Siebzehn
 
 
 
 
 
Zur vereinbarten Zeit warteten Portula und ich auf dem Landedeck im achtzehnten Stock. Hesperus hatten wir auf der offenen Ladefläche eines Fliegers der Familie Gentian verstaut. Von Westen her wehte ein scharfer Wind, die Fahnen an den Brücken und Gehwegen zwischen den Türmen flatterten. Der Staub brannte auf meinen Wangen und drang mir in die zusammengekniffenen Augen. An diesem Nachmittag waren nicht viele Ymirer in der Luft, und die wenigen hielten sich im Innern von Flugmaschinen auf. Ich war froh, Mezereums Befragungsraum hinter mir lassen zu können, doch böse Vorahnungen schlugen mir auf den Magen.
»Da kommt sie«, sagte Portula und zeigte auf einen sich nähernden insektenförmigen Flieger, dessen Flügel verwischte pastellfarbene Schemen waren. Das Fluggerät schwebte vor der Sonne, so dass ich meine Augen mit den Händen schützen musste. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er wieder abdrehen und wegfliegen.
»Wer sitzt da drin?«
»Jindabyne würde sagen, ein Vertreter des Forschungsrats.«
Offenbar hatte sich der Pilot nun doch zur Landung entschlossen, denn das Fluggerät senkte die Nase und näherte sich dem Landedeck. Es setzte auf, dann trat eine Gestalt aus der perlenförmigen Kabine, legte die Hände ums Geländer und kletterte herunter, wobei sie uns den Rücken zukehrte. Als sie sich umdrehte, sahen wir, dass es sich um einen Mann handelte, bekleidet mit einer dicken schwarzen Jacke mit pelzverbrämtem Kragen und Stulpen. Die Jacke war mit zahlreichen Taschen, Riemen und rüsselartigen Fortsätzen ausgestattet, an denen dicke, gerippte Luftschläuche befestigt waren, die zur Atemmaske führte, die unter dem von einer Schutzbrille verborgenen Gesicht baumelte. Er näherte sich uns mit ungeduldigen, watschelnden Schritten.
»Ich bin Portula«, sagte mein Mitsplitterling. »Das ist Campion, ebenfalls ein Splitterling. Wir freuen uns, dass Sie uns helfen wollen.«
»Ich wurde angewiesen, Ihnen behilflich zu sein. Um meine Meinung wurde ich nicht gefragt.« Er hatte den gleichen honigfarbenen Pelz wie die Magistratin Jindabyne, allerdings mit kleinen weißen Flecken darin – vielleicht Spuren des Alters, Anzeichen von Stress oder eine genetisch bedingte Pigmentstörung.
»Billigen Sie das Vorhaben?«, fragte ich.
»Keinesfalls. Ginge es nach mir, hätte man Sie gar nicht erst in die Atmosphäre einfliegen lassen.«
»Das war deutlich«, sagte ich.
»Ich erforsche den Geist schon mein ganzes Erwachsenenleben lang, Splitterling. Noch nie habe ich ihn so unruhig und unberechenbar erlebt wie in dem Moment, als Ihre Raumschiffe auftauchten. Er mag Sie nicht. Es wäre ihm lieber, Sie würden von hier verschwinden. Und mir offen gesagt auch.«
»Danke für die freundliche Aufnahme.«
»Nehmen Sie’s nicht persönlich.«
»Natürlich nicht. Und Sie heißen?«
»Für Sie Herr Jynx.«
»Wir bedauern, Ihnen so große Unannehmlichkeiten zu bereiten«, sagte Portula. »Wir tun das für unseren Freund – er ist krank, und wir glauben, er wollte mit dem Geist zusammentreffen. Das war seine letzte Mitteilung an uns, bevor er die Verständigung eingestellt hat. Sie werden doch wohl Verständnis dafür haben, dass wir ihm seinen Wunsch erfüllen wollen, oder?«
Falls Herr Jynx geneigt war, uns auch nur das kleinste Zugeständnis zu machen, so ließ er es bei einer Art Räuspern bewenden. Wenn ich’s recht bedenke, machte er damit vielleicht auch nur seiner Verärgerung Luft. »Wir sind bereits spät dran«, sagte er, obwohl wir exakt zur verabredeten Zeit erschienen waren. »Mir wär’s lieber gewesen, der Beobachtungsturm läge schon wieder hinter uns. Egal; wenn Sie sich verspäten, lässt sich das nicht ändern. Sind Sie bereit, mir zu folgen?«
Ich nickte zur Ladefläche des schwebenden Fliegers hinüber. »Wir haben unseren Freund mitgebracht. Möchten Sie ihn sich anschauen?«
»Es kommt nicht drauf an, was ich von ihm halte.«
»Ich habe mir nur gedacht …«
»Ihre Erfolgsaussichten sind verschwindend gering. Dagegen ist es eher wahrscheinlich, dass Sie verletzt oder getötet werden.« Herr Jynx wandte sich ab und ging zu seiner Flugmaschine zurück. »Folgen Sie mir, halten Sie einen Sicherheitsabstand ein und weichen Sie nicht vom Flugweg ab!«, rief er uns über die Schulter hinweg zu.
Wir gingen zu unserem Flieger.
»Ein lustiger Bursche. Schön zu wissen, dass er voll und ganz auf unserer Seite steht und uns in jeder Beziehung unterstützt.«
»Ich an seiner Stelle käme mir vielleicht ebenso übergangen vor«, meinte Portula und kletterte auf einen der beiden nach vorn weisenden Sitze. »Er ist von seinen Vorgesetzten angewiesen worden, unseren Wünschen nachzukommen. Kein Wunder, dass er verärgert ist.«
»Na ja.«
Kurz darauf war Herr Jynx gestartet. Er wendete die Nase seiner Flugmaschine und raste davon, wobei er zwischen den dicht gepackten Türmen von Ymir scharfe Schlenker vollführte. Portula wies den Flieger an, ihm zu folgen. Die Beschleunigungskräfte pressten mich in den Sitz, dann schaltete sich das Dämpferfeld ein. Der pinkfarbene Flieger hatte keine Pilotenkanzel, sondern nur zwei halbkreisförmige Windschutzvorrichtungen, die vor den beiden Vordersitzen angebracht waren. Einen Moment lang waren wir dem starken Fahrtwind ausgesetzt, dann baute sich ein aerodynamisches Feld auf. Auf einmal war es völlig windstill und so leise wie im Korb eines Heißluftballons.
»Vielleicht ist das Vorhaben ja doch verrückt«, sagte Portula. »Als würde man eine defekte Uhr in einen Wirbelsturm werfen und hoffen, dass sie repariert wieder zum Vorschein kommt.«
»Abgesehen davon, dass der Wirbelsturm niemals lebendig war. Wir wissen, dass der Luftgeist einst ein intelligentes Lebewesen war. Allerdings wissen wir nicht, wie viel von seiner Intelligenz noch vorhanden ist.« Ich wandte den Kopf und vergewisserte mich, dass Hesperus noch sicher auf der Ladefläche fixiert war. »Außerdem bedeutet er uns mehr als eine kaputte Uhr. Wir tun das nicht deshalb, weil wir etwas beschädigt haben und es repariert haben wollen. Wir tun das, weil er unser Freund war und sich für uns geopfert hat.«
»Und das gibt uns das Recht, etwas Unmögliches zu versuchen?«
»Es ist nicht unmöglich – nur ein Schuss ins Blaue. Schließlich hat der Geist in der Vergangenheit in ähnlichen Fällen schon öfters eingegriffen.«
»Aber nicht bei Maschinenwesen.«
»Nur deshalb, weil bis jetzt noch keins hierhergekommen ist.«
»Vielleicht gibt es auch noch einen anderen Grund. Vielleicht sind sie zu vernünftig, oder die Ymirer lassen sie nicht her.«
»Oder irgendetwas schreckt sie ab«, sagte ich. »Eine mechanisierte Intelligenz, die älter ist als sie. Uns halten sie etwa für so komplex und subtil wie Tick-Tack-Toe. Vielleicht durchschauen sie uns mühelos. Aber wie würden sie auf eine wirklich komplexe, undurchschaubare Intelligenz reagieren? Ich glaube, das wäre für sie etwa so, als müssten wir eine Nacht in einem Spukschloss zubringen.« Ich lächelte. »Auf einmal habe ich das Gefühl, Überzeugungsarbeit leisten zu müssen. Dabei meine ich mich erinnern zu können, dass das deine Idee war, nicht meine.«
»Die Bedenken kommen mir immer erst hinterher.«
»Das bringt doch nichts. Wir tun das Richtige, ganz gleich, was Jindabyne oder Jynx davon halten mögen.«
Ein gentianischer Flieger war auch mit schwerer Beladung schneller als jeder Schwingenflügler, und nach kurzer Zeit hatten wir Herrn Jynx’ Flugmaschine eingeholt. Portula hätte längsseits gehen können, doch sie blieb hinter dem ymirischen Fluggerät, wie Herr Jynx uns angewiesen hatte. Nach zehn Minuten begannen die schwarzen Finger, auf denen Ymir erbaut war, hinter dem östlichen Horizont zu versinken, und nach zwanzig Minuten sah man nur noch die höchsten Gebäude. Vor uns erstreckte sich ein Labyrinth schattiger weißer Dünen, so verwickelt und komplex wie das menschliche Kleinhirn.
Wir hatten den Beobachtungsturm bereits vom Büro der Magistratin aus gesehen, doch seine wahre Funktion erschloss sich mir erst jetzt. Aus den Dünen ragte ein knochenweißer Turm auf, gekrönt von einer Aussichtsplattform, die von filigranen Streben gestützt wurde. Herr Jynx flog höher, und wir folgten ihm, bis beide Flieger gleichauf mit der Plattform waren. Es handelte sich um eine runde Scheibe von etwa zweihundert Metern Durchmesser und einem fensterlosen Gebäude mit schrägen Wänden in der Mitte. Herr Jynx landete als Erster neben dem Gebäude. Portula ließ unseren Flieger aufsetzen, und wir stiegen beide aus. Herr Jynx kletterte gerade aus der ymirischen Flugmaschine.
»Laden Sie ihn jetzt ab. Sehen Sie den Fleck am Horizont, links von der Sonne?«
»Der ausschaut wie eine Unwetterwolke oder ein Vogelschwarm?«, fragte Portula.
»Das ist der Luftgeist. Er ist näher, als ich erwartet habe – seit der letzten Datenübermittlung hat er sich sehr schnell bewegt. Wir sollten uns besser beeilen – er dürfte uns bereits bemerkt haben.«
Der Fleck schien weit entfernt, vergleichbar einem Tiefdrucksystem, über das man sich erst am nächsten Tag Sorgen zu machen braucht.
»Kommt er näher?«, fragte Portula.
»Das wäre möglich, muss aber nicht sein. Die Tatsache, dass er überhaupt sichtbar ist, deutet jedoch darauf hin, dass er sich weiter nähern wird.«
Wir hatten unsere Allesträger mitgebracht und Hesperus daran fixiert. Ich packte den U-förmigen Griff des nächsten Trägers und hob seinen Körper vom Flieger; ich nahm die Trägheit wahr, aber kein Gewicht. Ich schob die schwere goldene Masse zur Seite, bis sie sich über dem Plattformboden befand. »Wo sollen wir ihn ablegen?«
»Möglichst weit vom Unterstand entfernt«, antwortete Herr Jynx. »An der Westseite der Plattform befindet sich ein Sockel – dort legen wir manchmal Proben ab.«
Beim Anflug hatte ich den Sockel nicht gesehen, denn er war vom Unterstand verdeckt worden. Mit langsamen, aber sicheren Schritten schob ich Hesperus mit einer Hand vor mir her. Der Sockel, den der Ymirer erwähnt hatte, war ein erhöhter Bodenabschnitt mit glatter Oberfläche. Ich brachte Hesperus darüber zum Stillstand, dann senkte ich den Levator ab, bis er aufsetzte.
»Nehmen Sie die Levatoren jetzt weg«, sagte Herr Jynx. »Wenn Sie dem Geist ein Opfer darbringen, sollten Sie Komplikationen vermeiden.«
»Von einem Opfer würde ich in diesem Fall nicht sprechen«, entgegnete Portula.
»Das entscheidet der Geist, nicht Sie.«
Ich nickte und löste die vier Allesträger, dann koppelte ich sie aneinander, damit ich sie als Ganzes verschieben konnte.
»Wird das reichen?«, fragte ich, trat zurück und musterte das Ding, das ich auf dem Sockel hatte liegen lassen. Die geschmolzene Seite von Hesperus wies von mir weg; ich sah seine humanoide Gestalt. Das schöne, gelassene Gesicht blickte mich an, sein Oberkörper, sein rechter Arm und sein rechtes Bein ragten aus der unförmigen Masse hervor. Die Lichter kreiselten noch in seinem Schädelfenster, doch noch nie waren sie so matt und träge gewesen wie jetzt.
»Ich glaube, der Geist kommt näher«, sagte Portula mit Blick auf die unheimliche dunkle Wolke.
»Das stimmt«, meinte Herr Jynx. »Falls er uns einen Besuch abstatten möchte, könnte es in dreißig Minuten so weit sein.« Forschen Schritts ging er zu seiner Flugmaschine zurück. »Wir sollten jetzt starten. Mehr gibt es für Sie hier nicht zu tun.«
»Wir würden lieber hierbleiben«, sagte Portula. Sie blickte mich an. »Ich jedenfalls bleibe hier.«
»Das würde ich Ihnen nicht empfehlen.«
»Wenn wir starten, wird der Geist Hesperus als Opfergabe betrachten, wie Sie schon sagten. Aber er ist kein gemästetes Kalb, das wir opfern, damit es regnet. Wir möchten, dass er geheilt wird. Der Geist soll begreifen, dass er uns etwas bedeutet.«
»Wenn Sie hierbleiben, bringt Sie das Ihrem Ziel keinen Schritt näher.«
»Aber auf andere Weise können wir ihm diese Botschaft nicht zukommen lassen«, entgegnete Portula. »Ich habe mir Gedanken gemacht, Herr Jynx. Wenn ich mich in Gefahr begebe, wird der Geist begreifen, dass Hesperus nicht bloß ein nutzloses Stück Metall ist. Er ist eine Person, ein Freund.«
»Sie überschätzen die Fähigkeit des Geistes, rationale Schlüsse zu ziehen.«
»Darauf will ich es ankommen lassen.«
»Ich auch«, erklärte ich.
»Du musst nicht hierbleiben, Campion.«
»Du auch nicht.« In Wahrheit teilte ich Portulas Entschlossenheit nicht. Ich war besorgt, und das fremdartige Ding am Horizont machte mich nervös. Aber ich wollte sie auch nicht allein lassen.
»Wir finden den Rückweg auch allein«, sagte Portula.
»Ohne Flieger bestimmt nicht.«
»Wir haben einen eigenen Flieger«, erklärte sie.
»Der kann nicht hierbleiben. Beim Eintreffen des Geistes würde er zerstört werden. Er mag keine anderen Maschinen – auch keine ganz simplen. Wenn Sie nach dem Verschwinden des Geistes noch leben, können Sie den Flieger zurückrufen.«
»Und die Levatoren?«, fragte ich.
»Schicken Sie die ebenfalls weg. Sie sollten alle Maschinen wegschicken, die Sie bei sich haben.«
»Ich habe Implantate im Kopf«, sagte Portula. »Damit mein Raumschiff mit mir sprechen kann.«
»Das hätten Sie mir eher sagen sollen.«
»Ich habe nicht daran gedacht.«
»Das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Dann können Sie nur hoffen, dass der Geist sie nicht weiter beachtet.« Herr Jynx musterte besorgt den rastlosen, wogenden Fleck am Horizont. »Vorausgesetzt, dass die Maschinen in Ihrem Kopf sich still verhalten, dürfte eigentlich nichts passieren.«
Portula schloss für einen Moment die Augen. »Ich habe die Silberschwingen soeben angewiesen, den Funkkontakt zu unterbrechen.«
Ich ging zum Flieger und legte die Allesträger auf der Ladefläche ab, dann beugte ich mich auf den Pilotensitz vor und wies die Flugmaschine an, auf Abstand zu gehen und erst am nächsten Morgen hierher zurückzukehren. Wir würden die Nacht im Unterstand verbringen müssen, doch das war im Moment meine kleinste Sorge.
»Wir sind so weit«, sagte Portula.
»Ich muss gestehen, ich bin neugierig, wie es ausgeht. Am liebsten würde ich ebenfalls hierbleiben und mir das Spektakel aus der Nähe anschauen.«
»Werden Sie uns beobachten?«
»Aus der Ferne. Bislang haben noch keine Beobachtungsgeräte die Begegnung mit dem Geist unbeschadet überstanden. Wir haben Teleskope auf die Plattform gerichtet, aber wenn der Geist da ist, sieht man nicht viel.«
»Sie könnten ebenfalls hierbleiben.«
»Die Stimme der Vernunft rät mir dringend davon ab.«
Plötzlich peitschte mir der Wind ins Gesicht. Herr Jynx lächelte über mein Erschrecken. »Haben Sie das gespürt, Splitterling? Das Mikroklima verändert sich. Der Geist bringt sein eigenes Wetter mit. Ich muss jetzt losfliegen.«
»Tun Sie das«, sagte ich. »Wir kommen schon zurecht. Morgen werden wir Ihnen Bericht erstatten.«
Herrn Jynx’ Stimmung hatte sich verändert. Vielleicht nahm er uns ab, dass wir keine andere Möglichkeit sahen, unserem Freund zu helfen. »Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen. Ich betrachte Ihr Verhalten als leichtsinnig, aber Mut haben Sie jedenfalls, das muss man Ihnen lassen.«
Jynx kletterte in seine Flugmaschine und raste davon. Auch unser Flieger hob von der Plattform ab und flog zurück zur Stadt, wo er bis Tagesanbruch warten würde. Portula und ich beobachteten Seite an Seite, wie die beiden Punkte immer kleiner wurden, bis sie nicht mehr zu erkennen waren.
Der Wind nahm zu und wurde schneidend. Ich hob die Hand vor die Augen und spähte zwischen den Fingern hindurch. Die dem westlichen Horizont entgegensinkende Sonne war hinter einem wogenden Nebelschleier verborgen. Dessen Farbe lag irgendwo zwischen Purpur und Schwarz, und es hatte den Anschein, als bestünde der Nebel aus zahllosen kleinen Einzelteilen. Ich hatte Mühe, die Ausdehnung der Wolke einzuschätzen – es fehlte an Bezugspunkten. Ich schätzte, dass der eigentliche Kern des Geistes, der dunkle, pulsierende Fleck in der Mitte, wo die Dichte der Flugmaschinen am höchsten war, mindestens den Durchmesser der Beobachtungsplattform hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ich Angst hatte, doch meistens war dies die zuversichtliche Beklommenheit gewesen, die man verspürt, wenn man sich einer gefährlichen, aber großartigen Unternehmung stellt, wie zum Beispiel dem Besteigen eines Berggipfels oder der Entwicklung einer spektakulären neuen Kunstform. Jetzt aber verspürte ich eher spektakuläre animalische Angst. Sie forderte mich auf, vor der sich nähernden Gefahr wegzurennen oder mich zu verstecken, und ich musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um ihr zu trotzen.
Ich vergegenwärtigte mir, was ich vom Datenspeicher und den Ymirern in Erfahrung gebracht hatte. Der Luftgeist war damals, in den fernen Jahrhunderten der Goldenen Stunde, ein Mann gewesen. Er hatte Abraham Valmik oder so ähnlich geheißen, hatte über unermesslichen Reichtum verfügt und ein hohes Alter erreicht. Nichtsdestoweniger hatte er mehr vom Universum verlangt, als es ihm bislang geschenkt hatte. Inzwischen hatten sich Abigail und die anderen Familiengründer in Unsereins aufgesplittert, sich für einen Weg zur Unsterblichkeit entschieden und sich daran gemacht, voller Wissensdurst die unbewohnte Galaxis zu erkunden. Vielleicht hatten sich auch schon andere Menschen für einen anderen Weg entschieden und den langwierigen Prozess der Verwandlung begonnen, der Kuratoren der Vigilanz aus ihnen machen würde. Valmik hielt jedoch weder die Zersplitterung noch die Zeitdilatation noch die biologische Transformation für ausreichend erfolgversprechend. Er zog es vor, sich in eine Maschine zu verwandeln und sein Bewusstsein einem Gebilde einzupflanzen, das so unzerstörbar war, wie die Gesetze der Physik es erlaubten. Neuron für Neuron ließ er sein Gehirn auf mechanische Teile übertragen. Da der Prozess schrittweise verlief – eher vergleichbar einer kontinuierlichen Stadtsanierung als einem Abriss mit darauf folgendem Wiederaufbau -, verspürte der Mann keine Veränderung zwischen der Verpflanzung der einzelnen Neuronen. Das bedeutete jedoch nicht, dass er sich seinen Bekannten und Freunden nicht entfremdet hätte, als sein Bewusstsein sich nach und nach in ein vibrierendes Netz künstlicher Neuronen verwandelte.
Als der Prozess abgeschlossen war, entledigte sich der Mann seines Körpers, da er nichts mehr mit ihm anfangen konnte. Wenn die Umstände es erforderten, vermochte er zwar noch immer ein organisches Nervensystem zu simulieren, doch das geschah nur selten. Er zog es vor, mit dem abstrakten Reich simulierter Erfahrung zu interagieren und nahm es nur selten auf sich, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die er in der Außenwelt zurückgelassen hatte. Sie langweilten ihn mittlerweile – ihre Gewohnheiten wirkten auf ihn quälend vorhersagbar, ihre geistigen Prozesse folgten ausgetretenen Pfaden. Er war anders als sie, ein Fisch, der aufs Trockene gesprungen war und festgestellt hatte, dass er noch atmen konnte, während alle anderen im Meer zurückgeblieben waren. Er hatte nichts mehr mit ihnen gemeinsam.
Jahrhundertelang existierte Valmiks künstliches Bewusstsein in Form einer ortsfesten, eindeutig definierten Architektur. Kopien seiner selbst waren in der Goldenen Stunde und jenseits deren besiedelter Bereiche verteilt, doch die sollten nur dann aktiviert werden, wenn das Primärbewusstsein beschädigt oder ausgelöscht wurde. Im Laufe der Zeit baute er seine Komplexität weiter aus, indem er immer mehr künstliche Neuronen in sein Bewusstsein integrierte, bis deren Zahl die der ursprünglichen Gehirnzellen um einen Faktor von mehreren Hundert übertraf. Inzwischen hatte er sich so weit von allem Menschlichen entfernt, dass er sich nur noch mit anderen weiterentwickelten Bewusstseinsformen verständigen konnte. Eine Zeit lang hielten sie mit ihm Schritt, doch dann ließ er auch sie hinter sich zurück. Sie waren zu vorsichtig und schreckten davor zurück, die letzten Spuren der menschlichen Gehirnstruktur über Bord zu werfen. Sie klammerten sich an die uralte Verschaltung, an die archaischen, überholten Arrangements der sensorischen und kognitiven Module. Die Struktur des menschlichen Gehirns hatte sich schrittweise und zufallsgesteuert entwickelt und dabei die neuen Schichten auf die alten gehäuft. Es glich dem Haus, in dem ich zur Welt gekommen war, den Gängen und Treppen, die nirgendwohin führten, den vernachlässigten Räumen und Fluren, die sich nicht vergrößern ließen, da sie von anderen Räumlichkeiten eingeengt wurden, den Leitungen, die unnötig kompliziert waren, da jede neue Installation um das bereits vorhandene Gewirr verrosteter Rohre und Abflüsse herumverlegt werden musste. Die anderen hatten nicht den Mut, dieses wirre, kopflastige Erbe abzulegen.
Er schon. Er war tapferer, kühner, hatte weniger Angst, sich selbst zu verlieren.
Er nahm sich vor, sich neu zu erschaffen und seine Basisarchitektur von Grund auf umzustrukturieren. Kein Teil seines Gehirns sollte dabei ungeprüft bleiben. Knoten sollten begradigt, Module verlegt oder ganz entfernt werden. Das Bewusstsein sollte während dieses Prozesses erhalten bleiben. Wenn die Veränderungen in die radikalste Phase einträten, würde es schwächer wären, aber nicht ganz erlöschen. Das Ganze erforderte akribische Planung – wie ein Chirurg, der von seinem eigenen Narkosemittel benommen wird, wäre er im Verlauf des Prozesses nicht klarsichtig genug, um notfalls eingreifen zu können. Alle Eventualitäten mussten berücksichtigt werden.
Tatsächlich ging nichts schief. Er wurde lediglich fremdartiger, größer, schneller als alles, was er bislang gesehen hatte. Das alte Haus hatte sich in ein funkelndes, nach rationalen Gesichtspunkten organisiertes Bauwerk verwandelt. Er war makellos und effizient. Die Gedanken durchrasten ihn mit unvorstellbarer Klarheit. Als er sein Werk betrachtete, sah er, dass es gut war. Außerdem begriff er, dass er seine alten Gefährten für immer hinter sich gelassen hatte. Der Prozess der Fortentwicklung, der Anpassung der Architektur, ging mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Selbst wenn eine der anderen Intelligenzen ihre Meinung geändert und eine ähnliche Veränderung in Angriff genommen hätte, wäre es ihr niemals gelungen, ihn einzuholen. Er hatte sich in etwas Einzigartiges verwandelt, wie es seit der Zeit der Früheren nicht mehr existiert hatte.
Valmik aber war noch immer nicht am Ziel. Obwohl er ungleich komplexer war als zuvor, war er doch immer noch an einen Ort gebunden und im Rechenkern einer einzelnen Maschine eingesperrt. Berücksichtigte man die Energieversorgung, die Außenschichten und die Panzerung dieser Maschine, war sie so groß wie ein kleiner Asteroid. Obwohl die trivialen Geheimnisse der Raumzeit, des Impulses und der Trägheit noch nicht entschlüsselt waren, war die Fortbewegung kaum schwieriger als heute. Er musste sich kühlen, indem er Kometen verdampfte. Im Reich seiner geistigen Prozesse war er gottgleich geworden und dennoch auf demütigende Weise von anderen Maschinen und Menschen abhängig. Hätte der Kometennachschub gestockt, wäre er im eigenen Glanz verglüht. Ein einzelner, gut gezielter Schuss aus einer Waffe hätte die Maschine, in der er lebte, zerstören können.
Damit wollte er sich nicht abfinden.
Die Transformation, der er sich nun unterzog, entfernte ihn noch weiter von der Menschheit, doch das Menschsein war für ihn inzwischen ein Kontinent an einem fernen Horizont geworden, den man ohne Bedauern entschwinden sieht. Jedes einzelne der zehntausende Milliarden Neuronen, die sein Bewusstsein bildeten, verwandelte sich in eine unabhängige Maschine, die in der Lage war, ihr eigenes Überleben zu sichern. Damals benötigte er noch Brennmaterial und Rohstoffe (er beherrschte noch nicht den simplen Trick, zu diesem Zweck das Vakuum anzuzapfen), doch die Maschinen waren intelligent und beweglich genug, um ihren Bedarf selbstständig zu decken. Während sie mittels Lichtsignalen Kontakt hielten, verwandelte er sich in ein Wolkenbewusstsein, das ein viel größeres Volumen einnahm als zuvor. Tatsächlich konnte sich die Wolke beliebig weit verteilen. Allerdings verlangsamten sich mit zunehmender Ausdehnung Valmiks Bewusstseinsprozesse, da die durch die Lichtgeschwindigkeit bedingte Zeitverzögerung von wenigen Mikrosekunden auf Sekundenbruchteile zunahm. Doch da er am liebsten Selbstgespräche führte, beunruhigte ihn das nicht weiter. Er vermochte sich sogar über ein ganzes Sonnensystem und noch weiter zu verteilen.
Als die Goldene Stunde längst Geschichte war und lange nach der dritten Reunion der Splitterlinge – die ersten drei Umläufe nahmen lediglich siebentausend Jahre in Anspruch, da Abigail keinen Sinn darin sah, auch die unbesiedelten Teile der Galaxis zu erkunden -, bewohnte der Mann die Oort-Wolke, jenes Halo schlafender Kometen, die tausendbis hunderttausendmal so weit von der Sonne entfernt sind wie der Alte Ort. Bereits seine einfachsten Gedanken nahmen nach Planetenzeit inzwischen Monate in Anspruch. Das Sonnensystem schwirrte in ihm wie eine überdrehte Uhr.
So gewaltig seine Zahl und seine Ausdehnung auch waren, konnte man Valmik doch leicht übersehen. Denn er spielte keine Rolle mehr in den Angelegenheiten der Menschen, die ihn schließlich vergaßen. Es wurde von geheimnisvollen Funksignalen gemunkelt, von denen die Oort-Wolke durchdrungen sei, doch die meisten betrachteten dies als Mythos wie zahllose andere Geschichten auch. Wenn Forscher eines seiner Einzelteile entdeckten, hielten sie es zumeist für ein Relikt aus der Zeit der interstellaren Expansion. Er konnte gut und gerne darauf verzichten. Nichts, was Menschen vermochten, hätte ihn verletzen oder auch nur beeinträchtigen können. Nicht einmal die wachsende Macht der Familien vermochte ihn zu beunruhigen.
Die Sonne stellte allerdings ein Problem dar. Im verlangsamten Zeitrahmen seines Bewusstseins war das Ende seines Lebenszyklus nur ein paar tausend Jahre subjektiver Zeit entfernt. Diese Vorstellung war ihm unerträglich. In der fernen Zukunft, wenn die Familien oder eine andere menschliche Zivilisation die Grundlagen der stellaren Lebensverlängerung ergründet hätten, würde er etwas dagegen unternehmen müssen. Doch darauf konnte er sich nicht verlassen, deshalb musste er Vorkehrungen treffen, solange er noch Zeit hatte, über die verschiedenen Möglichkeiten nachzudenken.
Das Wolkenbewusstsein sagte sich, es sei an der Zeit, die interstellare Ausdehnung in Angriff zu nehmen. Anstatt sich zu sammeln und zu einem anderen Stern zu befördern – wie eine Flottille von Raumschiffen, deren Zahl freilich kaum zu schätzen gewesen war -, dehnte er sich aus und sandte seine Neuronenelemente in alle Richtungen. Es dauerte mehrere Zehntausend Jahre, ehe auch nur eines seiner neuronalen Elemente in die Nähe einer anderen Sonne gelangte, denn seine Einzelteile bewegten sich viel langsamer als die schnellen Raumschiffe der Familien. Je weiter er sich ausdehnte, desto stärker verlangsamten sich seine Denkprozesse. Als seine Bewusstseinswolke mehrere Sternsysteme umfasste, benötigten seine schnellsten Gedanken nach Planetenzeit mehrere Jahrzehnte. Zumindest aber war er nicht mehr von einem einzigen Sonnensystem abhängig.
An diesem Punkt angelangt, wurden die Informationen der Datenspeicher vage und widersprüchlich. Wie es in den nächsten Millionen Jahren mit dem Mann weitergegangen war, blieb unklar. Der einen Argumentationskette zufolge hatte er sich über ein gewaltiges galaktisches Raumvolumen ausgedehnt und Hunderte von Tausenden Sternsystemen im Umkreis von mehreren Tausend Lichtjahren geschluckt. Die Familien trafen sich währenddessen zu ihrer siebten, achten oder neunten Reunion, je nachdem, wo man mit dem Zählen begann. Die Goldene Stunde war ein kurzer, leuchtender Moment in der Geschichte, komprimiert wie ein Lichtfunken, den man durchs falsche Ende eines Teleskops betrachtet. Innerhalb des Mannes hatten Reiche existiert, die nicht einmal von seinem Vorhandensein gewusst hatten. Der Preis für eine solche Expansion war jedoch ein Bewusstsein, das in nahezu todesähnlicher Starre verharrte. Er benötigte Jahrtausende, um auch nur den einfachsten Gedanken zu formen.
Der anderen Argumentationskette zufolge hatte sich der Mann lediglich über ein paar Dutzend Lichtjahre ausgebreitet. Als er die Größe eines ordentlichen Nebels erreicht und ein paar hunderttausend Jahre in diesem Zustand verbracht hatte, kam er zu den Schluss, dass es ihm reichte; er wollte sich wieder mit der menschlichen Zivilisation verbinden, und sei es nur in sehr loser Form, auch wenn das bedeutete, wieder auf planetarischen Maßstab zu schrumpfen. Dies stellte für ihn keine große Schwierigkeit dar, denn in der Zeit der Expansion hatte er sehr viel über Selbsterhaltung gelernt. Auf äußere Energiequellen war er nicht mehr angewiesen. Er hatte die frühen galaktischen Kriege der Protohumanen beobachtet und gesehen, was Waffen anrichten konnten. Vorausgesetzt, dass er sich vorsah und beweglich blieb, brauchte er sich vor nichts mehr zu fürchten.
Einig waren sich die Datenspeicher hingegen darüber, dass der Luftgeist, die Frakto-Koagulation, alles war, was nach weiteren fünfeinhalb Millionen Jahren von dem Mann übrig geblieben war. Die meiste Zeit über hatte er sich auf Neume aufgehalten, denn in jeder dokumentierten Geschichtsperiode fand er in der einen oder anderen Form Erwähnung. Bisweilen war er eine flüchtige, nahezu mythische Erscheinung, die sich jahrhundertelang verbarg, bis sie unvermittelt verwirrten und verängstigten Augenzeugen erschien, die schon immer an sie geglaubt hatten. Dann wieder zeigte er sich als atmosphärische Erscheinung, vergleichbar einem metastabilen Sturm im Innern eines Gasriesen. Manchen Zivilisationen ging er aus dem Weg, andere vernichtete er oder begegnete ihnen mit Toleranz und Nachsicht. Als die Pläne der Transformer scheiterten, sorgte er dafür, dass Neumes Atmosphäre atembar blieb. Dieser Akt der Freundlichkeit bereitete ihm keine große Mühe. Als Valmik noch ein Mensch war, hätte es größere Anstrengungen von ihm erfordert, einer Ameise auszuweichen.
Soweit die verschiedenen Theorien. Ich wusste wirklich nicht, was davon ich glauben sollte und was nicht, doch in den Grundzügen erschienen sie mir durchaus plausibel. Wenn der Geist nicht ursprünglich eine Maschine gewesen war – und es galt als unumstößliches Axiom, dass es vor dem Maschinenvolk keine Maschinenintelligenz gegeben hatte -, musste er als Mensch oder als eine Gruppe von Menschen begonnen haben. Abigail Gentian hatte sich selbst einer gewagten, kühnen Transformation unterzogen – und das galt auch für die übrigen Familiengründer. Schon damals hatte es Kritiker gegeben, die ihre Pläne als monströs und entmenschlichend angesehen hatten. Doch Abigail hörte natürlich nicht auf sie – ihr verdankte ich daher mein Leben. Es wäre anmaßend gewesen zu glauben, dass kein anderes Individuum über einen ebensolchen visionären Weitblick und eine vergleichbare unerschütterliche Entschlossenheit, die Grenzen der ortsfesten Menschheit hinter sich zu lassen, verfügt haben soll.
Der Geist kam immer näher, bis er die Hälfte des Himmels einnahm. Jetzt konnte ich erkennen, dass die einzelnen Elemente unterschiedliche Formen und Größen aufwiesen. Die meisten waren nicht größer als Insekten, doch die größeren Einheiten ähnelten Flügelwesen wie Fledermäusen oder Vögeln, wirkten aber eindeutig mechanisch: Die messerscharfen Flügel waren mit komplizierten Gelenken an den abgerundeten Körpern befestigt, die augenlosen Körper flackerten in Pastellfarben und sandten Laserblitze aus. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass diese Wesenheit nicht das Produkt robotischer Evolution war, kein fremdartiger Verwandter des Maschinenvolks, sondern eine Intelligenz, die einmal ein Mensch gewesen war und diese Ehrfurcht gebietende, wetterartige Erscheinungsform in winzigen Schritten über einen Zeitraum von Millionen Jahren hinweg angenommen hatte.
Der Geist tanzte und wogte, bildete wie ein dreidimensionales Kaleidoskop wechselnde Formen aus. Man vernahm ein wahnsinniges, dröhnendes Summen, dessen Frequenzspektrum von einem subsonischen Ton, den man eher spürte, als dass man ihn hörte, bis zu einem schrillen Kreischen reichte, das mir den Schädel zu sprengen drohte. Portula klammerte sich an mir fest, und mir kam der Gedanke, dass ich kaum jemals so große Angst verspürt oder mich dermaßen einer fremden Gewalt ausgeliefert gefühlt hatte, auf die ich keinen Einfluss hatte. Plötzlich erschien mir unser Plan, Hesperus vom Geist helfen zu lassen, absurd und kindisch, so als hätten wir etwas sehr Wertvolles gegen die Existenz von Feen aufgewogen. Doch nun gab es kein Zurück mehr; um von der Plattform zu flüchten, hätten wir den Flieger gebraucht, der jedoch erst in mehreren Stunden zurückkehren würde.
Der Geist begann, sich über der Plattform zu massieren, bis er nicht mehr die Hälfte des Himmels verdeckte, sondern sich in einen über uns wogenden Sturm verwandelt hatte, der an allen Seiten von einem klaren Streifen Himmel umgeben war. Im brüllenden Herzen des Phänomens machte ich nichts als Schwärze aus, einen Kern so dicht gepackter Maschinen – die alle voneinander unabhängig waren -, dass kein Tageslicht mehr hindurchdrang. Die Dunkelheit wurde gemildert von den bunten Lichtblitzen, mit denen sich die zahllosen Einheiten untereinander verständigten. Regentropfen prasselten auf meine Haut, obwohl bis zum Eintreffen des Geistes kein Tropfen Feuchtigkeit in der Luft gewesen war.
Dann begann er, sich auf uns herabzusenken. Instinktiv wollte ich mich hinkauern, doch ich wusste, das wäre sinnlos gewesen. Deshalb zwang ich mich, stehen zu bleiben. Ich blickte zum Unterstand hinüber, und anscheinend hatten wir beide denselben Gedanken gehabt, denn Portula schüttelte den Kopf; wir waren hierher gekommen, um zu demonstrieren, wie viel Hesperus uns bedeutete, nicht um uns hinter Mauern zu verstecken, die im Notfall nur höchst dürftigen Schutz geboten hätten.
Portula zeigte zum Sockel. Sie übertönte das Tosen und sagte: »Lass uns dorthin gehen. Wir wollen ihm zeigen, weshalb wir hier sind.«
Ich wusste, sie hatte Recht. Arm in Arm schritten wir über die Plattform, bis wir nur noch wenige Schritte von Hesperus entfernt waren. Er schien uns zu beobachten. In seinen Augen zeigte sich kein Funken des Wiedererkennens, doch die Lichter in seinem Kopf kreiselten einen Moment lang schneller, dann wurden sie wieder langsamer und trüber. So dunkel wie jetzt waren sie noch nie gewesen.
Der Geist senkte sich weiter herab, bis seine Außenränder den Himmel in alle Richtungen verdeckten. Es war so dunkel, als bräche die Nacht an. Das Tosen war nahezu unerträglich, und der schwarze Kern schwebte über uns wie ein gieriger Mund. Vom purpurfarbenen Rand der Schwärze schraubte sich ein neugieriger Maschinenwirbel herab, vergleichbar in einem Strudel gefangenem Treibgut. Der Wirbel verjüngte sich zu einer umhertastenden Extremität. Die Sonde verharrte über Hesperus, ohne ihn zu berühren, schwankte mehrmals vor und zurück. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass der Luftgeist ungeachtet seiner unbestrittenen Macht äußerst vorsichtig war. Ich fragte mich, ob er im Verlauf seines langen Lebens überhaupt schon einmal einem Wesen wie Hesperus begegnet war. Vielleicht war dies das erste Mal, dass er ein Wesen vor sich hatte, das ähnlich komplex war wie er, auch wenn es völlig anders aufgebaut war und einen anderen Ursprung hatte.
Die Extremität tastete sich näher heran, und ich gab mich schon der trügerischen Hoffnung hin, wir stünden kurz vor dem Erfolg und unsere Opfergabe würde nicht nur angenommen, sondern auch als das aufgefasst, was sie war. Vielleicht war dies der Moment des Kontakts zwischen den Maschinen und Hesperus’ goldener Haut, doch auf einmal zog der Arm sich mit erschreckender Geschwindigkeit zurück und verschwand im Maschinenkern, als wäre er mit offenem Feuer in Berührung gekommen oder mit Elektrizität oder einem schmerzhaften Gift. Der Kern pulsierte in einem noch tieferen Schwarz als zuvor, und das Tosen wurde noch lauter. Regenschauer gingen nieder, da die Schwarmmaschinen die Luftfeuchtigkeit kondensieren ließen.
Das Epizentrum der Wolke, das zuvor über dem Sockel geschwebt hatte, verlagerte sich in unsere Richtung. Der Geist schien jedes Interesse an Hesperus verloren zu haben.
»Das läuft aus dem Ruder.«
»Wir können im Moment nichts tun«, entgegnete Portula, als wollte sie mich beruhigen.
Dann senkten sich zahlreiche flatternde Maschinen auf uns herab und inspizierten uns. Wenn ihre Flügel sich berührten, ertönte ein Geräusch wie von aneinander vorbeigleitenden Scherenblättern, doch keine einzige Maschine fiel herab oder nahm einen erkennbaren Schaden. Hin und wieder schwebte eine unmittelbar über mir und fixierte mich mit funkelnden Lichtern, die offenbar nicht nur der Verständigung dienten, sondern auch als Sensoren. Gelegentlich streifte kaltes Metall meine Haut, und obwohl ich mir alle Mühe gab, gelassen zu erscheinen, zuckte ich doch unwillkürlich zusammen. Nach einem dieser eiskalten Kontakte fasste ich mir an die Wange, und als ich die Hand wieder wegnahm, waren meine Finger blutig. Dennoch verspürte ich keinen Schmerz, und die Blutung kam auch gleich wieder zum Stillstand. Auch Portula war geschnitten worden, seitlich am Hals und am Handrücken, doch das schien ihr nichts auszumachen. Ich glaube nicht, dass der Geist uns verletzen wollte; wahrscheinlich waren die Bewegungen der einzelnen Elemente weniger gut koordiniert als das Ganze.
Dann geschah etwas Unerwartetes, etwas, worauf Herr Jynx uns nicht vorbereitet hatte. Die Maschinen umschwärmten mich immer zahlreicher, bis sie Portula mit ihrem Geflattere vollständig verdeckten. Sie hüllten mich ein, und dann auf einmal schwebte ich in der Luft, und die Maschinen stützten meine Gliedmaßen. Ich rief nach Portula, doch der Lärm war zu groß, als dass sie mich hätte hören können. Die wogende Dunkelheit vermittelte mir das Gefühl von Bewegung, doch ich konnte nicht erkennen, ob sie real war oder eine Sinnestäuschung. Ich kippte nach hinten, dann verlor ich auch schon jedes Gefühl für oben und unten. Ich ruderte hilflos mit den Armen, doch die Maschinen behinderten meine Bewegungen so stark, dass ich mir vorkam wie ein Träumer, der nicht von der Stelle kommt.
Unvermittelt war nur noch silbriger Sand unter meinen Füßen. Der Geist hatte mich über den Rand der Plattform getragen. Ich hatte in der Vergangenheit nur selten Höhenangst verspürt, denn bei den meisten Gelegenheiten wurde ich von Geräten beschützt, die entweder in meine Kleidung eingebaut waren, oder von Robotern oder der Umgebung, in der ich mich befand. Jetzt aber überwältigte mich die Angst, als wollte sie sich für die vielen Male, da ich mich ihr entzogen hatte, schadlos halten. Die Bummelant konnte mir jetzt nicht helfen, und auch Portula hatte von der Silberschwingen keine Unterstützung zu erwarten. Meine Kleidung war aus simplem Stoff gemacht und würde keine Medikamente zur Verfügung stellen, falls ich mich verletzen sollte.
Ein Sturz aus dieser Höhe würde schlimmere Folgen haben als oberflächliche Verletzungen. Das nennt man also auf der Strecke bleiben, dachte ich. Man ging ein Risiko zu viel ein, weil man glaubte, die vielen überstandenen Gefahren hätten einen irgendwie immunisiert, während man in der Vergangenheit einfach nur Glück gehabt hatte.
Das schoss mir durch den Kopf, als die Maschinen mich fallen ließen.
Der Fall konnte höchstens eine Sekunde gedauert haben, doch mir erschien es wie eine Ewigkeit. Ich hatte Zeit, an viele Dinge zu denken, auch an die unangenehmen Folgen, die mein drohendes Ableben haben würde. Ich hatte immer geglaubt, ich würde in einem solchen Fall keinen Körper zurücklassen, jedenfalls keinen blutüberströmten mit gebrochenen Knochen. Bei einem Sturz aus dieser Höhe wären die Dünen so hart wie massiver Fels. Ich fragte mich, ob Portula ebenfalls in die Tiefe stürzte und ob wir einander vor dem Aufprall noch sehen würden. Ich fragte mich, ob die Maschinen sie verschonen würden, und verspürte einen Anflug von Groll bei dem Gedanken, dass der Geist sie mir vorgezogen haben könnte.
Dann fiel ich nicht mehr. Die Maschinen waren unter mich gehuscht und fingen mich auf. Die dunkle Masse verdichtete sich erneut, und ich hatte das schwindelerregende Gefühl, mit großer Geschwindigkeit in die Höhe zu steigen – bis die Maschinen mich abermals freigaben und ich aus mehreren Hundert Metern Höhe auf die Plattform zuzustürzen begann.
Abermals fingen die Maschinen mich auf.
Mir wurde bewusst, dass man mit mir spielte, so wie eine Katze einen gefangenen Vogel quält. Portula erging es offenbar ebenso, wenngleich ich sie nicht zu Gesicht bekam. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich mit meinem Schicksal abfand, doch da mein Tod erst einmal hinausgeschoben worden war, wurde ich geringfügig ruhiger, und meine Gedanken verlangsamten sich wieder auf das normale Tempo.
Ich weiß nicht, wie lange die Maschinen mit mir spielten: Vielleicht dauerte es ein paar Sekunden, vielleicht auch mehrere Minuten. In dem schwarzen Schmelzofen des Schwarms ließ sich die Zeit ebenso schwer schätzen wie die Bewegung und die Position.
Irgendwann aber hörte es auf, und ich landete unsanft auf der Plattform. Der Aufprall verschlug mir den Atem, doch ich brach mir wenigstens keine Knochen. Bäuchlings auf dem weißen Boden liegend, schnappte ich nach Luft wie ein gestrandeter Fisch. Es dauerte mindestens eine Minute, bis ich ans Aufstehen auch nur denken konnte. Als ich mich aufrichtete, hämmerte mir das Herz, und mein Atem ging keuchend. Es wimmelte in der Luft noch immer von Maschinen, doch sie hielten mehrere Meter Abstand ein.
»Portula!«, rief ich mit schwacher Stimme, dann riss ich mich zusammen und brüllte ihren Namen.
»Campion!«, antwortete sie. »Ich bin hier!«
Sie war nur ein paar Schritte von mir entfernt, doch ich sah sie nur momentweise, wenn der Vorhang der Maschinen durchsichtiger wurde. Mit schmerzendem Knie taumelte ich auf sie zu, und sie tappte mir mit ausgestreckten Armen entgegen wie eine Schlafwandlerin. Wir umarmten uns und tasteten uns nach Verletzungen ab. Abgesehen von den oberflächlichen Schnitten, die wir uns zuvor zugezogen hatten, und den unter der Kleidung verborgenen blauen Flecken war die Tortur spurlos an uns vorübergegangen.
»Dieses Scheißding …«, setzte ich an.
Portula legte den Finger an die Lippen. »Der Geist ist noch da, und er versteht mit ziemlicher Sicherheit Trans. Du solltest ihn nicht noch weiter reizen.«
Ich nickte demütig, doch mein Ärger hatte sich noch immer nicht gelegt. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas Bösem gegenüberzustehen, doch ich sah eine boshafte Intelligenz am Werk, vergleichbar einem ins Riesenhafte aufgeblasenen mutwilligen Kind.
»Ich dachte, ich würde sterben«, sagte ich.
»Ich auch. Aber wundern sollte uns das eigentlich nicht – schließlich hat man uns vorgewarnt, dass der Geist verspielt ist. Jetzt weiß ich, weshalb Herr Jynx es so eilig hatte.«
»Wenn das verspielt war, dann möchte ich ihn nicht aggressiv erleben.«
»Dann lägen wir jetzt zerfetzt in den Dünen. Aber irgendetwas geht da vor.« Sie spähte über meine Schulter. Ich drehte mich vorsichtig um. Die Maschinenwolke hatte sich so weit zurückgezogen, dass wir wieder freie Sicht auf den Sockel hatten. »Der Geist nimmt ihn mit«, sagte Portula in ehrfürchtigem Flüsterton.
Trotz seines anfänglichen Zögerns hatte der Luftgeist inzwischen Kontakt zu Hesperus hergestellt. Er untersuchte ihn nicht bloß, wenngleich die Maschinen seinen Körper nahezu vollständig bedeckten, sondern nahm ihn auseinander, verleibte ihn sich ein mittels einer Welle, die am Außenrand des Sockels einsetzte, wo sich die geschmolzene Masse befand, und dann zu Hesperus’ humanoidem Teil weiterwanderte, der zuvor den Anschein erweckt hatte, er nähme unsere Anwesenheit wahr. Dort, wo die Welle vorbeiwanderte, blieb nichts von ihm übrig. Staubteilchen und goldene Splitter funkelten aus dem rotierenden schwarzen Trichter hervor, der ihn in den Himmel emporsog.
»Ich hoffe, wir haben das Richtige getan«, sagte ich, das Schauspiel mit einer Mischung aus Entsetzen und Erhebung beobachtend.
»Bringt er ihn um, oder will er ihn heilen?«
»Vielleicht verleibt er ihn sich ein oder verdaut seine Erinnerungen und seine Persönlichkeit.« Sie fasste meine Hand. »Wir konnten sonst nichts für ihn tun, Campion. Er war bereits tot. Das war seine beste und letzte Chance.«
Anschließend gab es nichts mehr zu sagen. Wir beobachteten, wie der Schwarm den Sockel leerfraß, bis der letzte goldene Tupfen in dem saugenden Wirbel verschwunden war und der Trichter sich in das tosende schwarze Auge zurückgezogen hatte. Der Geist verharrte noch eine Weile über uns in der Schwebe, während es in seinem Innern heftiger leuchtete als zuvor, so als hätte er jetzt, da er Hesperus in sich aufgenommen hatte, Stoff zum Nachdenken. Dann legten sich unvermittelt der Lärm, der Wind und der peitschende Regen, und der Geist vergrößerte den Abstand zwischen seinen Elementen, bis auf einmal die eindunkelnde Indigofarbe des Himmels durch einzelne Lücken hindurchschien. Dann sammelte sich der Geist, wogte und tanzte noch eine Weile umher und schoss schließlich der untergehenden Sonne entgegen.
Wir warteten, bis nur noch ein wogender Schemen in der Ferne zu sehen war. Dann gingen wir in den Unterstand und warteten auf den nächsten Morgen.