schwarz. Die Bummelant scannte das Schiff, musste jedoch feststellen, dass es sich um ein totes Wrack ohne Energieversorgung handelte. Ich hätte Sonden in das fünfundzwanzig Kilometer lange Wrack schicken können, doch ich wusste, dass sie keine Spuren von Leben darin gefunden hätten. Natürlich war nicht auszuschließen, dass Portula tief im Innern des Wracks in einer Stasisblase ausharrte, doch mein Instinkt sprach dagegen. Aus reiner Gründlichkeit hätte ich das Schiff dennoch durchsuchen sollen, doch ich konnte die Geduld nicht aufbringen, das Ergebnis abzuwarten.
Ich versuchte erneut, sie anzufunken. »Hesperus, Hesperus oder Portula. Ich bin’s, Campion. Meldet euch.«
Ich bekam keine Antwort. Ich setzte meine Bemühungen zehn Stunden lang fort.
Schließlich wandte ich meine Aufmerksamkeit der Oberfläche und dem Ursprung des gentianischen Funksignals zu. Ich hatte es in der Zwischenzeit keineswegs vergessen gehabt, doch die Bummelant hatte bereits Untersuchungen angestellt und dabei keine Anzeichen organisierter Aktivität festgestellt. Irgendwoher musste das Signal stammen, doch ich musste annehmen, dass die letzte Handlung der Silberschwingen darin bestanden hatte, eine Funkboje abzusetzen, um die namenlose Welt für die Familie zu reklamieren.
Gleichwohl fühlte ich mich verpflichtet, weitere Nachforschungen anzustellen.
Ich ließ die Bummelant in die Atmosphäre einfliegen; seit dem Besuch auf der Welt der Zentauren war es das erste Mal, dass sie wieder mit Luft in Berührung kam. Das Schiff senkte sich durch die tropischen Wolkengebirge ab, bis es über dichtem grünem Urwald schwebte, der sich von Horizont zu Horizont erstreckte. Ich machte mir Gedanken über den Ursprung dieses kleinen Planeten. Vielleicht war dies die einzige Welt dieses Sonnensystems, die man nicht als Grundmaterial für die ätherischen platonischen Körper verwendet hatte. Oder aber er war ursprünglich um eine andere Sonne gekreist, in einer ganz anderen Gegend dieser unbewohnten Galaxis. Ich fragte mich, wem er wohl diese üppige biologische Fruchtbarkeit zu verdanken haben mochte und ob deren Alter nach Millionen oder Milliarden Jahren zählte.
Der Ursprung des gentianischen Funksignals ließ sich lediglich bis auf mehrere Quadratkilometer genau eingrenzen – es schien so, als stammte es von einem Sender dieser Größe, auch wenn dort keine Maschinerie auszumachen war. Ich bremste die Bummelant bis auf eine Geschwindigkeit von weniger als einem Kilometer pro Sekunde ab und suchte das fragliche Gebiet nach Strukturen ab, die vom Weltraum aus nicht sichtbar waren. Das Pflanzenwachstum war hier spärlicher, und es wechselten sich flache Felsenplateaus miteinander ab, durchzogen von tiefen Schluchten. Die steilwandigen Plateaus ragten aus dichtem, dunklem Dschungel auf, doch die Seiten waren felsig und vegetationsfrei. Einige wiesen kleine Ökosysteme auf, die von Regenreservoirs gewässert wurden, die schmale, von Regenbogen überspannte Wasserfälle speisten. Andere waren trocken und wirkten unbelebt. Soweit sich das feststellen ließ, stammte das gentianische Funksignal von einem dieser vegetationsfreien Plateaus.
Ich brachte die Bummelant einhundert Meter über der glatten Oberfläche der Formation zum Halten. Mein Schiff war zu groß, um zu landen; es hätte in Besorgnis erregendem Maße über den Rand hinausgeragt. Da ich dem Urteil des Schiffes vertraute, wonach die Atmosphäre keine gefährlichen Stoffe enthielt, die mich töten oder mir irreversibel schaden könnten, senkte ich eine Rampe ab und schritt in meiner gentianischen Trauerkleidung hinunter. Als ich auf festem Boden stand, fuhr die Bummelant die Rampe wieder ein und stieg so weit empor, bis sie nur noch ein handtellergroßer Fleck am Himmel war. Der Wind war warm und wohlriechend. Die Luft war voller Pollen und Mikroorganismen und beanspruchte uralte Abwehrkräfte meines Körpers. Ich wischte mir mit dem Ärmel die Nase und näherte mich dem Rand des Plateaus, bis meine Fußspitzen nur noch einen Schritt vom Abgrund entfernt waren. Das Plateau endete in einem bröckligen Überhang. Ich dachte an Mieres langen Sturz. Die Schlucht war tief, und wenn ich das Gleichgewicht verlor, würde die Bummelant nicht schnell genug reagieren können. Als der heiße Wind die Richtung wechselte und mich zum Rand zu drücken drohte, wich ich etwas würdelos einen Schritt zurück.
»Setz dich zu mir, Campion.«
Die Stimme erschreckte mich aus zwei Gründen; erstens hatte ich nicht mit Gesellschaft gerechnet, und zweitens hatte ich nicht erwartet, eine mir unbekannte menschliche Stimme zu vernehmen, die Trans sprach. Hesperus war es nicht; und auch nicht Portula. Ganz langsam drehte ich mich um, denn der Sprecher hatte sich mir von hinten genähert, obwohl ich mich auf dem Plateau allein gewähnt hatte. Ich war froh, dass ich keine Energiepistole dabeihatte, denn sonst hätte ich bestimmt reflexhaft gefeuert.
Es war ein Mensch und doch kein Mensch. Eine Gestalt näherte sich mir in entspannter, unbedrohlicher Haltung, den einen Arm grüßend erhoben. Im Gehen verfestigte sie sich zusehends. Dann bemerkte ich, dass sie aus zahllosen Glaskugeln bestand, die etwa so groß waren wie die Murmeln, mit denen ich gespielt hatte, als ich noch Abigail gewesen war. Die Murmeln kamen aus allen Richtungen herangeflogen und fügten sich zu der Gestalt eines gehenden Menschen. Bis dahin hatten sie in der Luft geschwebt und vermutlich das Funksignal ausgesendet. Ein Maschinenaggregat, dem Luftgeist ganz ähnlich.
»Wer bist du?«, fragte ich.
»Setz dich zu mir«, wiederholte die Gestalt. Sie ging zur Felskante, setzte sich und ließ die Beine über den Rand baumeln. Sie hatte sich ein paar Meter links von mir gesetzt. Mit einer Hand aus Murmeln klopfte sie auf den Felsboden, was ein leises Klingeln hervorrief, das mich ermutigte, der Aufforderung nachzukommen. »Nur zu«, sagte sie beiläufig und einladend, obwohl der allzu menschlichen, allzu onkelhaften Stimme etwas eigen war, das es mir nahelegte, ihr nicht zu widersprechen. »Es ist ja nicht so, als hättest du etwas Besseres vor, nicht wahr, Splitterling?«
Der Glasmensch hatte Recht. Ich war hierher gekommen, um nach Portula und nach Antworten zu suchen. Da Portula nicht da war, musste ich mich halt mit den Antworten begnügen. Vorsichtig ließ ich mich auf den Boden hinab und ließ die Beine baumeln, wobei ich mir bewusst war, wie dünn der Felsvorsprung war, auf dem ich saß.
»Noch einmal: Wer bist du?«
»Das weißt du doch schon. Du hast erwartet, uns in dieser Galaxis anzutreffen, doch als du hier ankamst, waren wir nicht da. Ich bin alles, was noch übrig ist; die Letzte der Ersten Maschinen.«
»Nur Portula hat sie so genannt.«
»Aber sie hat mit Hesperus gesprochen, und Hesperus hat es sich gemerkt«, widersprach mir der Glasmensch.
»Dann hast du mit Hesperus gesprochen.«
»Das kann man so nicht sagen. Bei seiner Ankunft war er stark beschädigt. Der Durchflug hat sich sehr schwierig gestaltet. Du hast das Raumschiff gesehen.«
»Und Hesperus?«
»Er ist auf den Planetenboden gestürzt. Er hatte keine Zeit mehr, eine kompaktere Gestalt anzunehmen, doch als ich ihn erreichte, war von seinem Bewusstsein nicht mehr viel übrig. Ich übernahm seine Erinnerungen, so weit sie noch vorhanden waren. Viel mehr konnte ich für seine Persönlichkeit nicht tun. Das meiste hatte er bereits aus eigenem Entschluss abgelegt.« Die Gestalt verstummte, als gedächte sie der verstorbenen Maschine. Ich blickte über die Schlucht hinweg, die uns von der Steilwand des nächsten Plateaus trennte, und wartete darauf, dass der Glasmensch weitersprach. Der Waldboden war in Nebel gehüllt, der das Rauschen des fernen Wasserfalls dämpfte. »Das war sehr bedauerlich«, fuhr er schließlich fort. »Wir hätten so vieles zu bereden gehabt. Nach der langen Zeit gab es viel zu erzählen. Ich habe seine Gesellschaft immer sehr gemocht.«
»Du kannst Hesperus nicht gekannt haben. Er war ein Maschinenwesen. Ihr wart schon Millionen Jahre tot, als er auf der Bildfläche erschien.«
»Da irrst du dich, Splitterling – aber ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, dass dir nicht alle Fakten bekannt sind. Hesperus war früher auch mal ein Mensch. Abraham Valmik lautete sein Name. Geboren wurde er in der Goldenen Stunde. Als die Ersten Maschinen auftauchten, wurde Valmik unser Freund. Wir bezeichneten ihn als unseren Fürsprecher. Wir schätzten ihn sehr und hofften, er würde zwischen unseren beiden Lebensformen vermitteln. Wir haben uns geirrt, doch das war nicht Valmiks Schuld. Er hat getan, was er konnte, und dafür werden wir ihm ewig dankbar sein.«
»Ist es wahr, dass wir die Ersten Maschinen getötet haben?«
»Ihr habt versucht, uns zu töten, und uns einen Dolch in die Brust gerammt. Doch der Dolch ist abgeglitten. Es war ein Unfall, doch das lässt die Tatsache, dass wir überhaupt mit dem Dolch bedroht wurden, nicht weniger widerwärtig erscheinen.« Der Glasmensch legte die Hand auf seine Brust. »Einige von uns hatten Glück – sie waren weit genug vom Zentrum unserer Gesellschaft entfernt, so dass ihnen Zeit blieb, zu flüchten und sich gegen die Bedrohung zu wappnen. Ich war einer der Flüchtlinge. Wir suchten in Andromeda Zuflucht, denn wir glaubten, die organischen Wesen würden uns in Ruhe lassen, wenn wir ihnen ihre Galaxis überließen.«
»Wir haben das Verbrechen vergessen«, sagte ich. »Dann tauchten die Maschinenwesen auf.«
»Ja. Vielversprechend, nicht wahr? Was hältst du von ihnen?« Das fragte er ganz vertraulich, als wäre ihm wirklich an meiner Antwort gelegen. »Sie machen uns Hoffnung, wecken aber auch Befürchtungen.«
»Ich glaube, sie würden uns am liebsten alle vernichten.«
»Würdest du ihnen daraus einen Vorwurf machen? Ihr habt, das lässt sich nicht leugnen, eine ausgeprägte Neigung, Maschinenintelligenzen zu töten. Es wäre das gute Recht der Maschinenwesen, Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, meinst du nicht?«
»Ich weiß nicht. Die Familien haben ein Verbrechen begangen und es anschließend vertuscht. Soll man auch alle anderen Kulturen der Metazivilisation für etwas zur Verantwortung ziehen, woran sie nicht beteiligt waren und wovon sie nicht einmal wussten?«
»Das ist die Frage.«
»Wir haben geglaubt, die Ersten Maschinen würden durch das Wurmloch kommen und den Maschinenwesen beistehen. Davon sind auch Kadenz und Kaskade ausgegangen.«
»Ja – Kadenz und Kaskade«, sagte er nicht ohne Widerwillen. »Ich weiß aufgrund von Hesperus’ Erinnerungen über sie Bescheid. Nun, was glaubst du, Splitterling? Sieht es so aus, als würden sich die Ersten Maschinen sammeln, um durch das Wurmloch zu stürmen und blutige Vergeltung an denen zu üben, die sich an ihnen vergangen haben? Dürsten wir nach Rache, nach diesem sinnlosesten aller biologischen Beweggründe?«
»Abgesehen von diesem Sonnensystem habe ich noch nichts von euch gesehen. Andromeda macht einen vollkommen unbewohnten Eindruck.«
»Was hast du denn erwartet?«
»Wir haben geglaubt, die Absenz sei die Folge planvoller Aktivitäten der Andromeda-Früheren. Als ich von den Ersten Maschinen erfuhr, nahm ich an, sie seien dafür verantwortlich. Aber hier gibt es nichts – nur Millionen unbewohnte Sonnensysteme. Vielleicht versteckt oder tarnt ihr euch, aber wenn das so ist, stellt ihr es sehr geschickt an. Was die Absenz angeht, verstehe ich gar nichts mehr. Wir befinden uns in Andromeda – das haben die Positionsbestimmungen der Bummelant bestätigt -, aber alles wirkt vollkommen normal. Und wenn ich in die Richtung unserer Heimatgalaxis schaue, sehe ich eine weitere Absenz.«
»In einer Beziehung hast du Recht«, sagte der Glasmensch. »Die Absenz war die Folge planvollen Vorgehens. Die Reaktivierung der Wurmlochverbindung war eine der letzten Handlungen der Ersten Maschinen vor unserem Verschwinden.«
»Ich verstehe noch immer nicht.«
»Es geht um die Erhaltung der Kausalität. Was du als Andromeda-Absenz wahrgenommen hast, ist nichts weiter als eine Barriere, die nur einseitig für Informationen durchlässig ist. Sie ist immer noch da. Wenn du in den Himmel schaust, zum Rand des Universums, nimmst du Photonen wahr, welche die Barriere in der zugelassenen Richtung durchquert haben. Umgekehrt können keine Photonen – oder irgendwelche anderen Informationen transportierenden Gebilde – Andromeda verlassen. Du siehst eine lichtlose Hülle, welche die ganze Galaxis umfasst, mit Ausnahme der vorgelagerten Sterne, die zum Zeitpunkt des Entstehens der Absenz zufällig nicht erfasst wurden. Das Gravitationsfeld der Galaxis durchdringt die Hülle, doch das ist weitestgehend statisch und übermittelt keine Informationen.«
»Und unsere Heimatgalaxis?«
»Für die gilt das Gleiche. Von dem Moment an, da die Wurmlochverbindung aktiviert und ein superluminaler Informationsfluss zwischen den Galaxien möglich wurde, wurden die Galaxien vom Rest des Universums abgeschirmt. Jetzt siehst du die Milchstraßen-Absenz von außen, doch sie existiert bereits ebenso lange wie die Andromeda-Absenz. Da der Informationsfluss innerhalb der Barriere nicht beeinträchtigt wird, wusstest du nichts von ihrem Vorhandensein.«
»Aber wir hätten unseren Bereich niemals verlassen können. Kein Raumschiff und kein Funksignal hätte die Barriere durchdringen können.«
»Haben die Familien jemals Kundschafter in den intergalaktischen Raum entsandt, Splitterling?«
»Von denen hat sich keiner wieder gemeldet.«
»Jetzt kennst du den Grund. Die Absenz ist eine Barriere, die den überlichtschnellen Verkehr zwischen zwei Millionen Lichtjahre voneinander entfernten Punkten im Raum erlaubt, ohne dass das Kausalitätsgesetz verletzt wird. Im weiteren Universum wird keine überlichtschnelle Bewegung wahrgenommen.«
»Habt ihr die Barriere errichtet oder sie nur reaktiviert?«
»Um die Dinge mal in die richtige Perspektive zu rücken, Campion: Maschinenintelligenzen gibt es erst seit fünf Millionen Jahren. Die Früheren, welche die Wurmlochverbindung installierten, haben Milliarden Jahre lang Materie und Energie im kosmischen Maßstab manipuliert. Das muss selbst für sie eine große Herausforderung dargestellt haben. Wir wissen noch immer nicht, wie sie es angestellt haben. Wir wissen nur, dass es funktioniert.«
»Der Preis für die intergalaktische Reise besteht also darin, dass wir nirgendwo anders hinkönnen. Wolltest du das damit sagen?«
»Ich habe nichts dergleichen gesagt. Glaubst du etwa, das wäre die einzige Wurmlochverbindung, die aus Andromeda hinausführt? Es gibt noch mehr, Campion – sehr viele sogar. Wir haben viel Zeit darauf verwandt, ihre Position und ihre möglichen Zielorte zu bestimmen.« Er zeigte in den Himmel hoch, in die Richtung der sich allmählich gen Westen senkenden Sonne. »Wenn es Nacht wäre, würdest du jetzt in die Richtung der Bootes-Leere blicken, die etwa zweihundertfünfzig Millionen Lichtjahre entfernt ist – hundertmal weiter, als du bisher gereist bist. Das ist einer der größten leeren Bereiche im sichtbaren Universum – eine gewaltige Raumregion ohne Galaxien, das perfekteste Vakuum der Schöpfung. Aber wie wäre es, wenn sich dennoch Galaxien in dieser Dunkelheit befinden würden, eine jede innerhalb ihrer eigenen Absenz verborgen, alle durch superluminale Wurmlöcher miteinander verbunden? Stell dir das vor, Campion – ein gewaltiges, lungenartiges Netzwerk von Tausenden oder Zehntausenden Galaxien, die Entsprechung eines ganzen Superclusters!«
»Man würde die Absenzen sehen. Sie würden die Hintergrundstrahlung abschirmen.«
»Mag sein.« Der Glasmensch schwenkte die Hand, als hielte er meinen Einwand für belanglos. »Es gibt andere Theorien, entwickelt von den Ersten Maschinen, wonach man die Absenzen sozusagen unsichtbar machen könnte, wenn es der Superzivilisation sinnvoll erscheint. Wir sind mit unserem Verständnis des Phänomens noch nicht so weit, aber wer weiß schon, was in einer Million oder einer Milliarde Jahren alles möglich sein wird? Die Wurmlochverbindung ist nach einer langen Periode der Inaktivität noch in Stabilisierung begriffen – dir werden während des Übergangs die Verwerfungen des Raumzeitgefüges aufgefallen sein. Es wäre denkbar, dass auch die Absenz ihren Endzustand noch nicht erreicht hat.« Ich wollte etwas einwerfen, doch er kam mir zuvor. »In Wahrheit gibt es viele Wurmlöcher dort draußen. Ich habe dir gesagt, ich wäre die letzte der Ersten Maschinen. Die anderen haben Andromeda über die Wurmlochverbindungen verlassen, in der Absicht, ihnen so weit wie möglich zu folgen. Ich habe keinen Zweifel, dass sie die lokale Gruppe bereits weit hinter sich gelassen haben, falls sie nicht schon in der Bootes-Leere angekommen sind.«
»Was hoffen sie dort zu finden?«
»Etwas Größeres und Besseres als sie selbst. Du hast selbst gesehen, was wir mit der Materie anstellen können, wenn uns danach ist. Keplers platonisches Modell – gefällt es dir?«
»Vor allem hat es mich erschreckt.«
»So wird es uns mit der Superzivilisation der Bootes-Leere gehen, falls sie existiert.«
Ich betrachtete den aus der Tiefe aufsteigenden Nebel. »Wirst du ebenfalls fortgehen?«
»Jetzt, da es für mich hier nichts mehr zu tun gibt – warum nicht? Was ich von Andromeda gesehen habe, reicht für ein ganzes Leben.«
»Und was ist mit uns? Wird man uns für unsere Taten bestrafen?«
Der Glasmensch legte mir seine Murmelhand zwischen die Schulterblätter. »Glaubst du wirklich, wir hätten auch nur das geringste Interesse daran, irgendjemanden zu bestrafen?«
»Wir hätten euch fast ausgerottet.«
»Ja, und das war unverzeihlich. Trotzdem verzeihen wir euch. Welchen Sinn hätte es, einer Superzivilisation anzugehören, wenn man nicht hin und wieder großzügig ist? Ich könnte dich jetzt von der Steilkante stoßen und zusehen, wie du in die Tiefe stürzt. Vielleicht würde es mir sogar eine gewisse Genugtuung bereiten, dich im Bewusstsein dessen, was du getan hast, sterben zu sehen, doch welchen höheren Sinn hätte das?«
Der Druck in meinem Rücken ließ nach; ich konnte mich wieder ein wenig zurücklehnen.
»Damit habe ich nicht gerechnet.«
»Überraschungen sind eine feine Sache. Um ihretwillen leben Intelligenzen wie du und ich.« Der Glasmensch richtete sich auf. »Ich glaube, wir haben nichts mehr zu bereden, Splitterling. Ihr könnt diese Galaxis haben. Ich schlage vor, ihr nehmt davon Abstand, uns durch das Wurmloch-Netzwerk zu folgen – wenigstens ein paar Millionen Jahre lang. Sagen wir, fünf oder zehn Millionen Jahre. Dann vielleicht werden wir miteinander sprechen können, von Metazivilisation zu Metazivilisation. Bis dahin solltet ihr versuchen, diese Zivilisation nicht zu ruinieren. Wie nennt ihr Menschen das noch gleich – Wandel? Es muss eine bessere Möglichkeit geben, meinst du nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich aufrichtig. »Wir tappen immer noch im Dunkeln und bemühen uns herauszufinden, wie wir im galaktischen Maßstab leben sollen.«
»Du hast Recht. Ihr steht immer noch am Anfang. Ich sollte nicht so streng sein.«
»Wird es Krieg geben? Zwischen uns und den Maschinenwesen, meine ich.«
»Wenn ja, hat er vielleicht schon begonnen. Seit deinem Auftauchen ist nichts mehr durch das Wurmloch gekommen, aber da du diese Welt mit knapp Lichtgeschwindigkeit angeflogen hast, heißt das nicht, dass dir nicht jemand hätte folgen können. Vielleicht sind sie ja noch unterwegs, oder sie wurden ein paar tausend Jahre aufgehalten, oder der Sternendamm hat sich wieder geschlossen. Jedenfalls kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass du in ausgesprochen interessanten Zeiten lebst.«
»Ein Makrokrieg, der die ganze Milchstraße erfasst.«
»Dazu muss es nicht kommen. Selbst wenn der Krieg schon ausgebrochen sein sollte, kann man ihn immer noch eindämmen. Ihr habt Feinde unter den Maschinenwesen, das ist sicher. Aber es gibt unter ihnen auch Verbündete und Sympathisanten wie Hesperus. Er war nicht der Einzige. Am besten wäre es, wenn die progressiven Elemente der menschlichen Metazivilisation einen Vorstoß unternehmen und ihre Pendants im Raum der Maschinenzivilisation in die Arme schließen würden. Die Familien könnten dabei eine herausragende Rolle spielen – auch eine dezimierte, ausgelaugte Familie, an deren Händen Blut klebt.«
»Die Familie Gentian?«
»Genau.«
»Wir sind am Ende. Soviel ich weiß, bin ich der letzte Überlebende.«
»Das glaube ich nicht, Splitterling.«
Er hatte begonnen, sich aufzulösen. Die ersten Glasmurmeln lösten sich aus dem Verband und flogen davon. Mit seiner bereits unvollständigen Hand fasste er sich zerstreut an die Stirn. »Ich hätte es schon eher erwähnen sollen. Deiner Einschätzung nach hast du das Wurmloch vor dreitausend Jahren verlassen, nicht wahr?«
Ich nickte unbehaglich. »So ungefähr.«
»Die Silberschwingen ist viel eher ausgetreten. Das Schiff wurde beim Durchflug so stark beschädigt, dass es nur noch langsam fliegen konnte. Es erreichte den Orbit dieser Welt vor siebzehneinhalbtausend Jahren.«
Ich hatte das Gefühl, der Felsboden gäbe unter mir nach – auf einmal war all meine Hoffnung zerstört. Eben noch war sie wie ein Sonnenstrahl durch eine Wolkenlücke gefallen und hatte einen Lichtschimmer ins Dunkel gebracht.
»Ich verstehe nicht.«
»Ich habe dir gesagt, das Wurmloch sei noch in Konsolidierung begriffen. Du musst daher abwarten, bis es sich stabilisiert hat. Du wirst schon zurechtkommen. Es ist ja nicht so, dass du keine Erfahrung mit großen Zeiträumen hättest.«
»Du hast erwähnt, du hättest Hesperus gefunden. Was ist mit Portula passiert? Hast du sie in Stasis angetroffen?«
»Ich habe den Roboter gefunden. Er hat das sterbende Schiff verlassen und ist vom Himmel gefallen. An Bord konnte niemand mehr überleben – da der Antrieb jeden Moment zu detonieren drohte, wäre es viel zu gefährlich gewesen, in Stasis zu bleiben. Seinem Gedächtnis habe ich entnommen, dass es auch nicht möglich war, zu landen oder ein Shuttle zu benutzen.«
Hesperus musste auch nach dem Durchtritt durch das Wurmloch noch schwerwiegende Defekte gehabt haben. Da das Schiff nicht dem gentianischen Signal gefolgt sein konnte, war es vermutlich dem einzigen Hinweis auf die Aktivität von Intelligenzen gefolgt, den es hatte feststellen können – dem platonischen Modell mit dem Stern in der Mitte.
»Hat er Portula mitgebracht?«
»Ich möchte dir den Roboter zeigen, Splitterling – er dürfte dich interessieren. Es dauert nicht lange – er befindet sich im Urwald, am Fuße des Plateaus.« Der Glasmensch beugte sich über die Felskante. »Tritt vor!«
»Was?«
»Es sei denn, du weißt eine bessere Möglichkeit, nach unten zu gelangen. Auf das Raumschiff würde ich dabei nicht setzen – es ist viel zu groß. Nur keine Angst – ich fange dich auf.«
»Also muss ich dir vertrauen.«
»Ja«, sagte der Glasmensch, »genau darum geht es. Von heute an wird Vertrauen eine viel größere Rolle spielen als zuvor. Wie wäre es, wenn wir jetzt gleich danach handeln würden?«
Ich schloss die Augen. Mir kam der Gedanke, dass dies vielleicht die Strafe war; dass die Ersten Maschinen den Glasmenschen zurückgelassen hatten, um einen Vertreter der menschlichen Spezies zu quälen und stellvertretend an ihm Rache zu üben anstatt an der ganzen Metazivilisation.
Aber wie Hesperus einmal gesagt hatte: Rache war etwas für biologische Wesen. Maschinen dachten anders.
Ich trat ins Leere.
Einen Moment lang fühlte ich mich schwerelos und fürchtete schon, ich sei hereingelegt worden. Dann aber holten mich die Einzelteile des Glasmenschen ein und fingen mich auf, so wie der Luftgeist mich auf Neume aufgefangen hatte. Die Murmeln schoben sich unter meine Arme, meinen Rücken und die Beine.
Ich sank durch den Nebel in die Tiefe, erst auf einen tosenden Wasserfall zu und dann hinein in das grüne Zwielicht des Urwalds. Tierisches Leben gab es keins; kein Wesen mit Verstand oder einem Mund. Abgesehen vom Säuseln des Laubs, dem Knarren der alten Baumstämme und dem Rauschen des herabstürzenden Wassers, das dem Hintergrundgeräusch zahlloser Quasare glich, war es still. Noch immer schwebend, näherten wir uns dem Fuß der Felswand. Der Nebel glich einer weißen Decke, durch die stellenweise der blaue Himmel oder ein Teil des Felsplateaus lugte.
Ich setzte sanft auf. Die Lichtung war mit einer Art dickblättrigem, feucht glänzendem Gras bestanden. Gras war allgegenwärtig, und anscheinend galt das selbst für Andromeda. Abgesehen von einer drei Meter durchmessenden Glaskugel mit einer darin eingelassenen goldenen Gestalt war die Lichtung leer.
»Er befindet sich noch in Stasis«, sagte der Glasmensch, während er allmählich wieder menschenähnliche Gestalt annahm. »Dieser Zustand währt jetzt siebzehneinhalbtausend Jahre, doch nach subjektiver Zeit sind weniger als sechs Tage verstrichen.«
»Wo ist der Apparat? Ich sehe gar keine Stasis-Generatoren.«
»Die sind unnötig«, entgegnete der Glasmensch. Er hob die Hand und schaltete die Stasisblase ab. Der kaum wiederzuerkennende Hesperus sank ins Gras und kam auf dem Rücken zu liegen. »Es gibt eine viel einfachere Methode, die Zeit zu verlangsamen. Ihr werdet schon noch dahinterkommen, und dann werdet ihr euch über den Aufwand wundern, den ihr in der Vergangenheit betrieben habt.«
Hesperus befand sich in einer schlimmen Verfassung. Die goldene Verkleidung war verrußt und sah aus, als wäre sie geschmolzen und anschließend wieder gehärtet. Stellenweise wirkte sie ledrig und wies Risse auf wie ein altes Gemälde; an anderen Stellen war sie bernsteinfarben und wirkte wie aus Glas. Er war größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, und ähnelte weniger einem goldenen Humanoiden, als vielmehr einem goldenen Sarkophag in Menschenform. Die Arme waren seitlich mit dem Körper verschmolzen, die Beine unlösbar miteinander verbunden. Sein angeschwollener Kopf zeigte keinerlei Lebenszeichen. Seine Gesichtszüge waren zerflossen und wiesen nur noch eine schwache Ähnlichkeit mit einem humanoiden Gesicht auf. Seine Augen waren nicht mehr vorhanden. Die dunklen Schädelfenster waren versengt, und es bewegten sich keine Lichter hinter dem Gitter.
»Du hast mir gesagt, er sei zerstört«, sagte ich. »Du hast gesagt, er sei tot und von seiner Persönlichkeit nichts mehr übrig.«
»Das stimmt.«
»Weshalb hast du ihn dann in Stasis versetzt?«
»Wegen des Inhalts. Ich habe dir gesagt, er habe seine höheren Funktionen geopfert und sich seiner Persönlichkeit entledigt. Er musste Platz schaffen, um das zu schützen, was ihm am meisten bedeutete.« Der Glasmensch nickte, als könnte er meine Gedanken lesen. »Er hat sich in eine Rüstung verwandelt, Campion – er hat sich verändert, um Portula während des Sturzes zum Planetenboden zu schützen. Dies war seine letzte Handlung als denkendes Wesen.«
Bis jetzt hatte ich Haltung bewahrt, doch nun fiel ich neben der goldenen Gestalt auf die Knie.
»Sie ist in ihm drin?«
»In der Rüstung befindet sich ein weiblicher Mensch. Dieser Mensch lebt, befindet sich allerdings im Koma. Ich bin auf diesem Gebiet kein Experte, doch ich glaube, dass der Mensch unversehrt ist. Natürlich könnte es auch jemand anders als Portula sein, doch in Anbetracht der Umstände …«
Ich schloss die Augen und brach in Tränen aus, die mit der Gewalt des nebelverhüllten Wasserfalls aus mir hervorstürzten. »Ich muss die Rüstung entfernen«, sagte ich, als ich wieder sprechen konnte. Ich trauerte um Hesperus und verspürte gleichzeitig abgrundtiefe, verzweifelte Dankbarkeit.
»Dann helfe ich dir«, sagte der Glasmensch, während ich hilflos an den verschmolzenen Verbindungsnähten der goldenen Gesichtsmaske kratzte. »Anschließend muss ich bedauerlicherweise aufbrechen.«