Siebzehn
Zur vereinbarten
Zeit warteten Portula und ich auf dem Landedeck im achtzehnten
Stock. Hesperus hatten wir auf der offenen Ladefläche eines
Fliegers der Familie Gentian verstaut. Von Westen her wehte ein
scharfer Wind, die Fahnen an den Brücken und Gehwegen zwischen den
Türmen flatterten. Der Staub brannte auf meinen Wangen und drang
mir in die zusammengekniffenen Augen. An diesem Nachmittag waren
nicht viele Ymirer in der Luft, und die wenigen hielten sich im
Innern von Flugmaschinen auf. Ich war froh, Mezereums
Befragungsraum hinter mir lassen zu können, doch böse Vorahnungen
schlugen mir auf den Magen.
»Da kommt sie«,
sagte Portula und zeigte auf einen sich nähernden insektenförmigen
Flieger, dessen Flügel verwischte pastellfarbene Schemen waren. Das
Fluggerät schwebte vor der Sonne, so dass ich meine Augen mit den
Händen schützen musste. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte
er wieder abdrehen und wegfliegen.
»Wer sitzt da
drin?«
»Jindabyne würde
sagen, ein Vertreter des Forschungsrats.«
Offenbar hatte sich
der Pilot nun doch zur Landung entschlossen, denn das Fluggerät
senkte die Nase und näherte sich dem Landedeck. Es setzte auf, dann
trat eine Gestalt aus der perlenförmigen Kabine, legte die Hände
ums Geländer und kletterte herunter, wobei sie uns den Rücken
zukehrte. Als sie sich umdrehte, sahen wir, dass es sich um einen
Mann handelte, bekleidet mit einer dicken schwarzen Jacke mit
pelzverbrämtem Kragen und Stulpen. Die Jacke war mit zahlreichen
Taschen, Riemen und rüsselartigen Fortsätzen ausgestattet, an denen
dicke, gerippte Luftschläuche befestigt waren, die zur Atemmaske
führte, die unter dem von einer Schutzbrille verborgenen Gesicht
baumelte. Er näherte sich uns mit ungeduldigen, watschelnden
Schritten.
»Ich bin Portula«,
sagte mein Mitsplitterling. »Das ist Campion, ebenfalls ein
Splitterling. Wir freuen uns, dass Sie uns helfen
wollen.«
»Ich wurde
angewiesen, Ihnen behilflich zu sein. Um meine Meinung wurde ich
nicht gefragt.« Er hatte den gleichen honigfarbenen Pelz wie die
Magistratin Jindabyne, allerdings mit kleinen weißen Flecken darin
– vielleicht Spuren des Alters, Anzeichen von Stress oder eine
genetisch bedingte Pigmentstörung.
»Billigen Sie das
Vorhaben?«, fragte ich.
»Keinesfalls. Ginge
es nach mir, hätte man Sie gar nicht erst in die Atmosphäre
einfliegen lassen.«
»Das war deutlich«,
sagte ich.
»Ich erforsche den
Geist schon mein ganzes Erwachsenenleben lang, Splitterling. Noch
nie habe ich ihn so unruhig und unberechenbar erlebt wie in dem
Moment, als Ihre Raumschiffe auftauchten. Er mag Sie nicht. Es wäre
ihm lieber, Sie würden von hier verschwinden. Und mir offen gesagt
auch.«
»Danke für die
freundliche Aufnahme.«
»Nehmen Sie’s nicht
persönlich.«
»Natürlich nicht.
Und Sie heißen?«
»Für Sie Herr
Jynx.«
»Wir bedauern, Ihnen
so große Unannehmlichkeiten zu bereiten«, sagte Portula. »Wir tun
das für unseren Freund – er ist krank, und wir glauben, er wollte
mit dem Geist zusammentreffen. Das war seine letzte Mitteilung an
uns, bevor er die Verständigung eingestellt hat. Sie werden doch
wohl Verständnis dafür haben, dass wir ihm seinen Wunsch erfüllen
wollen, oder?«
Falls Herr Jynx
geneigt war, uns auch nur das kleinste Zugeständnis zu machen, so
ließ er es bei einer Art Räuspern bewenden. Wenn ich’s recht
bedenke, machte er damit vielleicht auch nur seiner Verärgerung
Luft. »Wir sind bereits spät dran«, sagte er, obwohl wir exakt zur
verabredeten Zeit erschienen waren. »Mir wär’s lieber gewesen, der
Beobachtungsturm läge schon wieder hinter uns. Egal; wenn Sie sich
verspäten, lässt sich das nicht ändern. Sind Sie bereit, mir zu
folgen?«
Ich nickte zur
Ladefläche des schwebenden Fliegers hinüber. »Wir haben unseren
Freund mitgebracht. Möchten Sie ihn sich anschauen?«
»Es kommt nicht
drauf an, was ich von ihm halte.«
»Ich habe mir nur
gedacht …«
»Ihre
Erfolgsaussichten sind verschwindend gering. Dagegen ist es eher
wahrscheinlich, dass Sie verletzt oder getötet werden.« Herr Jynx
wandte sich ab und ging zu seiner Flugmaschine zurück. »Folgen Sie
mir, halten Sie einen Sicherheitsabstand ein und weichen Sie
nicht vom Flugweg ab!«, rief er uns
über die Schulter hinweg zu.
Wir gingen zu
unserem Flieger.
»Ein lustiger
Bursche. Schön zu wissen, dass er voll und ganz auf unserer Seite
steht und uns in jeder Beziehung unterstützt.«
»Ich an seiner
Stelle käme mir vielleicht ebenso übergangen vor«, meinte Portula
und kletterte auf einen der beiden nach vorn weisenden Sitze. »Er
ist von seinen Vorgesetzten angewiesen worden, unseren Wünschen
nachzukommen. Kein Wunder, dass er verärgert ist.«
»Na
ja.«
Kurz darauf war Herr
Jynx gestartet. Er wendete die Nase seiner Flugmaschine und raste
davon, wobei er zwischen den dicht gepackten Türmen von Ymir
scharfe Schlenker vollführte. Portula wies den Flieger an, ihm zu
folgen. Die Beschleunigungskräfte pressten mich in den Sitz, dann
schaltete sich das Dämpferfeld ein. Der pinkfarbene Flieger hatte
keine Pilotenkanzel, sondern nur zwei halbkreisförmige
Windschutzvorrichtungen, die vor den beiden Vordersitzen angebracht
waren. Einen Moment lang waren wir dem starken Fahrtwind
ausgesetzt, dann baute sich ein aerodynamisches Feld auf. Auf
einmal war es völlig windstill und so leise wie im Korb eines
Heißluftballons.
»Vielleicht ist das
Vorhaben ja doch verrückt«, sagte Portula. »Als würde man eine
defekte Uhr in einen Wirbelsturm werfen und hoffen, dass sie
repariert wieder zum Vorschein kommt.«
»Abgesehen davon,
dass der Wirbelsturm niemals lebendig war. Wir wissen, dass der
Luftgeist einst ein intelligentes Lebewesen war. Allerdings wissen
wir nicht, wie viel von seiner Intelligenz noch vorhanden ist.« Ich
wandte den Kopf und vergewisserte mich, dass Hesperus noch sicher
auf der Ladefläche fixiert war. »Außerdem bedeutet er uns mehr als
eine kaputte Uhr. Wir tun das nicht deshalb, weil wir etwas
beschädigt haben und es repariert haben wollen. Wir tun das, weil
er unser Freund war und sich für uns geopfert hat.«
»Und das gibt uns
das Recht, etwas Unmögliches zu versuchen?«
»Es ist nicht
unmöglich – nur ein Schuss ins Blaue. Schließlich hat der Geist in
der Vergangenheit in ähnlichen Fällen schon öfters
eingegriffen.«
»Aber nicht bei
Maschinenwesen.«
»Nur deshalb, weil
bis jetzt noch keins hierhergekommen ist.«
»Vielleicht gibt es
auch noch einen anderen Grund. Vielleicht sind sie zu vernünftig,
oder die Ymirer lassen sie nicht her.«
»Oder irgendetwas
schreckt sie ab«, sagte ich. »Eine mechanisierte Intelligenz, die
älter ist als sie. Uns halten sie etwa für so komplex und subtil
wie Tick-Tack-Toe. Vielleicht durchschauen sie uns mühelos. Aber
wie würden sie auf eine wirklich komplexe, undurchschaubare
Intelligenz reagieren? Ich glaube, das wäre für sie etwa so, als
müssten wir eine Nacht in einem Spukschloss zubringen.« Ich
lächelte. »Auf einmal habe ich das Gefühl, Überzeugungsarbeit
leisten zu müssen. Dabei meine ich mich erinnern zu können, dass
das deine Idee war, nicht meine.«
»Die Bedenken kommen
mir immer erst hinterher.«
»Das bringt doch
nichts. Wir tun das Richtige, ganz gleich, was Jindabyne oder Jynx
davon halten mögen.«
Ein gentianischer
Flieger war auch mit schwerer Beladung schneller als jeder
Schwingenflügler, und nach kurzer Zeit hatten wir Herrn Jynx’
Flugmaschine eingeholt. Portula hätte längsseits gehen können, doch
sie blieb hinter dem ymirischen Fluggerät, wie Herr Jynx uns
angewiesen hatte. Nach zehn Minuten begannen die schwarzen Finger,
auf denen Ymir erbaut war, hinter dem östlichen Horizont zu
versinken, und nach zwanzig Minuten sah man nur noch die höchsten
Gebäude. Vor uns erstreckte sich ein Labyrinth schattiger weißer
Dünen, so verwickelt und komplex wie das menschliche
Kleinhirn.
Wir hatten den
Beobachtungsturm bereits vom Büro der Magistratin aus gesehen, doch
seine wahre Funktion erschloss sich mir erst jetzt. Aus den Dünen
ragte ein knochenweißer Turm auf, gekrönt von einer
Aussichtsplattform, die von filigranen Streben gestützt wurde. Herr
Jynx flog höher, und wir folgten ihm, bis beide Flieger gleichauf
mit der Plattform waren. Es handelte sich um eine runde Scheibe von
etwa zweihundert Metern Durchmesser und einem fensterlosen Gebäude
mit schrägen Wänden in der Mitte. Herr Jynx landete als Erster
neben dem Gebäude. Portula ließ unseren Flieger aufsetzen, und wir
stiegen beide aus. Herr Jynx kletterte gerade aus der ymirischen
Flugmaschine.
»Laden Sie ihn jetzt
ab. Sehen Sie den Fleck am Horizont, links von der
Sonne?«
»Der ausschaut wie
eine Unwetterwolke oder ein Vogelschwarm?«, fragte
Portula.
»Das ist der
Luftgeist. Er ist näher, als ich erwartet habe – seit der letzten
Datenübermittlung hat er sich sehr schnell bewegt. Wir sollten uns
besser beeilen – er dürfte uns bereits bemerkt haben.«
Der Fleck schien
weit entfernt, vergleichbar einem Tiefdrucksystem, über das man
sich erst am nächsten Tag Sorgen zu machen braucht.
»Kommt er näher?«,
fragte Portula.
»Das wäre möglich,
muss aber nicht sein. Die Tatsache, dass er überhaupt sichtbar ist,
deutet jedoch darauf hin, dass er sich weiter nähern
wird.«
Wir hatten unsere
Allesträger mitgebracht und Hesperus daran fixiert. Ich packte den
U-förmigen Griff des nächsten Trägers und hob seinen Körper vom
Flieger; ich nahm die Trägheit wahr, aber kein Gewicht. Ich schob
die schwere goldene Masse zur Seite, bis sie sich über dem
Plattformboden befand. »Wo sollen wir ihn ablegen?«
»Möglichst weit vom
Unterstand entfernt«, antwortete Herr Jynx. »An der Westseite der
Plattform befindet sich ein Sockel – dort legen wir manchmal Proben
ab.«
Beim Anflug hatte
ich den Sockel nicht gesehen, denn er war vom Unterstand verdeckt
worden. Mit langsamen, aber sicheren Schritten schob ich Hesperus
mit einer Hand vor mir her. Der Sockel, den der Ymirer erwähnt
hatte, war ein erhöhter Bodenabschnitt mit glatter Oberfläche. Ich
brachte Hesperus darüber zum Stillstand, dann senkte ich den
Levator ab, bis er aufsetzte.
»Nehmen Sie die
Levatoren jetzt weg«, sagte Herr Jynx. »Wenn Sie dem Geist ein
Opfer darbringen, sollten Sie Komplikationen
vermeiden.«
»Von einem Opfer
würde ich in diesem Fall nicht sprechen«, entgegnete
Portula.
»Das entscheidet der
Geist, nicht Sie.«
Ich nickte und löste
die vier Allesträger, dann koppelte ich sie aneinander, damit ich
sie als Ganzes verschieben konnte.
»Wird das reichen?«,
fragte ich, trat zurück und musterte das Ding, das ich auf dem
Sockel hatte liegen lassen. Die geschmolzene Seite von Hesperus
wies von mir weg; ich sah seine humanoide Gestalt. Das schöne,
gelassene Gesicht blickte mich an, sein Oberkörper, sein rechter
Arm und sein rechtes Bein ragten aus der unförmigen Masse hervor.
Die Lichter kreiselten noch in seinem Schädelfenster, doch noch nie
waren sie so matt und träge gewesen wie jetzt.
»Ich glaube, der
Geist kommt näher«, sagte Portula mit Blick auf die unheimliche
dunkle Wolke.
»Das stimmt«, meinte
Herr Jynx. »Falls er uns einen Besuch abstatten möchte, könnte es
in dreißig Minuten so weit sein.« Forschen Schritts ging er zu
seiner Flugmaschine zurück. »Wir sollten jetzt starten. Mehr gibt
es für Sie hier nicht zu tun.«
»Wir würden lieber
hierbleiben«, sagte Portula. Sie blickte mich an. »Ich jedenfalls
bleibe hier.«
»Das würde ich Ihnen
nicht empfehlen.«
»Wenn wir starten,
wird der Geist Hesperus als Opfergabe betrachten, wie Sie schon
sagten. Aber er ist kein gemästetes Kalb, das wir opfern, damit es
regnet. Wir möchten, dass er geheilt wird. Der Geist soll
begreifen, dass er uns etwas bedeutet.«
»Wenn Sie
hierbleiben, bringt Sie das Ihrem Ziel keinen Schritt
näher.«
»Aber auf andere
Weise können wir ihm diese Botschaft nicht zukommen lassen«,
entgegnete Portula. »Ich habe mir Gedanken gemacht, Herr Jynx. Wenn
ich mich in Gefahr begebe, wird der Geist begreifen, dass Hesperus
nicht bloß ein nutzloses Stück Metall ist. Er ist eine Person, ein
Freund.«
»Sie überschätzen
die Fähigkeit des Geistes, rationale Schlüsse zu
ziehen.«
»Darauf will ich es
ankommen lassen.«
»Ich auch«, erklärte
ich.
»Du musst nicht
hierbleiben, Campion.«
»Du auch nicht.« In
Wahrheit teilte ich Portulas Entschlossenheit nicht. Ich war
besorgt, und das fremdartige Ding am Horizont machte mich nervös.
Aber ich wollte sie auch nicht allein lassen.
»Wir finden den
Rückweg auch allein«, sagte Portula.
»Ohne Flieger
bestimmt nicht.«
»Wir haben einen
eigenen Flieger«, erklärte sie.
»Der kann nicht
hierbleiben. Beim Eintreffen des Geistes würde er zerstört werden.
Er mag keine anderen Maschinen – auch keine ganz simplen. Wenn Sie
nach dem Verschwinden des Geistes noch leben, können Sie den
Flieger zurückrufen.«
»Und die
Levatoren?«, fragte ich.
»Schicken Sie die
ebenfalls weg. Sie sollten alle Maschinen wegschicken, die Sie bei
sich haben.«
»Ich habe Implantate
im Kopf«, sagte Portula. »Damit mein Raumschiff mit mir sprechen
kann.«
»Das hätten Sie mir
eher sagen sollen.«
»Ich habe nicht
daran gedacht.«
»Das lässt sich
jetzt nicht mehr ändern. Dann können Sie nur hoffen, dass der Geist
sie nicht weiter beachtet.« Herr Jynx musterte besorgt den
rastlosen, wogenden Fleck am Horizont. »Vorausgesetzt, dass die
Maschinen in Ihrem Kopf sich still verhalten, dürfte eigentlich
nichts passieren.«
Portula schloss für
einen Moment die Augen. »Ich habe die Silberschwingen soeben angewiesen, den Funkkontakt
zu unterbrechen.«
Ich ging zum Flieger
und legte die Allesträger auf der Ladefläche ab, dann beugte ich
mich auf den Pilotensitz vor und wies die Flugmaschine an, auf
Abstand zu gehen und erst am nächsten Morgen hierher
zurückzukehren. Wir würden die Nacht im Unterstand verbringen
müssen, doch das war im Moment meine kleinste Sorge.
»Wir sind so weit«,
sagte Portula.
»Ich muss gestehen,
ich bin neugierig, wie es ausgeht. Am liebsten würde ich ebenfalls
hierbleiben und mir das Spektakel aus der Nähe
anschauen.«
»Werden Sie uns
beobachten?«
»Aus der Ferne.
Bislang haben noch keine Beobachtungsgeräte die Begegnung mit dem
Geist unbeschadet überstanden. Wir haben Teleskope auf die
Plattform gerichtet, aber wenn der Geist da ist, sieht man nicht
viel.«
»Sie könnten
ebenfalls hierbleiben.«
»Die Stimme der
Vernunft rät mir dringend davon ab.«
Plötzlich peitschte
mir der Wind ins Gesicht. Herr Jynx lächelte über mein Erschrecken.
»Haben Sie das gespürt, Splitterling? Das Mikroklima verändert
sich. Der Geist bringt sein eigenes Wetter mit. Ich muss jetzt
losfliegen.«
»Tun Sie das«, sagte
ich. »Wir kommen schon zurecht. Morgen werden wir Ihnen Bericht
erstatten.«
Herrn Jynx’ Stimmung
hatte sich verändert. Vielleicht nahm er uns ab, dass wir keine
andere Möglichkeit sahen, unserem Freund zu helfen. »Ich wünsche
Ihnen gutes Gelingen. Ich betrachte Ihr Verhalten als leichtsinnig,
aber Mut haben Sie jedenfalls, das muss man Ihnen
lassen.«
Jynx kletterte in
seine Flugmaschine und raste davon. Auch unser Flieger hob von der
Plattform ab und flog zurück zur Stadt, wo er bis Tagesanbruch
warten würde. Portula und ich beobachteten Seite an Seite, wie die
beiden Punkte immer kleiner wurden, bis sie nicht mehr zu erkennen
waren.
Der Wind nahm zu und
wurde schneidend. Ich hob die Hand vor die Augen und spähte
zwischen den Fingern hindurch. Die dem westlichen Horizont
entgegensinkende Sonne war hinter einem wogenden Nebelschleier
verborgen. Dessen Farbe lag irgendwo zwischen Purpur und Schwarz,
und es hatte den Anschein, als bestünde der Nebel aus zahllosen
kleinen Einzelteilen. Ich hatte Mühe, die Ausdehnung der Wolke
einzuschätzen – es fehlte an Bezugspunkten. Ich schätzte, dass der
eigentliche Kern des Geistes, der dunkle, pulsierende Fleck in der
Mitte, wo die Dichte der Flugmaschinen am höchsten war, mindestens
den Durchmesser der Beobachtungsplattform hatte. Es war nicht das
erste Mal, dass ich Angst hatte, doch meistens war dies die
zuversichtliche Beklommenheit gewesen, die man verspürt, wenn man
sich einer gefährlichen, aber großartigen Unternehmung stellt, wie
zum Beispiel dem Besteigen eines Berggipfels oder der Entwicklung
einer spektakulären neuen Kunstform. Jetzt aber verspürte ich eher
spektakuläre animalische Angst. Sie forderte mich auf, vor der sich
nähernden Gefahr wegzurennen oder mich zu verstecken, und ich
musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um ihr zu
trotzen.
Ich vergegenwärtigte
mir, was ich vom Datenspeicher und den Ymirern in Erfahrung
gebracht hatte. Der Luftgeist war damals, in den fernen
Jahrhunderten der Goldenen Stunde, ein Mann gewesen. Er hatte
Abraham Valmik oder so ähnlich geheißen, hatte über unermesslichen
Reichtum verfügt und ein hohes Alter erreicht. Nichtsdestoweniger
hatte er mehr vom Universum verlangt, als es ihm bislang geschenkt
hatte. Inzwischen hatten sich Abigail und die anderen
Familiengründer in Unsereins aufgesplittert, sich für einen Weg zur
Unsterblichkeit entschieden und sich daran gemacht, voller
Wissensdurst die unbewohnte Galaxis zu erkunden. Vielleicht hatten
sich auch schon andere Menschen für einen anderen Weg entschieden
und den langwierigen Prozess der Verwandlung begonnen, der
Kuratoren der Vigilanz aus ihnen machen würde. Valmik hielt jedoch
weder die Zersplitterung noch die Zeitdilatation noch die
biologische Transformation für ausreichend erfolgversprechend. Er
zog es vor, sich in eine Maschine zu verwandeln und sein
Bewusstsein einem Gebilde einzupflanzen, das so unzerstörbar war,
wie die Gesetze der Physik es erlaubten. Neuron für Neuron ließ er
sein Gehirn auf mechanische Teile übertragen. Da der Prozess
schrittweise verlief – eher vergleichbar einer kontinuierlichen
Stadtsanierung als einem Abriss mit darauf folgendem Wiederaufbau
-, verspürte der Mann keine Veränderung zwischen der Verpflanzung
der einzelnen Neuronen. Das bedeutete jedoch nicht, dass er sich
seinen Bekannten und Freunden nicht entfremdet hätte, als sein
Bewusstsein sich nach und nach in ein vibrierendes Netz künstlicher
Neuronen verwandelte.
Als der Prozess
abgeschlossen war, entledigte sich der Mann seines Körpers, da er
nichts mehr mit ihm anfangen konnte. Wenn die Umstände es
erforderten, vermochte er zwar noch immer ein organisches
Nervensystem zu simulieren, doch das geschah nur selten. Er zog es
vor, mit dem abstrakten Reich simulierter Erfahrung zu interagieren
und nahm es nur selten auf sich, mit den Menschen in Kontakt zu
treten, die er in der Außenwelt zurückgelassen hatte. Sie
langweilten ihn mittlerweile – ihre Gewohnheiten wirkten auf ihn
quälend vorhersagbar, ihre geistigen Prozesse folgten ausgetretenen
Pfaden. Er war anders als sie, ein Fisch, der aufs Trockene
gesprungen war und festgestellt hatte, dass er noch atmen konnte,
während alle anderen im Meer zurückgeblieben waren. Er hatte nichts
mehr mit ihnen gemeinsam.
Jahrhundertelang
existierte Valmiks künstliches Bewusstsein in Form einer
ortsfesten, eindeutig definierten Architektur. Kopien seiner selbst
waren in der Goldenen Stunde und jenseits deren besiedelter
Bereiche verteilt, doch die sollten nur dann aktiviert werden, wenn
das Primärbewusstsein beschädigt oder ausgelöscht wurde. Im Laufe
der Zeit baute er seine Komplexität weiter aus, indem er immer mehr
künstliche Neuronen in sein Bewusstsein integrierte, bis deren Zahl
die der ursprünglichen Gehirnzellen um einen Faktor von mehreren
Hundert übertraf. Inzwischen hatte er sich so weit von allem
Menschlichen entfernt, dass er sich nur noch mit anderen
weiterentwickelten Bewusstseinsformen verständigen konnte. Eine
Zeit lang hielten sie mit ihm Schritt, doch dann ließ er auch sie
hinter sich zurück. Sie waren zu vorsichtig und schreckten davor
zurück, die letzten Spuren der menschlichen Gehirnstruktur über
Bord zu werfen. Sie klammerten sich an die uralte Verschaltung, an
die archaischen, überholten Arrangements der sensorischen und
kognitiven Module. Die Struktur des menschlichen Gehirns hatte sich
schrittweise und zufallsgesteuert entwickelt und dabei die neuen
Schichten auf die alten gehäuft. Es glich dem Haus, in dem ich zur
Welt gekommen war, den Gängen und Treppen, die nirgendwohin
führten, den vernachlässigten Räumen und Fluren, die sich nicht
vergrößern ließen, da sie von anderen Räumlichkeiten eingeengt
wurden, den Leitungen, die unnötig kompliziert waren, da jede neue
Installation um das bereits vorhandene Gewirr verrosteter Rohre und
Abflüsse herumverlegt werden musste. Die anderen hatten nicht den
Mut, dieses wirre, kopflastige Erbe abzulegen.
Er schon. Er war
tapferer, kühner, hatte weniger Angst, sich selbst zu
verlieren.
Er nahm sich vor,
sich neu zu erschaffen und seine Basisarchitektur von Grund auf
umzustrukturieren. Kein Teil seines Gehirns sollte dabei ungeprüft
bleiben. Knoten sollten begradigt, Module verlegt oder ganz
entfernt werden. Das Bewusstsein sollte während dieses Prozesses
erhalten bleiben. Wenn die Veränderungen in die radikalste Phase
einträten, würde es schwächer wären, aber nicht ganz erlöschen. Das
Ganze erforderte akribische Planung – wie ein Chirurg, der von
seinem eigenen Narkosemittel benommen wird, wäre er im Verlauf des
Prozesses nicht klarsichtig genug, um notfalls eingreifen zu
können. Alle Eventualitäten mussten berücksichtigt
werden.
Tatsächlich ging
nichts schief. Er wurde lediglich fremdartiger, größer, schneller
als alles, was er bislang gesehen hatte. Das alte Haus hatte sich
in ein funkelndes, nach rationalen Gesichtspunkten organisiertes
Bauwerk verwandelt. Er war makellos und effizient. Die Gedanken
durchrasten ihn mit unvorstellbarer Klarheit. Als er sein Werk
betrachtete, sah er, dass es gut war. Außerdem begriff er, dass er
seine alten Gefährten für immer hinter sich gelassen hatte. Der
Prozess der Fortentwicklung, der Anpassung der Architektur, ging
mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Selbst wenn eine der
anderen Intelligenzen ihre Meinung geändert und eine ähnliche
Veränderung in Angriff genommen hätte, wäre es ihr niemals
gelungen, ihn einzuholen. Er hatte sich in etwas Einzigartiges
verwandelt, wie es seit der Zeit der Früheren nicht mehr existiert
hatte.
Valmik aber war noch
immer nicht am Ziel. Obwohl er ungleich komplexer war als zuvor,
war er doch immer noch an einen Ort gebunden und im Rechenkern
einer einzelnen Maschine eingesperrt. Berücksichtigte man die
Energieversorgung, die Außenschichten und die Panzerung dieser
Maschine, war sie so groß wie ein kleiner Asteroid. Obwohl die
trivialen Geheimnisse der Raumzeit, des Impulses und der Trägheit
noch nicht entschlüsselt waren, war die Fortbewegung kaum
schwieriger als heute. Er musste sich kühlen, indem er Kometen
verdampfte. Im Reich seiner geistigen Prozesse war er gottgleich
geworden und dennoch auf demütigende Weise von anderen Maschinen
und Menschen abhängig. Hätte der Kometennachschub gestockt, wäre er
im eigenen Glanz verglüht. Ein einzelner, gut gezielter Schuss aus
einer Waffe hätte die Maschine, in der er lebte, zerstören
können.
Damit wollte er sich
nicht abfinden.
Die Transformation,
der er sich nun unterzog, entfernte ihn noch weiter von der
Menschheit, doch das Menschsein war für ihn inzwischen ein
Kontinent an einem fernen Horizont geworden, den man ohne Bedauern
entschwinden sieht. Jedes einzelne der zehntausende Milliarden
Neuronen, die sein Bewusstsein bildeten, verwandelte sich in eine
unabhängige Maschine, die in der Lage war, ihr eigenes Überleben zu
sichern. Damals benötigte er noch Brennmaterial und Rohstoffe (er
beherrschte noch nicht den simplen Trick, zu diesem Zweck das
Vakuum anzuzapfen), doch die Maschinen waren intelligent und
beweglich genug, um ihren Bedarf selbstständig zu decken. Während
sie mittels Lichtsignalen Kontakt hielten, verwandelte er sich in
ein Wolkenbewusstsein, das ein viel größeres Volumen einnahm als
zuvor. Tatsächlich konnte sich die Wolke beliebig weit verteilen.
Allerdings verlangsamten sich mit zunehmender Ausdehnung Valmiks
Bewusstseinsprozesse, da die durch die Lichtgeschwindigkeit
bedingte Zeitverzögerung von wenigen Mikrosekunden auf
Sekundenbruchteile zunahm. Doch da er am liebsten Selbstgespräche
führte, beunruhigte ihn das nicht weiter. Er vermochte sich sogar
über ein ganzes Sonnensystem und noch weiter zu
verteilen.
Als die Goldene
Stunde längst Geschichte war und lange nach der dritten Reunion der
Splitterlinge – die ersten drei Umläufe nahmen lediglich
siebentausend Jahre in Anspruch, da Abigail keinen Sinn darin sah,
auch die unbesiedelten Teile der Galaxis zu erkunden -, bewohnte
der Mann die Oort-Wolke, jenes Halo schlafender Kometen, die
tausendbis hunderttausendmal so weit von der Sonne entfernt sind
wie der Alte Ort. Bereits seine einfachsten Gedanken nahmen nach
Planetenzeit inzwischen Monate in Anspruch. Das Sonnensystem
schwirrte in ihm wie eine überdrehte Uhr.
So gewaltig seine
Zahl und seine Ausdehnung auch waren, konnte man Valmik doch leicht
übersehen. Denn er spielte keine Rolle mehr in den Angelegenheiten
der Menschen, die ihn schließlich vergaßen. Es wurde von
geheimnisvollen Funksignalen gemunkelt, von denen die Oort-Wolke
durchdrungen sei, doch die meisten betrachteten dies als Mythos wie
zahllose andere Geschichten auch. Wenn Forscher eines seiner
Einzelteile entdeckten, hielten sie es zumeist für ein Relikt aus
der Zeit der interstellaren Expansion. Er konnte gut und gerne
darauf verzichten. Nichts, was Menschen vermochten, hätte ihn
verletzen oder auch nur beeinträchtigen können. Nicht einmal die
wachsende Macht der Familien vermochte ihn zu
beunruhigen.
Die Sonne stellte
allerdings ein Problem dar. Im verlangsamten Zeitrahmen seines
Bewusstseins war das Ende seines Lebenszyklus nur ein paar tausend
Jahre subjektiver Zeit entfernt. Diese Vorstellung war ihm
unerträglich. In der fernen Zukunft, wenn die Familien oder eine
andere menschliche Zivilisation die Grundlagen der stellaren
Lebensverlängerung ergründet hätten, würde er etwas dagegen
unternehmen müssen. Doch darauf konnte er sich nicht verlassen,
deshalb musste er Vorkehrungen treffen, solange er noch Zeit hatte,
über die verschiedenen Möglichkeiten nachzudenken.
Das
Wolkenbewusstsein sagte sich, es sei an der Zeit, die interstellare
Ausdehnung in Angriff zu nehmen. Anstatt sich zu sammeln und zu
einem anderen Stern zu befördern – wie eine Flottille von
Raumschiffen, deren Zahl freilich kaum zu schätzen gewesen war -,
dehnte er sich aus und sandte seine Neuronenelemente in alle
Richtungen. Es dauerte mehrere Zehntausend Jahre, ehe auch nur
eines seiner neuronalen Elemente in die Nähe einer anderen Sonne
gelangte, denn seine Einzelteile bewegten sich viel langsamer als
die schnellen Raumschiffe der Familien. Je weiter er sich
ausdehnte, desto stärker verlangsamten sich seine Denkprozesse. Als
seine Bewusstseinswolke mehrere Sternsysteme umfasste, benötigten
seine schnellsten Gedanken nach Planetenzeit mehrere Jahrzehnte.
Zumindest aber war er nicht mehr von einem einzigen Sonnensystem
abhängig.
An diesem Punkt
angelangt, wurden die Informationen der Datenspeicher vage und
widersprüchlich. Wie es in den nächsten Millionen Jahren mit dem
Mann weitergegangen war, blieb unklar. Der einen
Argumentationskette zufolge hatte er sich über ein gewaltiges
galaktisches Raumvolumen ausgedehnt und Hunderte von Tausenden
Sternsystemen im Umkreis von mehreren Tausend Lichtjahren
geschluckt. Die Familien trafen sich währenddessen zu ihrer
siebten, achten oder neunten Reunion, je nachdem, wo man mit dem
Zählen begann. Die Goldene Stunde war ein kurzer, leuchtender
Moment in der Geschichte, komprimiert wie ein Lichtfunken, den man
durchs falsche Ende eines Teleskops betrachtet. Innerhalb des
Mannes hatten Reiche existiert, die nicht einmal von seinem
Vorhandensein gewusst hatten. Der Preis für eine solche Expansion
war jedoch ein Bewusstsein, das in nahezu todesähnlicher Starre
verharrte. Er benötigte Jahrtausende, um auch nur den einfachsten
Gedanken zu formen.
Der anderen
Argumentationskette zufolge hatte sich der Mann lediglich über ein
paar Dutzend Lichtjahre ausgebreitet. Als er die Größe eines
ordentlichen Nebels erreicht und ein paar hunderttausend Jahre in
diesem Zustand verbracht hatte, kam er zu den Schluss, dass es ihm
reichte; er wollte sich wieder mit der menschlichen Zivilisation
verbinden, und sei es nur in sehr loser Form, auch wenn das
bedeutete, wieder auf planetarischen Maßstab zu schrumpfen. Dies
stellte für ihn keine große Schwierigkeit dar, denn in der Zeit der
Expansion hatte er sehr viel über Selbsterhaltung gelernt. Auf
äußere Energiequellen war er nicht mehr angewiesen. Er hatte die
frühen galaktischen Kriege der Protohumanen beobachtet und gesehen,
was Waffen anrichten konnten. Vorausgesetzt, dass er sich vorsah
und beweglich blieb, brauchte er sich vor nichts mehr zu
fürchten.
Einig waren sich die
Datenspeicher hingegen darüber, dass der Luftgeist, die
Frakto-Koagulation, alles war, was nach weiteren fünfeinhalb
Millionen Jahren von dem Mann übrig geblieben war. Die meiste Zeit
über hatte er sich auf Neume aufgehalten, denn in jeder
dokumentierten Geschichtsperiode fand er in der einen oder anderen
Form Erwähnung. Bisweilen war er eine flüchtige, nahezu mythische
Erscheinung, die sich jahrhundertelang verbarg, bis sie
unvermittelt verwirrten und verängstigten Augenzeugen erschien, die
schon immer an sie geglaubt hatten. Dann wieder zeigte er sich als
atmosphärische Erscheinung, vergleichbar einem metastabilen Sturm
im Innern eines Gasriesen. Manchen Zivilisationen ging er aus dem
Weg, andere vernichtete er oder begegnete ihnen mit Toleranz und
Nachsicht. Als die Pläne der Transformer scheiterten, sorgte er
dafür, dass Neumes Atmosphäre atembar blieb. Dieser Akt der
Freundlichkeit bereitete ihm keine große Mühe. Als Valmik noch ein
Mensch war, hätte es größere Anstrengungen von ihm erfordert, einer
Ameise auszuweichen.
Soweit die
verschiedenen Theorien. Ich wusste wirklich nicht, was davon ich
glauben sollte und was nicht, doch in den Grundzügen erschienen sie
mir durchaus plausibel. Wenn der Geist nicht ursprünglich eine
Maschine gewesen war – und es galt als unumstößliches Axiom, dass
es vor dem Maschinenvolk keine Maschinenintelligenz gegeben hatte
-, musste er als Mensch oder als eine Gruppe von Menschen begonnen
haben. Abigail Gentian hatte sich selbst einer gewagten, kühnen
Transformation unterzogen – und das galt auch für die übrigen
Familiengründer. Schon damals hatte es Kritiker gegeben, die ihre
Pläne als monströs und entmenschlichend angesehen hatten. Doch
Abigail hörte natürlich nicht auf sie – ihr verdankte ich daher
mein Leben. Es wäre anmaßend gewesen zu glauben, dass kein anderes
Individuum über einen ebensolchen visionären Weitblick und eine
vergleichbare unerschütterliche Entschlossenheit, die Grenzen der
ortsfesten Menschheit hinter sich zu lassen, verfügt haben
soll.
Der Geist kam immer
näher, bis er die Hälfte des Himmels einnahm. Jetzt konnte ich
erkennen, dass die einzelnen Elemente unterschiedliche Formen und
Größen aufwiesen. Die meisten waren nicht größer als Insekten, doch
die größeren Einheiten ähnelten Flügelwesen wie Fledermäusen oder
Vögeln, wirkten aber eindeutig mechanisch: Die messerscharfen
Flügel waren mit komplizierten Gelenken an den abgerundeten Körpern
befestigt, die augenlosen Körper flackerten in Pastellfarben und
sandten Laserblitze aus. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass
diese Wesenheit nicht das Produkt robotischer Evolution war, kein
fremdartiger Verwandter des Maschinenvolks, sondern eine
Intelligenz, die einmal ein Mensch gewesen war und diese Ehrfurcht
gebietende, wetterartige Erscheinungsform in winzigen Schritten
über einen Zeitraum von Millionen Jahren hinweg angenommen
hatte.
Der Geist tanzte und
wogte, bildete wie ein dreidimensionales Kaleidoskop wechselnde
Formen aus. Man vernahm ein wahnsinniges, dröhnendes Summen, dessen
Frequenzspektrum von einem subsonischen Ton, den man eher spürte,
als dass man ihn hörte, bis zu einem schrillen Kreischen reichte,
das mir den Schädel zu sprengen drohte. Portula klammerte sich an
mir fest, und mir kam der Gedanke, dass ich kaum jemals so große
Angst verspürt oder mich dermaßen einer fremden Gewalt ausgeliefert
gefühlt hatte, auf die ich keinen Einfluss hatte. Plötzlich
erschien mir unser Plan, Hesperus vom Geist helfen zu lassen,
absurd und kindisch, so als hätten wir etwas sehr Wertvolles gegen
die Existenz von Feen aufgewogen. Doch nun gab es kein Zurück mehr;
um von der Plattform zu flüchten, hätten wir den Flieger gebraucht,
der jedoch erst in mehreren Stunden zurückkehren
würde.
Der Geist begann,
sich über der Plattform zu massieren, bis er nicht mehr die Hälfte
des Himmels verdeckte, sondern sich in einen über uns wogenden
Sturm verwandelt hatte, der an allen Seiten von einem klaren
Streifen Himmel umgeben war. Im brüllenden Herzen des Phänomens
machte ich nichts als Schwärze aus, einen Kern so dicht gepackter
Maschinen – die alle voneinander unabhängig waren -, dass kein
Tageslicht mehr hindurchdrang. Die Dunkelheit wurde gemildert von
den bunten Lichtblitzen, mit denen sich die zahllosen Einheiten
untereinander verständigten. Regentropfen prasselten auf meine
Haut, obwohl bis zum Eintreffen des Geistes kein Tropfen
Feuchtigkeit in der Luft gewesen war.
Dann begann er, sich
auf uns herabzusenken. Instinktiv wollte ich mich hinkauern, doch
ich wusste, das wäre sinnlos gewesen. Deshalb zwang ich mich,
stehen zu bleiben. Ich blickte zum Unterstand hinüber, und
anscheinend hatten wir beide denselben Gedanken gehabt, denn
Portula schüttelte den Kopf; wir waren hierher gekommen, um zu
demonstrieren, wie viel Hesperus uns bedeutete, nicht um uns hinter
Mauern zu verstecken, die im Notfall nur höchst dürftigen Schutz
geboten hätten.
Portula zeigte zum
Sockel. Sie übertönte das Tosen und sagte: »Lass uns dorthin gehen.
Wir wollen ihm zeigen, weshalb wir hier sind.«
Ich wusste, sie
hatte Recht. Arm in Arm schritten wir über die Plattform, bis wir
nur noch wenige Schritte von Hesperus entfernt waren. Er schien uns
zu beobachten. In seinen Augen zeigte sich kein Funken des
Wiedererkennens, doch die Lichter in seinem Kopf kreiselten einen
Moment lang schneller, dann wurden sie wieder langsamer und trüber.
So dunkel wie jetzt waren sie noch nie gewesen.
Der Geist senkte
sich weiter herab, bis seine Außenränder den Himmel in alle
Richtungen verdeckten. Es war so dunkel, als bräche die Nacht an.
Das Tosen war nahezu unerträglich, und der schwarze Kern schwebte
über uns wie ein gieriger Mund. Vom purpurfarbenen Rand der
Schwärze schraubte sich ein neugieriger Maschinenwirbel herab,
vergleichbar in einem Strudel gefangenem Treibgut. Der Wirbel
verjüngte sich zu einer umhertastenden Extremität. Die Sonde
verharrte über Hesperus, ohne ihn zu berühren, schwankte mehrmals
vor und zurück. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass
der Luftgeist ungeachtet seiner unbestrittenen Macht äußerst
vorsichtig war. Ich fragte mich, ob er im Verlauf seines langen
Lebens überhaupt schon einmal einem Wesen wie Hesperus begegnet
war. Vielleicht war dies das erste Mal, dass er ein Wesen vor sich
hatte, das ähnlich komplex war wie er, auch wenn es völlig anders
aufgebaut war und einen anderen Ursprung hatte.
Die Extremität
tastete sich näher heran, und ich gab mich schon der trügerischen
Hoffnung hin, wir stünden kurz vor dem Erfolg und unsere Opfergabe
würde nicht nur angenommen, sondern auch als das aufgefasst, was
sie war. Vielleicht war dies der Moment des Kontakts zwischen den
Maschinen und Hesperus’ goldener Haut, doch auf einmal zog der Arm
sich mit erschreckender Geschwindigkeit zurück und verschwand im
Maschinenkern, als wäre er mit offenem Feuer in Berührung gekommen
oder mit Elektrizität oder einem schmerzhaften Gift. Der Kern
pulsierte in einem noch tieferen Schwarz als zuvor, und das Tosen
wurde noch lauter. Regenschauer gingen nieder, da die
Schwarmmaschinen die Luftfeuchtigkeit kondensieren
ließen.
Das Epizentrum der
Wolke, das zuvor über dem Sockel geschwebt hatte, verlagerte sich
in unsere Richtung. Der Geist schien jedes Interesse an Hesperus
verloren zu haben.
»Das läuft aus dem
Ruder.«
»Wir können im
Moment nichts tun«, entgegnete Portula, als wollte sie mich
beruhigen.
Dann senkten sich
zahlreiche flatternde Maschinen auf uns herab und inspizierten uns.
Wenn ihre Flügel sich berührten, ertönte ein Geräusch wie von
aneinander vorbeigleitenden Scherenblättern, doch keine einzige
Maschine fiel herab oder nahm einen erkennbaren Schaden. Hin und
wieder schwebte eine unmittelbar über mir und fixierte mich mit
funkelnden Lichtern, die offenbar nicht nur der Verständigung
dienten, sondern auch als Sensoren. Gelegentlich streifte kaltes
Metall meine Haut, und obwohl ich mir alle Mühe gab, gelassen zu
erscheinen, zuckte ich doch unwillkürlich zusammen. Nach einem
dieser eiskalten Kontakte fasste ich mir an die Wange, und als ich
die Hand wieder wegnahm, waren meine Finger blutig. Dennoch
verspürte ich keinen Schmerz, und die Blutung kam auch gleich
wieder zum Stillstand. Auch Portula war geschnitten worden,
seitlich am Hals und am Handrücken, doch das schien ihr nichts
auszumachen. Ich glaube nicht, dass der Geist uns verletzen wollte;
wahrscheinlich waren die Bewegungen der einzelnen Elemente weniger
gut koordiniert als das Ganze.
Dann geschah etwas
Unerwartetes, etwas, worauf Herr Jynx uns nicht vorbereitet hatte.
Die Maschinen umschwärmten mich immer zahlreicher, bis sie Portula
mit ihrem Geflattere vollständig verdeckten. Sie hüllten mich ein,
und dann auf einmal schwebte ich in der Luft, und die Maschinen
stützten meine Gliedmaßen. Ich rief nach Portula, doch der Lärm war
zu groß, als dass sie mich hätte hören können. Die wogende
Dunkelheit vermittelte mir das Gefühl von Bewegung, doch ich konnte
nicht erkennen, ob sie real war oder eine Sinnestäuschung. Ich
kippte nach hinten, dann verlor ich auch schon jedes Gefühl für
oben und unten. Ich ruderte hilflos mit den Armen, doch die
Maschinen behinderten meine Bewegungen so stark, dass ich mir
vorkam wie ein Träumer, der nicht von der Stelle
kommt.
Unvermittelt war nur
noch silbriger Sand unter meinen Füßen. Der Geist hatte mich über
den Rand der Plattform getragen. Ich hatte in der Vergangenheit nur
selten Höhenangst verspürt, denn bei den meisten Gelegenheiten
wurde ich von Geräten beschützt, die entweder in meine Kleidung
eingebaut waren, oder von Robotern oder der Umgebung, in der ich
mich befand. Jetzt aber überwältigte mich die Angst, als wollte sie
sich für die vielen Male, da ich mich ihr entzogen hatte, schadlos
halten. Die Bummelant konnte mir jetzt
nicht helfen, und auch Portula hatte von der Silberschwingen keine Unterstützung zu erwarten.
Meine Kleidung war aus simplem Stoff gemacht und würde keine
Medikamente zur Verfügung stellen, falls ich mich verletzen
sollte.
Ein Sturz aus dieser
Höhe würde schlimmere Folgen haben als oberflächliche Verletzungen.
Das nennt man also auf der Strecke
bleiben, dachte ich. Man ging ein Risiko zu viel ein, weil
man glaubte, die vielen überstandenen Gefahren hätten einen
irgendwie immunisiert, während man in der Vergangenheit einfach nur
Glück gehabt hatte.
Das schoss mir durch
den Kopf, als die Maschinen mich fallen ließen.
Der Fall konnte
höchstens eine Sekunde gedauert haben, doch mir erschien es wie
eine Ewigkeit. Ich hatte Zeit, an viele Dinge zu denken, auch an
die unangenehmen Folgen, die mein drohendes Ableben haben würde.
Ich hatte immer geglaubt, ich würde in einem solchen Fall keinen
Körper zurücklassen, jedenfalls keinen blutüberströmten mit
gebrochenen Knochen. Bei einem Sturz aus dieser Höhe wären die
Dünen so hart wie massiver Fels. Ich fragte mich, ob Portula
ebenfalls in die Tiefe stürzte und ob wir einander vor dem Aufprall
noch sehen würden. Ich fragte mich, ob die Maschinen sie verschonen
würden, und verspürte einen Anflug von Groll bei dem Gedanken, dass
der Geist sie mir vorgezogen haben könnte.
Dann fiel ich nicht
mehr. Die Maschinen waren unter mich gehuscht und fingen mich auf.
Die dunkle Masse verdichtete sich erneut, und ich hatte das
schwindelerregende Gefühl, mit großer Geschwindigkeit in die Höhe
zu steigen – bis die Maschinen mich abermals freigaben und ich aus
mehreren Hundert Metern Höhe auf die Plattform zuzustürzen
begann.
Abermals fingen die
Maschinen mich auf.
Mir wurde bewusst,
dass man mit mir spielte, so wie eine Katze einen gefangenen Vogel
quält. Portula erging es offenbar ebenso, wenngleich ich sie nicht
zu Gesicht bekam. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich mit
meinem Schicksal abfand, doch da mein Tod erst einmal
hinausgeschoben worden war, wurde ich geringfügig ruhiger, und
meine Gedanken verlangsamten sich wieder auf das normale
Tempo.
Ich weiß nicht, wie
lange die Maschinen mit mir spielten: Vielleicht dauerte es ein
paar Sekunden, vielleicht auch mehrere Minuten. In dem schwarzen
Schmelzofen des Schwarms ließ sich die Zeit ebenso schwer schätzen
wie die Bewegung und die Position.
Irgendwann aber
hörte es auf, und ich landete unsanft auf der Plattform. Der
Aufprall verschlug mir den Atem, doch ich brach mir wenigstens
keine Knochen. Bäuchlings auf dem weißen Boden liegend, schnappte
ich nach Luft wie ein gestrandeter Fisch. Es dauerte mindestens
eine Minute, bis ich ans Aufstehen auch nur denken konnte. Als ich
mich aufrichtete, hämmerte mir das Herz, und mein Atem ging
keuchend. Es wimmelte in der Luft noch immer von Maschinen, doch
sie hielten mehrere Meter Abstand ein.
»Portula!«, rief ich
mit schwacher Stimme, dann riss ich mich zusammen und brüllte ihren
Namen.
»Campion!«,
antwortete sie. »Ich bin hier!«
Sie war nur ein paar
Schritte von mir entfernt, doch ich sah sie nur momentweise, wenn
der Vorhang der Maschinen durchsichtiger wurde. Mit schmerzendem
Knie taumelte ich auf sie zu, und sie tappte mir mit ausgestreckten
Armen entgegen wie eine Schlafwandlerin. Wir umarmten uns und
tasteten uns nach Verletzungen ab. Abgesehen von den
oberflächlichen Schnitten, die wir uns zuvor zugezogen hatten, und
den unter der Kleidung verborgenen blauen Flecken war die Tortur
spurlos an uns vorübergegangen.
»Dieses Scheißding
…«, setzte ich an.
Portula legte den
Finger an die Lippen. »Der Geist ist noch da, und er versteht mit
ziemlicher Sicherheit Trans. Du solltest ihn nicht noch weiter
reizen.«
Ich nickte demütig,
doch mein Ärger hatte sich noch immer nicht gelegt. Ich hatte nicht
das Gefühl, etwas Bösem gegenüberzustehen, doch ich sah eine
boshafte Intelligenz am Werk, vergleichbar einem ins Riesenhafte
aufgeblasenen mutwilligen Kind.
»Ich dachte, ich
würde sterben«, sagte ich.
»Ich auch. Aber
wundern sollte uns das eigentlich nicht – schließlich hat man uns
vorgewarnt, dass der Geist verspielt ist. Jetzt weiß ich, weshalb
Herr Jynx es so eilig hatte.«
»Wenn das verspielt
war, dann möchte ich ihn nicht aggressiv erleben.«
»Dann lägen wir
jetzt zerfetzt in den Dünen. Aber irgendetwas geht da vor.« Sie
spähte über meine Schulter. Ich drehte mich vorsichtig um. Die
Maschinenwolke hatte sich so weit zurückgezogen, dass wir wieder
freie Sicht auf den Sockel hatten. »Der Geist nimmt ihn mit«, sagte
Portula in ehrfürchtigem Flüsterton.
Trotz seines
anfänglichen Zögerns hatte der Luftgeist inzwischen Kontakt zu
Hesperus hergestellt. Er untersuchte ihn nicht bloß, wenngleich die
Maschinen seinen Körper nahezu vollständig bedeckten, sondern nahm
ihn auseinander, verleibte ihn sich ein mittels einer Welle, die am
Außenrand des Sockels einsetzte, wo sich die geschmolzene Masse
befand, und dann zu Hesperus’ humanoidem Teil weiterwanderte, der
zuvor den Anschein erweckt hatte, er nähme unsere Anwesenheit wahr.
Dort, wo die Welle vorbeiwanderte, blieb nichts von ihm übrig.
Staubteilchen und goldene Splitter funkelten aus dem rotierenden
schwarzen Trichter hervor, der ihn in den Himmel
emporsog.
»Ich hoffe, wir
haben das Richtige getan«, sagte ich, das Schauspiel mit einer
Mischung aus Entsetzen und Erhebung beobachtend.
»Bringt er ihn um,
oder will er ihn heilen?«
»Vielleicht verleibt
er ihn sich ein oder verdaut seine Erinnerungen und seine
Persönlichkeit.« Sie fasste meine Hand. »Wir konnten sonst nichts
für ihn tun, Campion. Er war bereits tot. Das war seine beste und
letzte Chance.«
Anschließend gab es
nichts mehr zu sagen. Wir beobachteten, wie der Schwarm den Sockel
leerfraß, bis der letzte goldene Tupfen in dem saugenden Wirbel
verschwunden war und der Trichter sich in das tosende schwarze Auge
zurückgezogen hatte. Der Geist verharrte noch eine Weile über uns
in der Schwebe, während es in seinem Innern heftiger leuchtete als
zuvor, so als hätte er jetzt, da er Hesperus in sich aufgenommen
hatte, Stoff zum Nachdenken. Dann legten sich unvermittelt der
Lärm, der Wind und der peitschende Regen, und der Geist vergrößerte
den Abstand zwischen seinen Elementen, bis auf einmal die
eindunkelnde Indigofarbe des Himmels durch einzelne Lücken
hindurchschien. Dann sammelte sich der Geist, wogte und tanzte noch
eine Weile umher und schoss schließlich der untergehenden Sonne
entgegen.
Wir warteten, bis
nur noch ein wogender Schemen in der Ferne zu sehen war. Dann
gingen wir in den Unterstand und warteten auf den nächsten
Morgen.